Neuntes Kapitel

Stammesgeschichte der Seele

[155] Monistische Studien über phylogenetische Psychologie.

Entwicklung des Seelenlebens in der tierischen Ahnenreihe des Menschen.


Die Deszendenztheorie in Verbindung mit der Anthropologie hat uns überzeugt, daß unser menschlicher Organismus aus einer langen Reihe tierischer Vorfahren durch allmähliche Umbildung im Laufe vieler Jahrmillionen langsam und stufenweise sich entwickelt hat. Da wir nun das Seelenleben des Menschen von seinen übrigen Lebenstätigkeiten nicht trennen können, vielmehr zu der Überzeugung von der einheitlichen Entwicklung unseres ganzen Körpers und Geistes gelangt sind, so ergibt sich auch für die moderne monistische Psychologie die Aufgabe, die historische Entwicklung der Menschenseele aus der Tierseele stufenweise zu verfolgen. Die Lösung dieser Aufgabe versucht unsere »Stammesgeschichte der Seele« oder die Phylogenie der Psyche; man kann sie auch, als Zweig der allgemeinen Seelenkunde, mit dem Namen der phylogenetischen Psychologie oder – im Gegensatze zur biontischen (individuellen) – als phyletische Psychogenie bezeichnen. Obgleich diese neue Wissenschaft noch kaum ernstlich in Angriff genommen ist, obgleich selbst ihre Existenzberechtigung von den meisten Fachpsychologen bestritten wird, müssen wir für sie dennoch die allerhöchste Wichtigkeit und das größte Interesse in Anspruch nehmen. Denn nach unserer festen Überzeugung ist sie vor allem berufen, uns[155] das große »Welträtsel« vom Wesen und der Entstehung unserer Seele zu lösen.

Die Mittel und Wege, welche zu dem weit entfernten, im Nebel der Zukunft für Viele noch kaum erkennbaren Ziele der phylogenetischen Psychologie hinführen sollen, sind von denjenigen anderer stammesgeschichtlicher Forschungen nicht verschieden. Vor allem ist auch hier die vergleichende Anatomie, Physiologie und Ontogenie von höchstem Werte. Aber auch die Paläontologie liefert uns eine Anzahl von sicheren Stützpunkten; denn die Reihenfolge, in welcher die versteinerten Überreste der Vertebratenklassen nacheinander in den Perioden der organischen Erdgeschichte auftreten, offenbart uns teilweise, zugleich mit deren phyletischen Zusammenhang, auch die stufenweise Ausbildung ihrer Seelentätigkeit. Freilich sind wir hier, wie überall bei phylogenetischen Untersuchungen, zur Bildung zahlreicher Hypothesen gezwungen, welche die empfindlichen Lücken der empirischen Stammesurkunden ausfüllen; aber dennoch werfen die letzteren ein so helles und bedeutungsvolles Licht auf die wichtigsten Abstufungen der geschichtlichen Entwicklung, daß wir eine befriedigende Einsicht in deren allgemeinen Verlauf gewinnen können.

Die vergleichende Psychologie des Menschen und der höheren Tiere läßt uns zunächst in den höchsten Gruppen der plazentalen Säugetiere, bei den Herrentieren (Primates), die wichtigen Fortschritte erkennen, durch welche die Menschenseele aus der Psyche der Menschenaffen (Anthropomorpha) hervorgegangen ist. Die Phylogenie der Säugetiere und weiterhin der niederen Wirbeltiere zeigt uns die lange Reihe der älteren Vorfahren der Primaten, welche innerhalb dieses Stammes seit der Silurzeit sich entwickelt haben. Alle diese Vertebraten stimmen überein in der Struktur und Entwicklung ihres charakteristischen Seelenorgans, des Markrohrs. Daß dieses »Medullarrohr« sich aus einem dorsalen Akroganglion oder Scheitelhirn wirbelloser Vorfahren hervorgebildet[156] hat, lehrt uns die vergleichende Anatomie der Wurmtiere oder Vermalien. Weiter zurückgehend erfahren wir durch die vergleichende Ontogenie, daß dieses einfache Seelenorgan aus der Zellenschicht des äußeren Keimblattes, aus dem Ektoderm von Platodarien entstanden ist; bei diesen ältesten Plattentieren, die noch kein gesondertes Nervensystem besaßen, wirkt die äußere Hautdecke als universales Sinnes- und Seelenorgan. Durch die vergleichende Keimesgeschichte überzeugen wir uns endlich, daß diese einfachsten Metazoen durch Gastrulation aus Blastäaden entstanden sind, aus Hohlkugeln, deren Wand eine einfache Zellenschicht bildete, das Blastoderm. Zugleich lernen wir durch dieselbe mit Hilfe des biogenetischen Grundgesetzes verstehen, wie diese Protozoenzönobien ursprünglich aus einfachsten einzelligen Urtieren hervorgegangen sind.

Durch die kritische Deutung dieser verschiedenen Keimbildungen, deren Entstehung auseinander wir unmittelbar durch mikroskopische Beobachtung verfolgen können, erhalten wir mittelst unseres biogenetischen Grundgesetzes die wichtigsten Aufschlüsse über die Hauptstufen in der Stammesgeschichte unseres Seelenlebens; wir können deren zunächst acht unterscheiden: 1. Einzellige Protozoen mit einfacher Zellseele: Infusorien; 2. vielzellige Protozoen mit Zönobialseele: Katallakten; 3. älteste Metazoen mit Epithelialseele: Platodarien; 4. wirbellose Ahnen mit einfachem Scheitelhirn: Vermalien; 5. schädellose Wirbeltiere mit einfachem Markrohr, ohne Gehirn: Akranier; 6. Schädeltiere mit Gehirn (aus fünf Hirnblasen bestehend): Kranioten; 7. Säugetiere mit überwiegend entwickelter Großhirnrinde: Plazentalien; 8. höhere Menschenaffen und Menschen, mit Denkorganen (im Prinzipalhirn): Anthropomorphen. Unter diesen acht Hauptstufen in der Stammesgeschichte der menschlichen Psyche lassen sich weiterhin noch eine Anzahl von untergeordneten Entwicklungsstufen mit mehr oder weniger Klarheit unterscheiden.[157] Selbstverständlich sind wir aber bei deren Rekonstruktion auf diejenigen lückenhaften Zeugnisse der empirischen Psychologie angewiesen, welche uns die vergleichende Anatomie und Physiologie der gegenwärtigen Fauna an die Hand gibt. Da die Schädeltiere der sechsten Stufe, und zwar echte Fische, sich schon im silurischen System versteinert finden, sind wir zu der Annahme gezwungen, daß die fünf vorhergehenden (der Versteinerung nicht fähigen!) Ahnenstufen sich schon in früherer Zeit, vor der Silurperiode, entwickelt haben.

1. Die Zellseele (Zytopsyche): erste Hauptstufe der phyletischen Psychogenesis. Die ältesten Vorfahren des Menschen, wie aller übrigen Tiere, waren einzellige Urtiere (Protozoa). Diese Fundamental-Hypothese der rationellen Phylogenie ergibt sich nach dem biogenetischen Grundgesetze aus der bekannten embryologischen Tatsache, daß jeder Mensch, wie jedes andere Metazoon (jedes vielzellige »Gewebetier«), im Beginne seiner individuellen Existenz eine einfache Zelle ist, die »Stammzelle« (Cytula) oder die »befruchtete Eizelle« (vergl. S. 70). Wie diese letztere schon von Anfang an »beseelt« war, so auch jene entsprechende einzellige Stammform, welche in der ältesten Ahnenreihe des Menschen durch eine Kette von verschiedenen Protozoen vertreten war.

Über die Seelentätigkeit dieser einzelligen Organismen unterrichtet uns die vergleichende Physiologie der heute noch lebenden Protisten; sowohl genaue Beobachtung als sinnreiches Experiment haben uns hier in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein neues Gebiet voll höchst interessanter Erscheinungen eröffnet. Die beste Darstellung derselben hat 1889 Max Verworn gegeben, in seinen gedankenreichen, auf eigene originelle Versuche gestützten. »Psychophysiologischen Protistenstudien«. Auch die wenigen älteren Beobachtungen über »das Seelenleben der Protisten« sind darin zusammengestellt. Verworn gelangte zu der festen Überzeugung, daß bei allen Protisten die psychischen Vorgänge[158] noch unbewußt sind, daß die Vorgänge der Empfindung und Bewegung hier noch mit den molekularen Lebensprozessen im Plasma selbst zusammenfallen, und daß ihre letzten Ursachen in den Eigenschaften der Plasmamoleküle (der Plastidule) zu suchen sind »Die psychischen Vorgänge im Protistenreich sind daher die Brücke, welche die chemischen Prozesse in der unorganischen Natur mit dem Seelenleben der höchsten Tiere verbindet; sie repräsentieren den Keim der höchsten psychischen Erscheinungen bei den Metazoen und dem Menschen.«

Die sorgfältigen Beobachtungen und zahlreichen Experiments von Verworn, im Verein mit denjenigen von Wilhelm Engelmann, Wilhelm Preyer, Richard Hertwig und anderen neueren Protistenforschern, liefern die bündigen Beweise für meine monistische »Theorie der Zellseele« (1866). Gestützt auf eigene langjährige Untersuchungen von verschiedenen Protisten, besonders von Rhizopoden, Radiolarien und Infusorien, hatte ich damals den Satz aufgestellt, daß Jede lebendige Zelle psychische Eigenschaften besitzt, und daß also auch das Seelenleben der vielzelligen Tiere und Pflanzen nichts anderes ist als das Resultat der psychischen Funktionen der ihren Leib zusammensetzenden Zellen. Bei den niederen Gruppen (z.B. Algen und Spongien) sind alle Zellen des Körpers gleichmäßig (oder mit geringen Unterschieden) daran beteiligt; in den höheren Gruppen dagegen, entsprechend den Gesetzen der Arbeitsteilung, nur ein auserlesener Teil derselben, die »Seelenzellen«. Die bedeutungsvollen Konsequenzen dieser »Zellularpsychologie« hatte ich teils 1875 in meiner Schrift über die »Perigenesis der Plastidule« erörtert, teils 1877 in meiner Münchener Rede »über die heutige Entwicklungslehre im Verhältnis zur Gesamtwissenschaft«. Eine mehr populäre Darstellung derselben enthalten meine beiden Wiener Vorträge (1878) »über Ursprung und Entwicklung der Sinneswerkzeuge« und »über Zellseelen und Seelenzellen«. (Gesammelte Vorträge, Bonn, 1902.)[159]

Die einfache Zellseele zeigt übrigens schon innerhalb des Protistenreiches eine lange Reihe von Entwicklungsstufen, von ganz einfachen, primitiven bis zu sehr vollkommenen und hohen Seelenzuständen. Bei den ältesten und einfachsten Protisten ist das Vermögen der Empfindung und Bewegung gleichmäßig auf das ganze Plasma des homogenen Körperchens verteilt; bei den höheren Formen dagegen sondern sich als physiologische Organe derselben besondere »Zellwerkzeuge« oder Organelle. Derartige motorische Zellteile sind die Pseudopodien der Rhizopoden, die Flimmerhaare, Geißeln und Wimpern der Infusorien. Als ein inneres Zentralorgan des Zellenlebens wird der Zellkern betrachtet, welcher den ältesten und niedersten Protisten noch fehlt. In physiologisch-chemischer Beziehung ist besonders hervorzuheben, daß die ursprünglichsten und ältesten Protisten Plasmodomen waren, mit pflanzlichem Stoffwechsel, also Protophyten oder »Urpflanzen«; aus ihnen entstanden erst sekundär, durch Metasitismus, die ersten Plasmophagen, mit tierischem Stoffwechsel, also Protozoen oder »Urtiere«. Dieser Metasitismus, die »Umkehrung des Stoffwechsels«, bedeutet einen wichtigen psychologischen Fortschritt; denn damit begann die Entwicklung jener charakteristischen Vorzüge der Tierseele, welche der Pflanzenseele noch fehlen.

Die höchste Ausbildung der tierischen Zellseele treffen wir in der Klasse der Ziliaten oder Wimperinfusorien. Wenn wir dieselbe mit den entsprechenden Seelentätigkeiten höherer, vielzelliger Tiere vergleichen, so scheint kaum ein psychologischer Unterschied zu bestehen; die sensiblen und motorischen Organelle jener Protozoen scheinen dasselbe zu leisten wie die Sinnesorgane, Nerven und Muskeln dieser Metazoen. Man hat sogar in dem großen Zellkern (Meganucleus) der Infusorien ein Zentralorgan der Seelentätigkeit erblickt, welches in ihrem einzelligen Organismus eine ähnliche Rolle spiele wie das Gehirn im Seelenleben höherer Tiere. Indessen[160] ist sehr schwer zu entscheiden, wie weit diese Vergleiche berechtigt sind; auch gehen darüber die Ansichten der speziellen Infusorienkenner weit auseinander. Die einen fassen alle spontanen Körperbewegungen derselben als automatische oder impulsive, alle Reizbewegungen als Reflexe auf; die anderen erblicken darin teilweise willkürliche und absichtliche Bewegungen. Während die letzteren den Infusorien bereits ein gewisses Bewußtsein, eine einheitliche Ich-Vorstellung zuschreiben, wird diese von den ersteren geleugnet. Gleichviel, wie man diese höchst schwierige Frage entscheiden will, so steht doch soviel fest, daß uns die einzelligen Protozoen eine hochentwickelte Zellseele zeigen, welche für die richtige Beurteilung der Psyche unserer ältesten einzelligen Vorfahren von höchstem Interesse sein muß.

II. Zellvereinseele oder Zönobialpsyche (Coenopsyche): zweite Hauptstufe der phyletischen Psychogenesis. Die individuelle Entwicklung beginnt beim Menschen wie bei allen anderen vielzelligen Tieren mit der wiederholten Teilung einer einfachen Zelle. Die Stammzelle (Cytula) oder die »befruchtete Eizelle« zerfällt durch den Vorgang der gewöhnlichen indirekten Zellteilung zunächst in zwei Tochterzellen; indem dieser Vorgang sich wiederholt, entstehen (bei der »äqualen Eifurchung«) nacheinander 4, 8, 16, 32, 64 gleiche Furchungszellen oder Blastomeren. Gewöhnlich (d.h. bei der Mehrzahl der Tiere) tritt an die Stelle dieser ursprünglichen, gleichmäßigen Zellteilung früher oder später eine ungleichmäßige Vermehrung Das Ergebnis ist aber in allen Fällen dasselbe: die Bildung eines (meist kugelförmigen) Haufens oder Ballens von indifferenten (ursprünglich gleichartigen) Zellen. Wir nennen diesen Zustand den Maulbeerkeim (Morula). Gewöhnlich sammelt sich dann im Innern dieses maulbeerförmigen Zellenaggregates Flüssigkeit an; es verwandelt sich infolgedessen in ein kugeliges Bläschen; alle Zellen treten an dessen Oberfläche und ordnen sich in eine einfache Zellenschicht, die Keimhaut (Blastoderma).[161] Die so entstandene Hohlkugel ist der bedeutungsvolle Zustand der Keimblase (Blastula).

Die psychologischen Tatsachen, welche wir unmittelbar bei der Bildung der Blastula beobachten können, sind teils Bewegungen, teils Empfindungen dieses Zellvereins. Die Bewegungen zerfallen in zwei Gruppen: 1. die inneren Bewegungen, welche überall in wesentlich gleicher Weise beim Vorgange der gewöhnlichen (indirekten) Zellteilung sich wiederholen (Bildung der Kernspindel, Mitose, Karyokinese usw.); 2. die äußeren Bewegungen, welche in der gesetzmäßigen Lageveränderung der geselligen Zellen und ihrer Gruppierung bei Bildung des Blastoderms zutage treten. Wir fassen diese Bewegungen besonders als heredive und unbewußte auf, weil sie überall in gleicher Weise durch Vererbung von den älteren Ahnenreihen der Protisten bedingt sind. Die Empfindungen können ebenfalls in zwei Gruppen unterschieden werden: 1. die Empfindungen der einzelnen Zellen, welche sich in der Behauptung ihrer individuellen Selbständigkeit und ihrem Verhalten gegen die Nachbarzellen äußern (mit denen sie in Kontakt und teilweise durch Plasmabrücken in direkter Verbindung stehen); 2. die einheitliche Empfindung des ganzen Zellvereins oder Zönobiums, welche in der individuellen Gestaltung der Blastula als Hohlkugel zutage tritt.

Das kausale Verständnis der Blastulabildung liefert uns das biogenetische Grundgesetz, indem es die unmittelbar zu beobachtenden Erscheinungen derselben durch die Vererbung erklärt; es führt sie auf entsprechende historische Vorgänge zurück, welche sich ursprünglich bei der Entstehung der ältesten Protistenzönobien, der Blastäaden, allmählich vollzogen haben. Die wahre physiologische und psychologische Einsicht in diese wichtigen Prozesse der ältesten Zellenassozion gewinnen wir durch Beobachtung und Experiment an den heute noch lebenden Zönobien. Solche beständige Zellvereine oder Zellhorden (auch als Zellkolonien, Zellgemeinden oder[162] Zellstöckchen bezeichnet) sind noch heute sehr verbreitet, sowohl unter den plasmodomen Urpflanzen (z.B. Paulotomeen, Diatomeen, Volvozineen) als unter den plasmophagen Urtieren (Infusorien und Rhizopoden). In allen diesen Zönobien können wir bereits nebeneinander zwei verschiedene Stufen der psychischen Tätigkeit unterscheiden: I. die Zellseele der einzelnen Zellindividuen (als »Elementarorganismen«) und II. die Zönobialseele des ganzen Zellvereins.

III. Gewebeseele (Histopsyche): dritte Hauptstufe der phyletischen Psychogenesis. Bei allen vielzelligen und gewebebildenden Pflanzen (den Metaphyten oder Gewebepflanzen) und ebenso auch bei den niedersten und nervenlosen Klassen der Gewebetiere (Metazoen) haben wir zunächst zwei verschiedene Formen der Seelentätigkeit zu unterscheiden, nämlich A. die Psyche der einzelnen Zellen, welche die Gewebe zusammensetzen, und B. die Psyche der Gewebe selbst oder des »Zellenstaates«, welcher von diesen gebildet wird. Diese Gewebeseele ist überall die höhere psychologische Funktion, welche den zusammengesetzten vielzelligen Organismus als einheitliches Bion oder »physiologisches Individuum«, als wirklichen »Zellenstaat« erscheinen läßt. Sie beherrscht all die einzelnen »Zellseelen« der sozialen Zellen, welche als abhängige »Staatsbürger« den einheitlichen Zellenstaat konstituieren. Diese fundamentale Duplizität der Psyche bei den Metaphyten und bei den niederen nervenlosen Metazoen ist sehr wichtig; sie wird durch unbefangene Beobachtung und passenden Versuch unmittelbar bewiesen: erstens besitzt jede einzelne Zelle ihre eigene Empfindung und Bewegung, und zweitens zeigt jedes Gewebe und jedes Organ, das aus einer Zahl gleichartiger Zellen sich zusammensetzt, seine besondere Reizbarkeit und psychische Einheit (z.B. Pollen und Staubgefäße).

III. A. Die Pflanzenseele (Phytopsyche) ist für uns der Inbegriff der gesamten psychischen Tätigkeit der gewebebildenden, vielzelligen Pflanzen (Metaphyten),[163] nach Ausschluß der einzelligen Protophyten; sie ist Gegenstand der verschiedensten Beurteilung bis auf den heutigen Tag geblieben. Früher fand man gewöhnlich einen Hauptunterschied zwischen Pflanzen und Tieren darin, daß man den letzteren allgemein eine »Seele« zuschrieb, den ersteren dagegen nicht. Indessen führte unbefangene Vergleichung der Reizbarkeit und der Bewegungen bei verschiedenen höheren. Pflanzen und niederen Tieren schon im Anlange des neunzehnten Jahrhunderts einzelne Forscher zu der Überzeugung, daß beide gleichmäßig beseelt sein müßten. Später traten namentlich Fechner, Leitgeb u.a. lebhaft für die Annahme einer »Pflanzenseele« ein, in neuester Zeit besonders R. H. Francé (München 1904). Tieferes Verständnis derselben wurde erst erworben, nachdem die Zellentheorie (1838) die gleiche Elementarstruktur in Pflanzen und Tieren nachgewiesen, und besonders seitdem durch die Plasmatheorie von Max Schnitze (1859) das gleiche Verhalten des aktiven, lebendigen Protoplasma in beiden Reichen anerkannt worden war. Die neuere vergleichende Physiologie zeigte sodann, daß das physiologische Verhalten gegen verschiedene Reize (Licht, Elektrizität, Wärme, Schwere, Reibung, chemische Einflüsse usw.) in den »empfindlichen« Körperteilen vieler Pflanzen und Tiere ganz ähnlich ist, und daß auch die Reflexbewegungen, die jene Reize hervorrufen, ganz ähnlichen Verlauf haben. Wenn man daher diese Tätigkeiten bei niederen, nervenlosen Metazoen (Schwämmen, Polypen) einer besonderen »Seele« zuschrieb, so war man berechtigt, dieselbe auch bei vielen (oder eigentlich allen) Metaphyten anzunehmen, mindestens bei den sehr »empfindlichen« Sinnpflanzen (Mimosa), den Fliegenfallen (Dionaea, Drosera) und den zahlreichen rankenden Kletter- und Schlingpflanzen.

Allerdings hat nun die neuere Pflanzenphysiologie viele dieser »Reizbewegungen« oder Tropismen rein physikalisch erklärt, durch besondere Verhältnisse des Wachstums, durch Turgorschwankungen usw.[164] Allein diese mechanischen Ursachen sind nicht mehr und nicht minder psychophysisch, als die ähnlichen »Reflexbewegungen« bei Spongien, Polypen und anderen nervenlosen Metazoen, selbst wenn der Mechanismus derselben hier wesentlich verschieden ist. Der Charakter der Histopsyche oder Gewebeseele, zeigt sich in beiden Fällen gleichmäßig darin, daß die Zellen des Gewebes (des gesetzmäßig geordneter Zellverbandes) die von einem Teile empfangenen Reize fortleiten und dadurch Bewegungen anderer Teile oder des ganzen Organs hervorrufen. Diese Reizleitung kann hier ebenso als »Seelentätigkeit« bezeichnet werden wie die vollkommenere Form derselben bei Nerventieren; sie erklärt sich anatomisch dadurch, daß die sozialen Zellen des Gewebes oder Zellverbandes nicht (wie man früher glaubte) getrennt aneinander liegen, sondern überall durch feine Plasmafäden oder Brücken zusammenhängen. Wenn die empfindlichen Sinnpflanzen (Mimosen) bei der Berührung oder Erschütterung ihre ausgebreiteten Fiederblättchen schließen und die Blattstiele herabsenken, wenn die reizbare Fliegenfalle (Dionaea) bei der Berührung ihrer Blätter diese rasch zusammenklappt und die Fliege fängt, so erscheint die Empfindung lebhafter, die Reizleitung schneller und die Bewegung energischer als die Reflexreaktion des gereizten Badeschwammes und vieler anderer Spongien.

III. B. Die Seele nervenloser Metazoen. Von ganz besonderem Interesse für die vergleichende Psychologie im allgemeinen und für die Phylogenie der Tierseele im besonderen ist die Seelentätigkeit jener niederen Metazoen, welche zwar Gewebe und oft bereits differenzierte Organe besitzen, aber weder Nerven noch spezifische Sinnesorgane. Dahin gehören vier verschiedene Gruppen von ältesten Zölenterien oder Niedertieren, nämlich: 1. die Gasträaden, 2. die Platodarien, 3. die Spongien und 4. die Hydropolypen, die niedersten Formen der Nesseltiere.

Die Gasträaden oder Urdarmtiere bilden jene kleine Gruppe von niedersten Zölenterien, welche als die[165] gemeinsame Stammgruppe aller Metazoen von höchster Wichtigkeit ist. Der Körper dieser kleinen, schwimmenden Tierchen erscheint als ein rundes (meist eiförmiges) Bläschen, welches eine einfache Höhle mit einer Öffnung enthält (Urdarm und Urmund). Die Wand der verdauenden Höhle wird aus zwei einfachen Zellenschichten oder Epithelien gebildet, von denen die innere (Darmblatt) die vegetalen Tätigkeiten der Ernährung und die äußere (Hautblatt) die animalen Funktionen der Bewegung und Empfindung vermittelt. Die gleichartigen sensiblen Zellen dieses Hautblattes tragen zarte Geißeln, lange Flimmerhaare, deren Schwingungen die willkürliche Schwimmbewegung bewirken. Die wenigen noch lebenden Formen der Gasträaden (Pemmatodiscus, die Gastremarien und Cyemarien, Orthonectiden), sind deshalb so interessant, weil sie zeitlebens auf derselben Bildungsstufe stehen bleiben, welche die Keime aller übrigen Metazoen (von den Spongien bis zum Menschen hinauf) im Beginne ihrer Keimesentwicklung durchlaufen. Wie ich in meiner Gasträatheorie (1872) gezeigt habe, entsteht bei sämtlichen Gewebetieren zunächst aus der vorher betrachteten Blastula eine höchst charakteristische Keimform, die Gastrula. Die Keimhaut (Blastoderma), welche die Wand der Hohlkugel darstellt, bildet an einer Seite eine grubenförmige Vertiefung, und diese wird bald zu einer so tiefen Einstülpung, daß der innere Hohlraum der Keimblase verschwindet. Die eingestülpte (innere) Hälfte der Keim haut legt sich an die äußere (nicht eingestülpte) Hälfte innen an; letztere bildet das Hautblatt oder äußere Keimblatt (Ektoderm, Epiblast), erstere dagegen das Darmblatt oder innere Keimblatt (Entoderm, Hypoblast). Der neu entstandene Hohlraum des becherförmigen Körpers ist die verdauende Magenhöhle, der Urdarm (Progaster), seine Öffnung der Urmund (Prostoma). Das Hautblatt oder Ektoderm ist bei allen Metazoen das ursprüngliche »Seelenorgan«; denn aus ihm entwickeln sich bei sämtlichen Nerventieren nicht nur die äußere[166] Hautdecke und die Sinnesorgane, sondern auch das Nervensystem. Bei den Gasträaden, welche letzteres noch nicht besitzen, sind alle Zellen, welche die einfache Epithelschicht des Ektoderm zusammensetzen, gleichmäßig Organe der Empfindung und Bewegung; die Gewebeseele zeigt sich hier in einfachster Form.

Dieselbe primitive Bildung scheinen auch die Platodarien zu besitzen, die ältesten und einfachsten Formen der Plattentiere (Platodes). Einige von diesen Kryptozölen (Convoluta usw.) haben noch kein besonderes Nervensystem, während dasselbe bei ihren nächstverwandten Epigonen, (den einfachsten Formen der Strudelwürmer, Turbellaria), bereits von der Hautdecke sich abgesondert und ein einfaches Scheitelhirn nebst einem Paar Seitennerven entwickelt hat.

Die Spongien oder Schwammtiere stellen einen selbständigen Stamm des Tierreichs dar, der sich von allen anderen Metazoen durch seine eigentümliche Organisation unterscheidet; die sehr zahlreichen Arten desselben sitzen meistens auf dem Meeresboden angewachsen. Die einfachste Form der Schwämme, Olynthus, ist eigentlich nichts weiter als eine Gastraea, deren Körperwand siebförmig von feinen Poren durchbrochen ist, zum Eintritt des ernährenden Wasserstromes. Bei den meisten Spongien (auch beim bekanntesten, dem Badeschwamm) bildet der knollenförmige Körper einen Stock oder Kormus, welcher aus Tausenden solcher Gasträaden (»Geißelkammern«) zusammengesetzt und von einem ernährenden Kanalsystem durchzogen ist. Empfindung und Bewegung sind bei den Schwammtieren nur in äußerst geringem Grade entwickelt; Nerven, Sinnesorgane und Muskeln fehlen. Es war daher sehr natürlich, daß man diese festsitzenden, unförmigen und unempfindlichen Tiere früher allgemein als »Gewächse« betrachtete. Ihr Seelenleben (für welches keine besonderen Organe differenziert sind) steht tief unter demjenigen der Mimosen und anderer empfindlicher Pflanzen.

Die Seele der Nesseltiere (Cnidaria) ist für die vergleichende[167] und phylogenetische Psychologie von ganz hervorragender Bedeutung. Denn in diesem formenreichen Stamm der Zölenterien vollzieht sich vor unseren Augen die historische Entstehung der Nervenseele aus der Gewebeseele. Es gehören zu diesem Stamme die vielgestaltigen Klassen der festsitzenden Polypen und Korallen, der schwimmenden Medusen und Siphonophoren. Als gemeinsame hypothetische Stammform aller Nesseltiere läßt sich mit voller Sicherheit ein einfachster Polyp erkennen, welcher dem gemeinen, heute noch lebenden Süßwasserpolypen (Hydra.) im wesentlichen gleich gebaut war. Nun besitzen Hydra und die festsitzenden, nahe verwandten Hydropolypen kein zentralisiertes Nervensystem und keine höheren Sinnesorgane, obgleich sie sehr empfindlich sind. Dagegen die frei schwimmenden Medusen, welche sich aus letzteren entwickeln (und noch heute mit ihnen durch Generationswechsel verknüpft sind), besitzen bereits ein selbständiges Nervensystem und gesonderte Sinnesorgane. Wir können also hier den historischen Ursprung der Nervenseele (Neuropsyche) aus der Gewebeseele (Histopsyche) unmittelbar ontogenetisch beobachten und phylogenetisch verstehen lernen. Diese Erkenntnis ist um so interessanter, als jene bedeutungsvollen Vorgänge polyphyletisch sind, d.h. sich mehrmals (mindestens zweimal) unabhängig voneinander vollzogen haben. Wie ich nachgewiesen habe, sind die Hydromedusen (oder Kraspedoten) auf andere Weise aus den Hydropolypen entstanden als die Skyphomedusen (oder Akraspeden) aus den Skyphopolypen; der Knospungsvor gang ist bei den letzteren terminal, bei den ersteren lateral. Auch zeigen beide Gruppen charakteristische erbliche Unterschiede im feineren Bau ihrer Seelenorgane. Sehr interessant ist für die Psychologie auch die Klasse der Staatsquallen (Siphonophorae). An diesen prächtigen, freischwimmenden Tierstöcken, welche von Hydromedusen abstammen, können wir eine Doppelseele beobachten: die Einzelseele (Personalseele) der zahlreichen Personen, die den Stock zusammensetzen,[168] und die gemeinsame, einheitlich tätige Psyche des ganzen Stockes (Kormalseele).

IV. Die Nervenseele (Neuropsyche); vierte Hauptstufe der phyletischen Psychogenesis. Das Seelenleben aller höheren Tiere wird, ebenso wie beim Menschen, durch einen mehr oder minder komplizierten »Seelenapparat« vermittelt, und dieser besteht immer aus drei Hauptbestandteilen: die Sinnesorgane bewirken die verschiedenen Empfindungen, die Muskeln dagegen die Bewegungen; die Nerven stellen die Verbindung zwischen ersteren und letzteren durch ein besonderes Zentralorgan her: Gehirn oder Ganglion (Nervenknoten). Die Einrichtung und Tätigkeit dieses Seelenapparates pflegt man mit einem elektrischen Telegraphensystem zu vergleichen; die Nerven sind die Leitungsdrähte, das Gehirn die Zentralstation, die Muskeln und Sensillen die untergeordneten Lokalstationen. Die motorischen Nervenfasern leiten die Wil lensbefehle oder Impulse zentrifugal von diesem Nervenzentrum zu den Muskeln und bewirken durch deren Kontraktion Bewegungen; die sensiblen Nervenfasern dagegen leiten die verschiedenen Empfindungen zentripetal von den peripheren Sinnesorganen zum Gehirn und statten Bericht ab von den empfangenen Eindrücken der Außenwelt. Die Ganglienzellen oder Neuronen (»Seelenzellen«), welche das nervöse Zentralorgan zusammensetzen, sind die vollkommensten von allen organischen Elementarteilen; sie vermitteln nicht nur den Verkehr zwischen den Muskeln und Sinnesorganen, sondern auch die höchsten von allen Leistungen der Tierseele, die Bildung von Vorstellungen und Gedanken, an der Spitze von allem das Bewußtsein.

Die großen Fortschritte der Anatomie und Physiologie, der Histologie und Ontogenie haben in der Neuzeit unsere tiefere Kenntnis des Seelenapparates mit einer Fülle der interessantesten Entdeckungen bereichert. Wenn die spekulative Philosophie auch nur die wichtigsten von diesen bedeutungsvollen Erwerbungen der empirischen Biologie in sich aufgenommen[169] hätte, müßte sie heute schon eine ganz andere Physiognomie zeigen, als es leider der Fall ist. Da eine eingehende Besprechung derselben uns hier zu weit führen würde, beschränke ich mich darauf, nur das Wichtigste hervorzuheben.

Jeder der höheren Tierstämme besitzt sein eigentümliches Seelenorgan; in jedem ist das Zentralnervensystem durch eine besondere Gestalt, Lage und Zusammensetzung ausgezeichnet. Unter den strahlig gebauten Nesseltieren (Cnidaria) zeigen die Medusen einen Nervenring am Schirmrande, meistens mit vier oder acht Ganglien ausgestattet. Bei den fünfstrahligen Sterntieren (Echinoderma) ist der Mund von einem Nervenring umgeben, von welchem fünf Nervenstämme ausstrahlen. Die zweiseitig-symmetrischen Plattentiere (Platodes) und Wurmtiere (Vermalia) besitzen ein Scheitelhirn oder Akroganglion, zusammengesetzt aus ein paar dorsalen, oberhalb des Mundes gelegenen Ganglien; von diesen »oberen Schlundknoten« gehen zwei seitliche Nervenstämme an die Haut und die Muskeln. Bei einem Teile der Vermalien und bei den Weichtieren (Mollusca) treten dazu noch ein paar ventrale »untere Schlundknoten«, welche sich mit den ersteren durch einen den Schlund umfassenden Ring verbinden. Dieser »Schlundring« kehrt auch bei den Gliedertieren (Articulata) wieder, setzt sich aber hier auf der Bauchseite des langgestreckten Körpers in ein »Bauchmark« fort, einen strickleiterförmigen Doppelstrang, welcher in jedem Gliede zu einem Doppelganglion anschwillt. Ganz entgegengesetzte Bildung des Seelenorgans zeigen die Wirbeltiere (Vertebrata); hier findet sich allgemein auf der Rückenseite des innerlich gegliederten Körpers ein Rückenmark entwickelt; aus einer Anschwellung seines vorderen Teiles entsteht später das charakteristische blasenförmige Gehirn.

Obgleich nun so die Seelenorgane der höheren Tierstämme in Lage, Form und Zusammensetzung sehr charakteristische Verschiedenheiten zeigen, ist doch die vergleichende Anatomie imstande gewesen,[170] für die meisten einen gemeinsamen Ursprung nachzuweisen, aus dem Scheitelhirn der Platoden und Vermalien; und allen gemeinsam ist die Entstehung aus der äußersten Zellenschicht des Keimes, aus dem »Hautsinnesblatt« (Ektoderm). Ebenso finden wir in allen Formen der nervösen Zentralorgane dieselbe wesentliche Struktur wieder, die Zusammensetzung aus Ganglienzellen, Neuronen oder »Seelenzellen« (den eigentlichen aktiven Elementarorganen der Psyche) und aus Nervenfasern, welche den Zusammenhang und die Leitung der Aktion vermitteln.

Seelenorgan der Wirbeltiere: Die erste Tatsache, welche uns in der vergleichenden Psychologie der Vertebraten entgegentritt, und welche der empirische Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen Seelenlehre des Menschen sein sollte, ist der charakteristische Bau ihres Zentralnervensystems. Wie dieses zentrale Seelenorgan in jedem der höheren Tierstämme eine besondere, diesem eigentümliche Lage, Gestalt und Zusammensetzung zeigt, so ist es auch bei den Wirbeltieren der Fall. Überall finden wir hier ein Rückenmark vor, einen starken zylindrischen Nervenstrang, welcher in der Mittellinie des Rückens verläuft, oberhalb der Wirbelsäule (oder der sie vertretenden Chorda). Überall gehen von diesem Rückenmark zahlreiche Nervenstämme in regelmäßiger, segmentaler Verteilung ab, je ein Paar an jedem Segment oder Wirbelgliede. Überall entsteht dieses »Medullarrohr« im Embryo auf gleiche Weise: in der Mittellinie der Rückenhaut bildet sich eine feine Furche oder Rinne; die beiden parallelen Ränder dieser Markrinne oder Medullarrinne erheben sich, krümmen sich gegeneinander und verwachsen in der Mittellinie zu einem Rohre.

Das lange dorsale, so entstandene zylindrische Nervenrohr oder Medullarrohr ist durchaus für die Wirbeltiere charakteristisch, in der frühen Embryonalanlage überall dasselbe und die gemeinsame Grundlage aller der verschiedenen Formen des Seelenorgans, die sich später daraus entwickeln. Nur eine[171] einzige Gruppe von wirbellosen Tieren zeigt eine ähnliche Bildung, das sind die seltsamen meerbewohnenden Manteltiere (Tunicata), die Kopelaten, Aszidien und Thalidien. Sie zeigen auch in anderen wichtigen Eigentümlichkeiten des Körperbaues (besonders in der Bildung der Chorda und des Kiemendarms) auffallende Unterschiede von den übrigen Wirbellosen und Übereinstimmung mit den Wirbeltieren. Wir nehmen daher jetzt an, daß beide Tierstämme, Vertebraten und Tunikaten, aus einer gemeinsamen älteren Stammgruppe von Vermalien hervorgegangen sind, aus den Prochordoniern. Ein wichtiger Unterschied beider Stämme besteht darin, daß der Körper der Manteltiere ungegliedert bleibt und eine sehr einfache Organisation behält (die meisten sitzen später auf dem Meeresboden fest und werden rückgebildet). Bei den Wirbeltieren dagegen tritt frühzeitig eine charakteristische innere Gliederung des Körpers ein, die »Urwirbelbildung« (Vertebratio). Diese vermittelt die weit höhere morphologische und physiologische Ausbildung ihres Organismus, welche zuletzt im Menschen die höchste Stufe der Vollkommenheit erreicht.

Phyletische Bildungsstufen des Medullarrohrs: Die lange Stammesgeschichte unserer »Wirbeltierseele« beginnt mit der Bildung des einfachsten Medullarrohrs bei den ältesten Schädellosen; sie führt uns durch einen Zeitraum von vielen Millionen Jahren langsam und allmählich bis zu jenem komplizierten Wunderbau des menschlichen Gehirns hinauf, welcher diese höchst entwickelte Primatenform zu einer vollkommenen Ausnahmestellung in der Natur zu berechtigten scheint. Da eine klare Vorstellung von diesem langsamen und stetigen Gange unserer phyleti schen. Psychogenie die erste Vorbedingung einer wirklich naturgemäßen Psychologie ist, erscheint es zweckmäßig, jenen gewaltigen Zeitraum in eine Anzahl von Stufen oder Hauptabschnitten einzuteilen; in jedem derselben hat sich gleichmäßig mit der Struktur des Nervenzentrums auch seine Funktion,[172] die »Psyche«, vervollkommnet. Ich unterscheide acht solche Perioden in der Phylogenie des Medullarrohrs, charakterisiert durch acht verschiedene Hauptgruppen der Wirbeltiere; nämlich I. die Schädellosen (Acrania), II. die Rundmäuler (Cyclostoma), III. die Fische (Pisces), IV. die Lurche (Amphibia), V. die implazentalen Säugetiere (Monotrema und Marsupialia), VI. die älteren plazentalen Säugetiere, besonders die Halbaffen (Prosimiae), VII. die jüngeren Herrentiere, echte Affen (Simiae), VIII. die Menschenaffen und Menschen (Anthropomorpha).

I. Erste Stufe: Schädellose (Acrania), heute nur noch vertreten durch den Lanzelot (Amphioxus); das Seelenorgan bleibt auf der Stufe des einfachen Medullarrohrs stehen und stellt ein gleichmäßig gegliedertes Rückenmark dar, ohne Gehirn. II. Zweite Stufe: Rundmäuler (Cyclostoma), die älteste Gruppe der Schädeltiere (Craniota), heute noch vertreten durch die Pricken (Petromyzontes) und die Inger (Myxinoides); das Vorderende des Markrohrs schwillt zu einer Blase an, welche sich in fünf hintereinander liegende Hirnblasen sondert (Großhirn, Zwischenhirn, Mittelhirn, Kleinhirn, Nachhirn); diese fünf Hirnblasen bilden die gemeinsame Grundlage, aus welcher sich das Gehirn sämtlicher Schädeltiere entwickelt, von den Pricken bis zum Menschen hinauf. III. Dritte Stufe: Urfische (Selachii), ähnlich den heutigen Haifischen; bei diesen ältesten Fischen, von denen alle Kiefermäuler (Gnathostoma) abstammen, beginnt die stärkere Sonderung der fünf gleichartigen Hirnblasen. IV. Vierte Stufe: Lurche (Amphibia). Mit dieser ältesten Klasse der landbewohnenden Wirbeltiere, die zuerst in der Steinkohlenperiode erscheinen, beginnt die charakteristische Körperbildung der Vierfüßer (Tetrapoda) und eine entsprechende Umbildung des Fischgehirns; sie schreitet weiter fort in ihren permischen Epigonen, den Reptilien, deren älteste Vertreter die Stammreptilien (Tocosauria,), die gemeinsamen Stammformen aller Amnioten sind (der Reptilien und Vögel einerseits,[173] der Säugetiere andererseits). V. bis VIII. Fünfte bis achte Stufe: Säugetiere (Mammalia).

Die Bildungsgeschichte unseres Nervensystems und die damit verknüpfte Stammesgeschichte unserer Seele habe ich in meiner »Anthropogenie« ausführlich behandelt und durch zahlreiche Abbildungen erläutert (VI. Aufl., 24. Vortrag). Ich muß daher hier darauf verweisen sowie auf die Anmerkungen, in denen ich einige der wichtigsten Tatsachen besonders hervorgehoben habe. Dagegen lasse ich hier noch einige Bemerkungen über den letzten und interessantesten Teil derselben folgen, über die Entwicklung der Seele und ihrer Organe innerhalb der Säugetierklasse: ich erinnere dabei besonders daran, daß der monophyletische Ursprung dieser Klasse, die Abstammung aller Säugetiere von einer gemeinsamen Stammform (der Triasperiode), jetzt sicher festgestellt ist.

Seelengeschichte der Säugetiere. Der wichtigste Folgeschluß, welcher sich aus dem monophyletischen Ursprung der Säugetiere ergibt, ist die notwendige Ableitung der Menschenseele aus einer langen Entwicklungsreihe von anderen Mammalienseelen: Eine gewaltige anatomische und physiologische Kluft trennt den Gehirnbau und das davon abhängige Seelenleben der höchsten und der niedersten Säugetiere, und dennoch wird diese tiefe Kluft durch eine lange Reihe von vermittelnden Zwischenstufen vollständig ausgefüllt. Der Zeitraum von mindestens vierzehn (nach anderen Berechnungen mehr als hundert!) Millionen Jahren, welcher seit Beginn der Triasperiode verfloß, genügt aber vollständig, selbst die größten psychologischen Fortschritte zu ermöglichen. Die allgemeinsten Ergebnisse der wichtigen, neuerdings hier tief eingedrungenen Forschungen sind folgende: I. Das Gehirn der Säugetiere unterscheidet sich von demjenigen der übrigen Vertebraten durch gewisse Eigentümlichkeiten, welche allen Gliedern der Klasse gemeinsam sind, vor allem die überwiegende Ausbildung der ersten und vierten[174] Blase, des Großhirns und Kleinhirns, während die dritte Blase, das Mittelhirn, ganz zurücktritt. II. Trotzdem schließt sich die Hirnbildung der niedersten und ältesten Mammalien (Monotremen, Marsupialien, Prochoriaten) noch eng an diejenige ihrer paläozoischen Vorfahren an, der karbonischen Amphibien (Stegozephalen) und der permischen Reptilien (Tokosaurier). III. Erst während der Tertiärzeit erfolgt die typische volle Ausbildung des Großhirns, welche die jüngeren Säugetiere so auffallend vor, den älteren auszeichnet. IV. Die besondere (quantitative und qualitative) Ausbildung des Großhirns, welche den Menschen so hoch erhebt, und welche ihn zu seinen vorzüglichen psychischen Leistungen befähigt, findet sich außerdem nur bei einem Teile der höchst entwickelten Säugetiere der jüngeren Tertiärzeit, vor allem bei den Menschenaffen (Anthropoiden). V. Die Unterschiede, welche im Gehirnbau und Seelenleben des Menschen und der Menschenaffen existieren, sind geringer als die entsprechenden Unterschiede zwischen diesen letzteren und den niederen Primaten (den ältesten Affen und Halbaffen). VI. Demnach muß die historische stufenweise Entwicklung der Menschenseele aus einer langen Kette von höheren und niederen Mammalienseelen als eine fundamentale, durch die vergleichende Anatomie und Ontogenie wissenschaftlich bewiesene Tatsache gelten.[175]

Quelle:
Ernst Haeckel: Gemeinverständliche Werke. Band 3, Leipzig und Berlin [o.J.], S. 155-176.
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