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[394] Die ersten Auflagen meiner Schrift über die »Welträtsel«, die im Herbste des Jahres 1899 erschienen, fanden einen sehr raschen Absatz; innerhalb weniger Monate wurden zehntausend Exemplare verkauft. Es war mir daher zu meinem Bedauern nicht möglich, sofort die Verbesserung einiger Fehler vorzunehmen, auf welche ich erst durch mehrere inzwischen erschienene Gegenschriften aufmerksam gemacht wurde. Erst bei Gelegenheit einer späteren Auflage fand ich hinreichende Muße, jene Irrtümer zu berichtigen.
Schon während des ersten Jahres nach dem Erscheinen meines Buches wurden mehr als hundert verschiedene Besprechungen desselben in zahlreichen Zeitschriften veröffentlicht, sowie ein Dutzend größere Broschüren. Eine übersichtliche Zusammenstellung und kritische Vergleichung derselben gab im Herbst 1900 einer meiner Schüler, Heinrich Schmidt (Jena), in seiner Broschüre »Der Kampf um die Welträtsel« (Bonn, Emil Strauß. II. Aufl. 1900). Später ist die Zahl der Gegenschriften noch bedeutend gestiegen, nachdem Übersetzungen des Buches in die englische, französische, italienische und spanische Sprache erschienen waren und auch in diesen Nachbarländern starken Absatz gefunden hatten. Gegenwärtig mag die Anzahl der verschiedenen Besprechungen wohl mehrere Hundert betragen.
Dieser unerwartete Erfolg eines philosophischen Buches legte dem Verfasser gewissermaßen die Pflicht auf, wenigstens die wichtigsten von jenen Gegenschritten[394] zu beantworten und die zum Teil sehr schweren Vorwürfe zu widerlegen. In der Tat fühlte ich mich auch zu einer solchen umfassenden Entgegnung, zu der ich direkt und indirekt vielfach aufgefordert wurde, meiner Neigung zuwider fast gezwungen. Die Ausführung derselben wurde aber durch meine zweite Reise nach Indien vereitelt, die ich im August 1900 nach Java und Sumatra antrat und über welche ich in meinen »Malayischen Reisebriefen« Bericht erstattet habe (»Insulinde«, Leipzig, Alfred Kröner).
Wollte ich eine eingehende Antwort auf alle verschiedenen, gegen die »Welträtsel« gerichteten Angriffe geben, so würde ein neues Buch entstehen, weit umfangreicher als das erste. Eine derartige ausführliche Gegenschrift aber erscheint mir bei der gegenwärtigen Lage des großen Kampfes um die Weltanschauung weder notwendig noch zweckmäßig; es genügt vielmehr, wenn ich in diesem kurzen »Nachwort« die wichtigsten Einwände beleuchte, starke Mißverständnisse aufkläre und meinen prinzipiellen Standpunkt nochmals klar darlege. Die äußere Veranlassung dazu gibt mir gerade jetzt, nachdem mit der letzten (achten) Auflage 16000 Exemplare des Buches in deutscher Sprache verbreitet sind, die Veröffentlichung der billigen Volksausgabe. Zu einer solchen war ich schon im Laufe des letzten Jahres von mehreren Seiten dringend aufgefordert worden; ich konnte mich aber zur Erfüllung dieses Wunsches – trotz mancher Bedenken – erst jetzt entschließen, bewogen durch den starken Erfolg der englischen Übersetzung. Von dieser hatte die »Rationalist Press Association« in London zu Ende vorigen Jahres eine billige Volksausgabe veranstaltet und innerhalb dreier Monate 30000 Exemplare abgesetzt. Durch die deutsche Volksausgabe wird es nunmehr auch unbemittelten Gebildeten (namentlich Lehrern und Studierenden) möglich sein, sich mit dem Inhalt des Buches bekannt zu machen; ich habe darin tatsächliche Irrtümer verbessert, viele Sätze gekürzt und überflüssiges Beiwerk fortgelassen.[395]
Der überraschende Erfolg der »Welträtsel« erklärt sich wohl großenteils durch das stetig wachsende Bedürfnis weiter Bildungskreise nach einer klaren, einheitlichen Weltanschauung. Die Gewinnung einer solchen wird von Tag zu Tag schwieriger durch das erstaunliche Wachstum der empirischen Spezialforschung und die damit verknüpfte vielfache Arbeitsteilung in allen einzelnen Wissensgebieten. Je mehr sich hier der denkende Beobachter in der unübersehbaren Masse von besonderen Einzelheiten zu verlieren droht, desto lebhafter wird auf der anderen Seite sein Bedürfnis nach der Gewinnung einheitlicher Gesichtspunkte und einer allgemeinen Übersicht über das ganze Erkenntnisgebiet. Eine solche Philosophie kann aber nur auf naturwissenschaftlicher Grundlage ruhen, auf kritischer Zusammenfassung aller allgemeinen Ergebnisse der Erfahrungswissenschaften. Zu einer solchen echten »Naturphilosophie« ist jeder denkende und wissenschaftlich gebildete Mensch berechtigt; sie ist nicht das privilegierte Eigentum einer bevorzugten Gelehrtenkaste.
Die allgemeinen Betrachtungen, welche ich diesem »Nachwort zu den Welträtseln« voranschicken möchte, sind ganz dieselben, welche David Strauß vor dreißig Jahren im seiner meisterhaften Broschüre gegeben hat: »Ein Nachwort als Vorwort zu den neuen Auflagen meiner Schrift: Der alte und der neue Glaube« (Bonn, Emil Strauß, 1873). Alles, was hier in vollkommenster Form der größte Theologe des 19. Jahrhunderts über die Entstehung und Absicht seines berühmten Buches sagt, über die Motive und Methoden seiner zahlreichen Gegner, zur Begründung und Verteidigung seines »Bekenntnisses« – alles das gilt wörtlich auch für mich und meine »Welträtsel«. Denn auch dieses Buch ist nur das offene und ehrliche Bekenntnis eines Mannes, der ein halbes Jahrhundert hindurch nach Erkenntnis der Wahrheit geforscht hat, und der nun die allgemeinen Ergebnisse seiner mühsamen Forschungen nach bestem Wissen[396] und Gewissen seinen Mitmenschen nutzbar machen möchte. Indem ich also bezüglich aller allgemeinen Beziehungen auf jenes klassische »Bekenntnis« von David Strauß und auf die Erklärungen seines bedeutungsvollen »Nachworts« hinweise, begnüge ich mich hier mit einer kurzen Entgegnung auf diejenigen Broschüren über die Welträtsel, welche am dringendsten dazu auffordern; es sind die beiden philosophen Schriften von Paulsen und Adickes, die beiden theologischen von Loofs und Nippold.
Unter allen Gegenschriften, die seit drei Jahren gegen mein Buch veröffentlicht wurden, hat mich keine in so hohem Maße überrascht und befremdet, als diejenige von Friedrich Paulsen, Professor der Philosophie an der Universität Berlin. Sie erschien im Juli 1900 im ersten Hefte des 101. Bandes der Preußischen Jahrbücher, unter dem Titel: Ernst Haeckel als Philosoph; sie wurde dann später abgedruckt in einer Sammlung von Aufsätzen, betitelt »Philosophia militans; gegen Naturalismus und Klerikalismus«. Diese Schmähschrift verurteilt nicht allein mein ganzes Buch in den schärfsten Ausdrücken, sie übergießt nicht nur alle angreifbaren Stellen desselben mit Spott und Holm – sondern, was schlimmer ist: Paulsen verschweigt viele wichtige Sätze meiner Weltanschauung, in denen er mit mir übereinstimmt, und rupft dagegen aus dem Reste alle die Sätze heraus, die ihm zum Angriff geeignet erscheinen. Eine verblüffende Dreistigkeit ist es, wenn Paulsen fortwährend behauptet, daß ich die Philosophie überhaupt verwerfe, während ich doch mehr Gewicht auf sie lege, als die meisten andern Naturforscher; was ich bekämpfe, ist die herrschende falsche Metaphysik! Es genügt zur Charakteristik von Paulsens Pamphlet, wenn ich hier seine Schlußsätze wörtlich anführe: »Ich habe mit brennender Scham dieses Buch gelesen, mit Scham über den Stand der allgemeinen Bildung und der philosophischen Bildung unseres Volkes. Daß ein solches Buch möglich war, daß es geschrieben, gedruckt, gekauft, gelesen, bewundert,[397] geglaubt werden konnte bei dem Volk, das einen Kant, einen Goethe, einen Schopenhauer besitzt, das ist schmerzlich!« Indessen: »Nosce te ipsum!«
Dieses maßlose Verdammungsurteil von Paulsen gehört zu den härtesten und heftigsten, die mir in den langen vierzig Jahren meiner literarischen Kämpfe entgegen geschleudert worden sind. Der unbefangene Leser könnte vermuten, daß ein scharfer persönlicher Gegensatz hinter demselben sich verberge; indessen ist das nicht der Fall. Weder kenne ich Professor Paulsen persönlich, noch habe ich jemals in einer literarischen Beziehung zu ihm gestanden – ausgenommen, daß ich auf Seite 2 der »Welträtsel« seine »Einleitung in die Philosophie« vor vielen ähnlichen Büchern dem Leser zum Studium empfohlen habe. Sein Buch ist vortrefflich geschrieben und gibt eine klare Übersicht über die wichtigsten Probleme der Weltanschauung. Der persönliche Standpunkt des Verfassers ist der herrschende, durch die Autorität von Kant gedeckte Dualismus, obgleich gerade Paulsen am wenigsten berechtigt ist, sich zum Verteidiger von Kant aufzuwerfen; daß gerade ihm das Verständnis für die Kantische Philosophie in hohem Maße abgeht, wird von den tüchtigsten Kantforschern einstimmig behauptet (z.B. von Cohen, Vorländer, Goldschmidt u. a.). Andererseits bemüht Paulsen sich doch, in den meisten kosmologischen Fragen den Anforderungen der modernen Naturwissenschaft gerecht zu werden, und stimmt darin mit den wichtigsten Hauptsätzen meines Monismus überein. Daher haben mehrere unparteiische Zuschauer dieses Kampfes darauf hingewiesen, daß der von Paulsen geschaffene schroffe Gegensatz zu meinen Prinzipien in ganz künstlicher ist, und daß seine scharfen Angriffe unbegreiflich sind. (Man vergleiche hierzu die angeführte Schrift von Heinrich Schmidt, S. 45-48.) Die einzig mögliche Erklärung derselben liegt in dem maßlosen (auch von anderen Gegnern geteilten) Ärger über den literarischen Erfolg meiner »Welträtsel« und darüber, daß überhaupt ein Naturforscher sich[398] untersteht, Studien über »Philosophie« zu veröffentlichen. Denn dieses Recht steht nach ihrer Ansicht nur den privilegierten »Fachmännern« zu; sie halten eben für wahre »Philosophie« nur die transzendentale, auf »Erkenntnisse a priori« gegründete Metaphysik; hingegen bin ich mit den meisten anderen Naturphilosophen der Überzeugung, daß die ersten Grundlagen aller wahren Philosophie auf der Naturerkenntnis beruhen und durch denkende Erfahrung a posteriori entstanden sind. Auf eine Widerlegung der gehässigen und sophistischen Angriffe von Paulsen im einzelnen einzugehen, würde zu nichts führen; es ist ihm nicht um Erkenntnis der Wahrheit zu tun, sondern um Vernichtung eines verhaßten Gegners. Da Paulsen jedoch als unterhaltender Feuilletonschreiber mit Recht sehr beliebt ist und als redegewandter Lehrer der Metaphysik in Berlin großen Einfluß übt, möchte ich noch besonders darauf hinweisen, daß er als selbständiger Philosoph keine Geltung hat und nicht einen einzigen neuen Gedanken oder Begriff in die »Weltweisheit« eingeführt hat; daher auch sein Ingrimm über die zahlreichen neuen Lehrsätze und Begriffe, zu deren Aufstellung ich im Laufe fünfzigjähriger Gedankenarbeit durch das beständige Bestreben geführt wurde, die moderne Entwicklungslehre zur festen Grundlage unserer gesamten Weltanschauung zu machen.
Ein weit ehrlicherer und anständigerer Gegner als der Berliner Sophist ist Erich Adickes, Professor der Philosophie in Kiel – obgleich auch er mich als Philosoph für eine Null erklärt. Seine Gegenschrift (130 S. stark) ist betitelt »Kant contra Haeckel; Erkenntnistheorie gegen naturwissenschaftlichen Dogmatismus« (Berlin 1901). Schon in diesem Titel ist richtig der unversöhnliche Gegensatz ausgesprochen, in welchem sich unser moderner Monismus zu dem durch Kant vertretenen Dualismus befindet. Seit dreißig Jahren predigt die herrschende Schulphilosophie ihr »Zurück zu Kant« als einziges Rettungsmittel, während gleichzeitig die moderne Biologie auf den[399] Schultern von Darwin ihre Antwort ruft: »Zurück zur Natur!« Dieser prinzipielle Gegensatz zwischen der Kantschen Metaphysik und der Darwinschen Entwicklungslehre hat sich neuerdings immer schärfer entwickelt, je mehr die letztere ihr erklärendes Licht über das ganze weite Gebiet des organischen Lebens und des darin inbegriffenen menschlichen Seelenlebens ergoß.
Kant und Darwin! Unter diesem Titel veröffentlichte der treffliche Philosoph Fritz Schultze in Dresden einen interessanten »Beitrag zur Geschichte der Entwicklungslehre« (Jena 1875); er hatte darin aus den verschiedenen Schriften von Kant die interessantesten Aussprüche zusammengestellt, auf deren Grund man den großen Philosophen von Königsberg geradezu als einen der ersten und bedeutendsten Vorläufer von Darwin bezeichnen könnte. Allein ich habe schon in der ersten Auflage meiner »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« (1868, Vortrag V) darauf hingewiesen, daß diese großartigen Entwicklungsgedanken des monistischen Naturphilosophen Kant in schroffem Gegensatze zu den mystischen Lehren stehen, welche später der dualistische Metaphysiker Kant zur Grundlage seiner ganzen Erkenntnistheorie machte, und welche heute wieder in höchstem Ansehen stehen. Man muß eben bei jeder Betrachtung seiner Lehren zuerst fragen: »Welcher Kant ist gemeint? Kant Nr. 1, der Begründer der monistischen Kosmogenie, der kritische Ergründer der ›reinen Vernunft‹? – oder Kant Nr. 2, der Verfasser der dualistischen ›Kritik der Urteilskraft‹, der dogmatische Erfinder der ›praktischen Vernunft‹?« Kant 1 behauptete »die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newtonschen Grundsätzen«, und stellte den Satz auf, daß »der Mechanismus allein eine wirkliche Erklärung aller Erscheinungen einschließe«. Kant 2 dagegen vertrat »die notwendige Unterordnung des Prinzips des Mechanismus unter das teleologische, in Erklärung eines Dinges als Naturzweck«: es sei »ungereimt,[400] zu hoffen, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur erklären können«. Kant 1, der kritische Naturphilosoph, wies überzeugend nach, daß die drei Zentraldogmen der Metaphysik: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, für die »reine Vernunft« unzugänglich und unbeweisbar seien. Kant 2 dagegen, der dogmatische Glaubensheld, behauptete, daß diese drei mystischen Phantasiegebilde unentbehrliche »Postulate der praktischen Vernunft« seien. Dieser durchgreifende Gegensatz zwischen zwei unversöhnlichen Prinzipien, zwischen der theoretischen reinen Erkenntnis und den praktischen Glaubenssätzen, zieht sich durch die ganze lange Gedankenarbeit Kants von Anfang bis zum Ende durch und und ist nie zum Ausgleich gelangt. Alle neueren unbefangenen Geschichtschreiber der Philosophie, insbesondere Überweg-Heinze, A. Lange, A. Rau, Vaihinger – ja selbst Paulsen! – haben diesen unheilvollen Zwiespalt übereinstimmend anerkannt; er muß von vornherein unser Mißtrauen gegen eine »Erkenntnistheorie« erregen, die sich auf einer so dualistischen Grundlage aufbaut. (Vergl. H. Schmidt, a. a. O. S. 46-48.)
Gerade diese vielberufene Erkenntnistheorie nun ist es, die von den eifrigen dualistischen Gegnern der »Welträtsel« meinem Monismus als sicherste Waffe entgegengehalten wird. Ihr gegenüber kann ich mich nur darauf berufen, daß die ganze neuere Naturwissenschaft seit dreihundert Jahren, seit Bacon und Newton, die unbefangene Erfahrung, die »voraussetzungslose« Erforschung der durch Sinnestätigkeit erkannten Tatsachen, als Ausgangspunkt aller sicheren Erkenntnis festhält, also a posteriori verfährt. Kant hingegen schließt umgekehrt a priori, aus der inneren Selbstbetrachtung seiner Vernunft, auf die Existenz und Beschaffenheit der Außenwelt. Die »Anfangsgründe der Naturwissenschaft« sind für Kant »metaphysisch« und transszendental, für unsere monistische Weltanschauung hingegen physikalisch[401] und empirisch. Ebenso verhält es sich mit der Mathematik; ihre festen und unanfechtbaren Grundsätze bestehen nach Kant vor aller Erfahrung und unabhängig von ihr; nach unserer Überzeugung sind dieselben (- wie schon Stuart Mill u. a. gezeigt haben -) die letzten, abstrakten Ergebnisse von Vernunftschlüssen, die durch eine lange Kette von Erfahrungen im Laufe der Kulturentwicklung allmählich errungen wurden.
Ja, Entwicklung ist auch hier das Zauberwort, welches alle »Welträtsel« (- bis auf das eine letzte, das Substanzproblem! -) zur Lösung führt. Wie sich der graue Rindenmantel unseres Großhirns, des wichtigsten Seelenorgans, im Laufe der Tertiärzeit aus der einfacheren Großhirnrinde unserer Primatenahnen phylogenetisch entwickelt hat, so sind auch dessen physiologische Funktionen gleichzeitig aus der niederen Seelentätigkeit der letzteren bis zu den Anfängen des Zählens und Messens bei den niederen Naturvölkern fortgeschritten und von diesen später hoch hinauf zu der Mathematik der Kulturvölker.
Kant oder Darwin! So muß es auf diesem Gebiete der Erkenntnistheorie jetzt heißen. Entweder gibt es, wie Kant 2 behauptet, zwei verschiedene Welten, eine empirische (durch Erfahrung und Verstand erkennbare) und eine intelligible (nur dem Glauben und dem Gemüt zugängliche) Welt; – oder diese beiden Welten sind eine und dieselbe, wie uns die von Darwin neu begründete Entwicklungstheorie lehrt. Gemäß dieser letzteren gilt der Mechanismus der Natur, der alles nach festen Gesetzen bewirkt, auch für das gesamte, auf Gehirntätigkeit beruhende Seelenleben des Menschen; es gibt keine »absolute Freiheit«.
»Nach ewigen, ehernen, großen Gesetzen
Müssen wir alle unseres Daseins Kreise vollenden.«
Vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, wo man sich überzeugen wird, daß die sogenannte »kritische[402] Philosophie« in Wahrheit rein dogmatisch ist. Ein Dogma, d.h. ein subjektiver, von aller Erfahrung unabhängiger Glaubenssatz, ist die »intelligible Welt« von Kant, jenes unbekannte »Jenseits«, in dem die »ewigen Ideen« von Plato wohnen, die »unsterblichen Seelen« und der »persönliche Gott«. Ein Dogma ist das rätselhafte »Ding an sich«, das hinter allen Erscheinungen stecken soll, und von dessen Existenz auch Kant selbst nichts weiß. Ein Dogma ist der kategorische Imperativ, der ein unbedingtes und allgemein gültiges Sittengesetz für alle verschiedenen Menschenrassen aufstellen will. Ein Dogma ist die Behauptung, daß die Anfangsgründe der Naturwissenschaft metaphysisch und a priori entstanden seien. Und so ist dogmatisch jenes ganze große Lehrgebäude der praktischen Vernunft, welches den durch die reine Vernunft gefundenen Wahrheiten widerspricht, aber trotzdem als »kritische« Weltweisheit verherrlicht wird.
Die Autorität von Kant hat sich seit hundert Jahren in der deutschen Philosophie eine ähnliche Vorherrschaft errungen, wie sie im Mittelalter Aristoteles besaß. In unzähligen Schriften wird der Schild dieser dualistischen Autorität den Ansprüchen der monistischen Naturwissenschaft entgegengehalten. Aber die wichtigste und zugleich dankbarste Aufgabe dieser »Kantstudien« hat noch niemand gelöst, nämlich auf einem Druckbogen in knapper und klarer Form die fundamentalen Widersprüche der beiden Weltanschauungen von Kant gegenüber zu stellen: links auf 8 Seiten die monistischen Erkenntnisse der empirischen Welt durch die reine Vernunft von Kant 1; rechts auf 8 Seiten die dualistischen Prinzipien der intelligiblen Welt durch die praktische Vernunft von Kant 2.
Auf diesen letzteren stützt sich ganz und gar Erich Adickes, nach dessen Ansicht »die Weltanschauung das Gebiet nicht des Wissens, sondern des Glaubens« ist, mithin die Wahrheit sich der Dichtung unterordnen muß. Er meint, daß ich nicht nur als[403] Philosoph gleich Null, sondern auch ein Mensch ohne Gemüt sei, weil ich dem Gemüt das Recht bestreite, gegenüber der Vernunft die Wahrheit erkennen zu wollen. Weniger schroff und einseitig ist Julius Baumann in seiner Broschüre: »Haeckels Welträtsel nach ihren starken und ihren schwachen Seiten, mit einem Anhang über Haeckels theologische Kritiker« (II. Aufl.). Ich würde mich mit diesem Professor der Philosophie in Göttingen bezüglich der meisten Punkte verständigen können, wenn es mir möglich wäre, ihn von der Berechtigung derjenigen monistischen Grundanschauungen zu überzeugen, zu welchen ich durch das Studium der allgemeinen und vergleichenden Biologie im Laufe eines halben Jahrhunderts mit Notwendigkeit naturgemäß geführt worden bin.
Dasselbe gilt auch von demjenigen Theologen, der unter allen Gegnern der Welträtsel nicht nur den höflichsten und versöhnlichsten Ton anschlägt, sondern auch am eingehendsten und ehrlichsten seine abweichenden Ansichten zu begründen sucht. Es ist dies mein hochverehrter Kollege, der liberale Professor der Kirchengeschichte Friedrich Nippold. Derselbe wurde vor zwanzig Jahren Nachfolger des berühmten Theologen Carl Hase, eines geistreichen und vielseitig gebildeten Gelehrten, mit welchem ich länger als zwanzig Jahre hindurch zahlreiche freundschaftliche und eingehende Gespräche über die höchsten Fragen von »Gott und Welt«, wie über die wichtigsten Aufgaben der Wissenschaft zu führen das Glück hatte; ebenso wie mit einem andern hochangesehenen Kollegen unserer Universität Jena, dem verstorbenen Richard Lipsius. Wenn ich hier dankbar der vielfachen Belehrung und Anregung gedenke, welche ich im Laufe von 42 Jahren von diesen drei hervorragenden Theologen empfangen habe, und wenn ich dabei mich auf die persönliche und wissenschaftliche Wertschätzung dieser ehrenhaften Männer der Wissenschaft berufe, so erblicke ich darin zugleich die kürzeste und beste Abwehr der[404] schmählichen und verächtlichen Angriffe, welche zahlreiche Gegner der »Welträtsel« gegen meine Person und meine Lebensarbeit gerichtet haben, allen voran der Theologe Friedrich Loofs in Halle und der Philosoph Friedrich Paulsen in Berlin.
Friedrich Nippold hielt schon am 10. Mai 1884, als er den Lehrstuhl von Carl Hase übernahm, eine Antrittsrede, die großes Aufsehen unter seinen theologischen Kollegen und lebhaften Beifall unter seinen Kollegen anderer Fakultäten erregte, unter dem Titel: »Die naturwissenschaftliche Methode in ihrer Anwendung auf die Religionsgeschichte.« In dieser geistvollen Rede stellt der Vertreter der Kirchengeschichte an seine Fachkollegen die ungewohnte Anforderung, daß sie bei ihren historischen und literarischen Forschungen dieselben Methoden anwenden sollen, wie die moderne Naturwissenschaft; dabei gedenkt der Redner der gewaltigen Erfolge von Alexander Humboldt und Hermann Helmholtz, von Faraday und Bunsen, von Tyndall und Charles Darwin. »Mit offenem Sinn und warmem Herzen tritt die wissenschaftliche Theologie, tritt vor allem die Religionsgeschichte an die staunenswerten Entdeckungen heran, welche die Gegenwart der führenden Wissenschaft dankt und welche der ganzen Zeit ihre Signatur geben.« Und ebenso wie Carl Ernst Baer unter seine klassische Entwicklungsgeschichte der Tiere (1828) das bezeichnende Leitwort setzte: »Beobachtung und Reflexion«, so verlangt auch Nippold 1884 für die Religionsgeschichte in erster Linie scharfe klare Beobachtung der Tatsachen, und erst nachher den unbefangenen und »voraussetzungslosen« Aufbau der Schlüsse, die sich aus jenen Tatsachen ergeben. Mit vollem Rechte stellt er dieser »exakten naturwissenschaftlichen Methode« die »herrschende konfessionalistisch-dogmatische« gegenüber, und bezeichnet die erstere als empirisch, die letztere als infallibilistisch; zugleich spricht er der letzteren »in allen ihren Formen gleich sehr den Charakter strenger Wissenschaftlichkeit ab« (S. 12).[405]
Diese bedeutungsvolle Antrittsrede von Nippold ist freilich nicht nach dem Geschmacke der orthodoxen Theologen, welche leider auch heute noch in den größten deutschen Staaten die einflußreichste Macht bilden; sie gereicht aber um so mehr zur hohen Ehre unserer freien Thüringer Universität Jena und unserem kleinen Großherzogtum Weimar, der unantastbaren Freistätte ehrlicher Wahrheitsforschung und furchtloser Lehre. Veröffentlicht wurde diese Rede erst später, in dem offenen »kollegialen Sendschreiben«, welches Friedrich Nippold infolge des Welträtselstreites an mich gerichtet hat (Berlin 1901). Der beschränkte Raum dieses Nachwortes gestattet mir leider nicht, eine eingehende Antwort auf alle Einwürfe meines hochverehrten Kollegen zu geben; ich muß mich mit der Versicherung begnügen, daß ich ihm für die gewordene reiche Belehrung auf dem mir ferner liegenden theologischen Gebiete aufrichtig dankbar bin. Auch ist es mir in längeren, eingehenden Gesprächen gelungen, eine erfreuliche Verständigung über viele der wichtigsten Anschauungen herbeizuführen, soweit eine solche zwischen einem unbefangenen, philosophisch gebildeten Theologen und einem aufrichtigen, nach philosophischer Erkenntnis strebenden Naturforscher überhaupt möglich ist.
Ganz anders verhält es sich mit einem orthodoxen Theologen, mit Friedrich Loofs, Professor der Kirchengeschichte in Halle. Sein »Anti-Haeckel«, 1900 in Halle erschienen, ist in der Hauptsache eine auserlesene Sammlung der verschiedensten Schimpfwörter und Beleidigungen; Heinrich Schmidt hat in seiner Broschüre auf zwei Seiten (19, 20) eine Musterkarte derselben gegeben. Die ehrenvollen Bezeichnungen : »Dummheit, Unwissenheit, Ignoranz, Unkenntnis, Unsinn« usw., verstärkt durch die angenehmen Beiwörter: »unglaublich, ungeheuerlich, unehrlich, unredlich, anstößig, widerwärtig, verächtlich, zu dumm« usw. – werden in diesem schmutzigen Pamphlet so oft wiederholt, daß es selbst dem frömmsten[406] Gläubigen zu viel werden muß. Indessen hat das Machwerk von Loofs (in mehreren Auflagen weit verbreitet) auch seine komischen Seiten, und ich möchte nicht den Ausdruck des Dankes für die heiteren Stunden unterlassen, welche der fromme Hallenser Fanatiker dadurch mir und meinen Jenenser Freunden bereitet hat. Nachdem nämlich der Herr Kirchenrat »gezeigt hat, daß der Verfasser der Welträtsel ein normales wissenschaftliches Gewissen nicht hat, und daß man ihm auf keinem Gebiete wissenschaftlicher Arbeit Sorgfalt und ernsten Wahrheitssinn zutrauen kann«, schließt er seine Philippica mit folgenden Sätzen: »Das sind harte Worte. Meine ganzen Ausführungen sind ehrverletzend für Professor Haeckel und sollen es sein. Ich habe so geschrieben, daß jedes Gericht mich der Beleidigung des Jenenser Kollegen wird schuldig sprechen müssen, wenn ich nicht zugleich den Wahrheitsbeweis für meine Behauptungen erbracht habe. Nur durch ein richterliches Urteil nach vorausgegangenem Sachverständigen-Gutachten würde ich mich für widerlegt halten.«
Dieser Gedanke ist wirklich kostbar! Die Entscheidung über die Wahrheit in dem großen Kampfe der Weltanschauungen dem juristischen Ermessen eines deutschen Richterkollegiums – in letzter Instanz des Reichsgerichts! – zu überlassen! Unsere braven Juristen sind gewiß zum größten Teile rechtliche Leute; aber die Befähigung zur Entscheidung über philosophische Grundfragen, zu welcher vor allem gründliche biologische Bildung gehört, werden die meisten von ihnen wohl selbst ablehnen. Vielleicht erwartet aber Herr Kollege Loofs, daß ich ihm als Antwort auf seine ehrverletzenden Beschimpfungen einen Kartellträger schicke und ihn zu einem Duell auf »krumme Säbel oder Pistolen« fordere? Dann wird er umsonst warten! Nach meiner Überzeugung ist jedes Duell entweder als »Gottesurteil« vernunftwidrig oder gehört als barbarische Unsitte zum »groben Unfug« – ganz abgesehen davon, daß[407] diese rohe Form der Rache den milden Grundlehren der christlichen Religion direkt ins Gesicht schlägt!
Was überhaupt das Verhalten eines vernünftigen und ehrenhaften Mannes gegenüber öffentlichen Beleidigungen und Beschimpfungen betrifft, so halte ich im allgemeinen die Praxis Friedrichs des Großen für richtig; er ließ die gegen ihn gerichteten Pamphlete niedriger hängen, damit die Leute sie besser lesen könnten. So habe ich seit 36 Jahren verfahren, seit zuerst meine »Natürliche Schöpfungsgeschichte«, später (1874) meine »Anthropogenie« eine Flut von geharnischten Gegenschriften hervorriefen. Anfangs habe ich noch gelegentlich (- in den Vorreden späterer Auflagen -) wenigstens gegen die schlimmsten Angriffe protestiert und auf die Grundlosigkeit vieler Verleumdungen und Verdrehungen hingewiesen (- besonders von seiten rechtgläubiger christlicher Fanatiker! -). Später habe ich auch das unterlassen, weil es mir bei meinen literarischen Kämpfen nicht um die Rechtfertigung meiner Person, sondern um die Verteidigung meiner guten Sache, der »voraussetzungslosen« Erkenntnis der Wahrheit, zu tun ist. Das möchte ich besonders noch geltend machen gegenüber einem eifrigen (- mir persönlich unbekannten -) Gegner, der mich seit Jahren mit unermüdlicher Hartnäckigkeit verfolgt, Dr. phil. E. Dennert, Schuldirektor in Godelsberg a. Rh. Nachdem dieser fromme Mann in zahlreichen Aufsätzen seiner Entrüstung über die Entwicklungslehre Ausdruck gegeben und eine komische Abhandlung »Am Sterbelager des Darwinismus« geschrieben, hat er neuerdings mir die Ehre einer besonderen Schmähschrift erwiesen: Die Wahrheit über Ernst Haeckel und seine Welträtsel, nach dem Urteil seiner Fachgenossen (Halle 1901). Die Wahrheit über den Inhalt und Charakter dieses Pamphlets ist folgende: Dennert hat mit anerkennenswertem Fleiße die meisten von den zahlreichen Angriffen zusammengetragen, welche im Laufe von 36 Jahren, während langer und[408] heftiger literarischer Kämpfe, gegen mich und meine Schriften gerichtet worden sind. Diese Angriffe sind von der allerverschiedensten Art: etwa ein Drittel bezieht sich auf entgegengesetzte Ansichten über spezielle naturwissenschaftliche Streitfragen, die noch heute unentschieden sind; ein zweites Drittel betrifft unmittelbar den großen Kampf der Weltanschauungen, der vor vierzig Jahren durch Charles Darwin entfesselt wurde und der noch lange fortdauern wird – es ist natürlich, daß hier die unversöhnlichen Gegensätze um so heftiger aufeinander stoßen, je klarer und konsequenter sie entwickelt werden: Hier Kant 1, Spinoza und Goethe: Monismus, Vernunft und Pantheismus; dort Kant 2, Paulsen und Dennert: Dualismus, Aberglaube und Theismus. Das letzte Drittel von Dennerts Schmähschrift, im Geiste von Loofs und Paulsen geschrieben, ist eine bunte Sammlung von Verdächtigungen und Schmähungen aller Art, die teils auf sophistischen Entstellungen und Verdrehungen meiner Lehren beruhen, teils auf reinen Erfindungen und Verleumdungen. Der moralische Charakter dieser verächtlichen Angriffe wird dadurch nicht gebessert, daß der fromme Dr. Dennert sich mit besonderem Behagen auf undankbare frühere Schüler von mir beruft. Ich bekleide mein Lehramt an der Universität Jena jetzt seit 84 Semestern und habe in diesem langen Zeitraum vor mehr als sechstausend Schülern vorgetragen; darunter befinden sich nicht wenige, welche als Lehrer und Forscher auch den größeren deutschen Universitäten zur Zierde gereichen. Natürlich fehlt es aber dazwischen auch nicht an solchen Charakteren, die nicht aus Überzeugung, sondern aus egoistischen Gründen in heimtückische Gegner sich verwandelt haben. Viele Feinde habe ich mir schon allein dadurch zugezogen, daß ich die »faulen Kompromisse« im Kampfe um die Wahrheit verschmähe und rücksichtslos die Folgeschlüsse aus den Erkenntnissen ziehe, die ich durch eifriges Studium der Natur und der Menschenwelt während eines halben Jahrhunderts[409] gewonnen habe. Gewiß habe ich in der Taktik jenes Kampfes oft große Fehler begangen; aber unbeirrt habe ich stets das eine große Ziel meiner Lebensarbeit im Auge behalten: Reine Erkenntnis der Wahrheit auf Grund unbefangener Naturforschung.
Mit diesen persönlichen Bemerkungen möchte ich ein für allemal auf die unzähligen Angriffe antworten, welche von theologischen, metaphysischen und anderen Gegnern gegen meine Person und meinen Charakter – besonders als Verfasser der »Welträtsel« – gerichtet worden sind. Falls ein unbekannter Leser mehr darüber zu erfahren wünscht, so findet er dies in dem »Lebensbild« von Wilhelm Bölsche (Leipzig, 1900).
Meine Gegner tun mir übrigens viel zu viel Ehre an, wenn sie immer den Monismus, wie ich ihn 1892 in meiner Altenburger Rede entworfen und in den »Welträtseln.« ausgeführt habe, als Privatansicht meiner Person behandeln. Derselbe ist vielmehr der Ausdruck der klaren einheitlichen Weltanschauung der modernen Naturwissenschaft am Schlusse des 19. Jahrhunderts. Was ich hier als mein persönliches Bekenntnis formuliert habe, das ist in derselben (- oder in einer sehr ähnlichen -) Form die Innerste Überzeugung der großen Mehrzahl der denkenden modernen Naturforscher – wohlverstanden der denkenden! Denn es gibt auch in der riesigen Maschinenwerkstätte der modernen Naturforschung eine Masse gedankenloser Tagelöhner, die zwar ihre kleine Spezialarbeit vortrefflich ausführen, aber nach dem großen Ganzen des Betriebes gar nicht fragen; es gibt selbst unter den angesehenen und verdienten Naturforschern nicht wenige, denen die Gewinnung einer bestimmten Weltanschauung ganz gleichgültig ist, die nur neue Tatsachen, keine Begriffe finden wollen. Wer in solcher Resignation auf eine wissenschaftliche Begründung seiner Weltanschauung überhaupt verzichtet, sich aber gleichzeitig einem beliebigen »Glauben« in die Arme wirft, mit dem ist natürlich nicht weiter zu verhandeln.[410]
Durch Tausende von Gesprächen, die ich im Laufe eines halben Jahrhunderts mit gebildeten Männern und Frauen der verschiedensten Berufskreise gehabt habe, bin ich zu der festen Überzeugung gelangt, daß der Monismus schon jetzt viel mehr Anhänger besitzt, als man gewöhnlich annimmt – und Tausende von zustimmenden Briefen, die in den drei Jahren seit Erscheinen der »Welträtsel« an mich gerichtet wurden, haben diese Überzeugung bestätigt. Ganz besonders gilt das von den Kreisen der denkenden Naturforscher und Naturfreunde; sicher die größere Hälfte, wahrscheinlich mehr als drei viertel derselben steht auf dem Boden meiner »Welträtsel«. Meine Gegner bestreiten dies und weisen auf die geringe Zahl von namhaften Naturkundigen hin, die sich meinem »Bekenntnis« öffentlich angeschlossen haben. Die Erklärung dieser Erscheinung ist aber sehr einfach: Erstens fühlen überhaupt viele denkende Naturforscher gar kein Bedürfnis, ihre Innerste Überzeugung anderen mitzuteilen – dagegen ist nichts zu sagen. – Zweitens sind zahlreiche treffliche Gelehrte (darunter mehrere meiner nächsten Freunde) der Ansicht, daß man diese höchsten und wertvollsten Ergebnisse der Wissen schaft für sich behalten müsse und nicht dem »Volke« preisgeben dürfe, weil dieses Mißbrauch damit treiben könne – eine esoterische Auffassung, der ich nicht zustimmen kann und die schon von Lessing schlagend widerlegt worden ist; vollends heute, wo das Licht der Naturforschung in alle dunkeln Winkel leuchtet und vermöge ihrer praktischen Verwertung alle Volkskreise erhellt, halte ich es für ganz vergeblich, der Verbreitung naturphilosophischer Erkenntnis Schranken ziehen zu wollen. – Drittens endlich (und das ist das Wichtigste!) ist die große Mehrzahl der überzeugten Monisten durch äußere Gründe gezwungen, ihre wahre Weltanschauung zu verleugnen und demgemäß zu handeln. In den beiden größten und einflußreichsten deutschen Staaten, in Preußen und Bayern, ist die Reaktion auf dem Gebiete des höheren Geisteslebens[411] beständig im Steigen begriffen; die Unterrichtsministerien werden von dem orthodoxen Klerus beherrscht; Pfarrer, welche nur wenig von den befohlenen Glaubensformen abweichen, werden abgesetzt; Lehrer, welche die Entwicklungslehre in die Schule einführen wollen, werden ihrer Stellung beraubt. – Wer will von diesen armen ehrlichen Männern verlangen, daß sie ihre Lebensstellung dem Bekenntnis ihrer Weltanschauung opfern? Und was würde durch dieses Martyrium erreicht? Man kann diesen Gewissenszwang, der vielen tausend Trägern der Bildung und Gesittung auferlegt wird, und der in vieler Beziehung demoralisierend wirkt, auf das Tiefste bedauern; allein das läßt sich vorläufig nicht ändern!
Sehr zu beklagen ist es auch in dieser Beziehung, daß kürzlich der deutsche Kaiser in seinem vielbesprochenen Handschreiben an Admiral Hollmann (vom 15. Februar 1903) ein Glaubensbekenntnis abgelegt hat, welches weder mit seinen früheren wiederholten Äußerungen, noch mit dem hohen Standpunkte der Wissenschaft im Beginne des 20. Jahrhunderts in Einklang zu bringen ist. Bekanntlich hatte Wilhelm II. schon seit längerer Zeit die wichtigen Forschungen über »Bibel und Babel« mit besonderem Interesse verfolgt und mit Rücksicht auf dieselben die Freiheit der Forschung und Lehre auch auf dem Gebiete der Religionsgeschichte gebührend betont. Noch vor kurzem hatte er in der bekannten Rede in Görlitz liberale Ansichten darüber geäußert, welche ein volles Verständnis für die hohe Bedeutung der freien Entwicklung in jedem Zweige der Wissenschaft bekundeten. In vollem Gegensatze zu dieser oft ausgesprochenen zeitgemäßen Auffassung legt der Kaiser jetzt ein Glaubensbekenntnis ab, welches die vor tausend Jahren herrschenden, jetzt aber längst überwundenen Anschauungen, besonders in betreff der »Offenbarung« widerspiegelt.
Meine monistische Weltanschauung ist aus einem Gusse und verbindet einheitlich und widerspruchslos[412] die verschiedenen Hauptobjekte, die ich in den vier Teilen meiner »Welträtsel« als »Mensch, Seele, Welt und Gott« gegenüber gestellt habe. Indessen gebe ich gern zu, was viele Gegner hervorheben, und was ich selbst schon in meinem Vorwort scharf betont habe, daß in diesen vier Teilen »Studien von sehr ungleichem Werte zu einem Ganzen zusammengefügt sind«. Mit Bezug hierauf möchte ich noch folgende Erläuterungen über die verschiedene Begründung und Ausführung der vier Teile ganz besonders hervorheben.
Der erste, anthropologische Teil bildet die feste Grundlage und den gemeinsamen Ausgangspunkt für sämtliche Gebiete meiner monistischen Philosophie; hier bin ich im eigentlichen Sinne Fachmann und berufe mich darauf, daß ich schon 1866 (im siebenten Buch der »Generellen Morphologie«) »die Anthropologie als Teil der Zoologie« begründet habe. Daß der Mensch, als Organismus betrachtet, ein Säugetier ist, und daß er alle Merkmale besitzt, welche diese Tierklasse so auffällig von allen übrigen Klassen scheiden, das hat Linné schon 1735 in seinem grundlegenden System der Natur festgestellt, und das hat seither noch kein Naturforscher bestritten. Dieser Satz gilt ebenso für Goethe und Darwin, für Kant und Moses, wie für den Akka und Patagonier, für den Wedda und Australneger. Dieser Fundamentalsatz hat aber seine volle Bedeutung für die Philosophie erst innerhalb des letzten halben Jahrhunderts gewonnen, seitdem die vergleichende Anatomie und Physiologie die volle Übereinstimmung unserer Organisation mit den Primaten, die vergleichende Ontogenie und Phylogenie den gemeinsamen Ursprung mit diesen höchstentwickelten Säugetieren nachgewiesen hat. Ich muß ganz besonders betonen, daß diese feste zoologische Basis der »Welträtsel« von keinem einzigen meiner Gegner mit Erfolg angegriffen worden ist, und doch sollten hier vor allem die ernsten Versuche der Widerlegung einsetzen.
Der zweite, psychologische Teil hat dagegen die[413] heftigsten Angriffe zahlreicher Gegner hervorgerufen. Vor allen kann sich Paulsen nicht genug tun in Hohn und Spott über Lehrsätze, die er irrtümlich für meine persönlichen Phantasiegebilde ausgibt, während sie allgemein anerkannte Tatsachen der vergleichenden Physiologie sind. Der Berliner Metaphysiker offenbart hier eine erstaunliche Unwissenheit in dem großen und wichtigen Gebiete der Zellenlehre, der Protistenkunde, der Entwicklungsgeschichte der Gewebe und Organe, der Physiologie und Pathologie des Nervensystems usw. Deutlicher als irgendwo tritt in diesen kindischen Angriffen von Paulsen der bedauerliche Mangel an biologischen Kenntnissen hervor, den er mit den meisten seiner Kollegen teilt; und doch behaupten diese Herren für sich allein auf unseren Universitäten das Monopol der wahren »Phylosophie«. In der Tat ist diese nichts als eine dualistische Metaphysik, eine »Begriffsakrobatik«, die sich um die reichen psychologischen Ergebnisse der modernen Naturforschung nicht im mindesten kümmert, sondern mit gewandten Luftsprüngen und Equilibristenkünsten auf dem hochgespannten Drahtseil der »reinen Spekulation« umhertanzt. Wenn Paulsen sich vielfach den Anschein gibt, den Anforderungen der modernen Naturwissenschaft gerecht zu werden, so ist dies eben nur leerer Schein; eine täuschende Maske, unter welcher sich die dualistische Mystik um so sicherer einschleicht. Wenn ich im Gegensatze zu diesem herrschenden Dualismus die Psychologie als Teil der Physiologie betrachte, so stehe ich dabei auf den Schultern meines hochverehrten Lehrers Johannes Müller, der im sechsten Buche seiner klassischen Physiologie des Menschen diese Auffassung ebenso klar als naturgemäß vertritt. Wenn dagegen einzelne neuere Physiologen (- auf Grund einer falschen dualistischen Erkenntnistheorie! -) die Psychologie wieder von der Physiologie abtrennen wollen, so ist das ein bedauerlicher Rückschritt; folgerichtig müßten sie dann auch die Psychiatrie von der Medizin abtrennen und[414] die Behandlung der Geisteskranken nicht den naturkundigen Ärzten übertragen, sondern den unwissenden Schäfern und »Naturheilkünstlern«, oder noch besser den »Gesundbetern«, die in der »Metropole der Intelligenz« noch heute ihr Wesen treiben.
Der dritte, kosmologische Teil der »Welträtsel« ist viel anfechtbarer als die beiden ersten. Hier handelt es sich um die höchsten, allgemeinsten und schwierigsten Fragen der Naturphilosophie. Im Vordergrunde meiner Betrachtung steht hier die feste und unerschütterliche Überzeugung von der Einheit der Natur, von der allgemeinen Gültigkeit des Substanzgesetzes in allen Gebieten der organischen und anorganischen Natur – ebenso in der Psychologie wie in der Astronomie, in der Biogenie wie in der Geologie. Besonders betonen muß ich hierbei meinen Gegensatz zu Kant 2 und zu dem modernen, wiederaufgelebten Vitalismus. Zu welchen starken Absurditäten und unbegreiflichen Widersprüchen dieser letztere führt, kann man aus den bekannten Schriften des Kieler Botanikers Reinke sehen: »Die Welt als Tat« (1899) und »Einleitung in die theoretische Biologie« (1901). Durch seine Hypothese der »Dominanten« (- ein neues Wort für das alte Dogma der besonderen »Lebenskraft« -) schleicht sich wieder die Mystik in die Weltanschauung ein, der dualistische Aberglaube an Schöpfungen und andere Wunder. Wenn im Gegensatze hierzu mein Monismus als »Materialismus« verdächtigt wird, so ist das nur in einem gewissen Sinne richtig, nur insofern, als in meinem allgemeinen Substanzbegriffe stets Stoff und Kraft, Materie und Energie untrennbar verbunden sind. Ich kenne keine »tote und rohe Materie«, keine Substanz ohne Empfindung. Die einfachste chemische Erscheinung (z.B. die Wahlverwandtschaft) und das einfachste physikalische Phänomen (z.B. die Massenanziehung) sind nicht begreiflich ohne die Annahme, daß das Vermögen der Empfindung und Bewegung ebenso ein untrennbares Attribut der Substanz ist, wie die ausgedehnte und raumerfüllende Materie[415] (Masse und Äther). Wenn man aber im Sinne aufgeklärter Theologie »Gott« als die Summe aller Kräfte und Wirkungen betrachtet, so kann man auch behaupten, daß mein Monismus mit dem reinsten Monotheismus zusammenfällt.
Der vierte, theologische Teil meines Buches ist der weitaus schwächste und angreifbarste, und ich habe ihn nur deshalb den drei übrigen angeschlossen, weil ich die hohe Bedeutung des theoretischen Monismus auch für die wichtigsten Fragen der praktischen Philosophie andeuten wollte. Wenn meine einheitliche und naturgemäße Weltanschauung richtig ist, so muß sie auch zu einer zeitgemäßen Reform der Religion und Sittenlehre, mindestens zu einer natürlichen Begründung derselben hinführen. Aber auf diesen wie auf allen anderen Gebieten der angewandten Philosophie und des praktischen Lebens gehen naturgemäß die Ansichten auch der gebildeten Menschen weit auseinander, und die persönlichen Lebenserfahrungen führen viele, sonst übereinstimmende Denker zu den verschiedensten Schlüssen.
Was zunächst die Religion betrifft, so ist es eine offenkundige Unwahrheit, wenn viele meiner Gegner mich ohne weiteres als Feind derselben hinstellen. Es war mein vollkommener Ernst, wenn ich 1892 in meiner Altenburger Rede den »Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft« zu begründen versuchte; und ebenso war es meine volle Überzeugung, wenn ich im 18. Kapitel der »Welträtsel« »unsere monistische Religion«, und im 19. »unsere monistische Sittenlehre« auf dem Grunde unserer modernen Entwicklungslehre festzustellen versuchte. Der Unterschied dieser monistischen Religion und Ethik von allen anderen Formen derselben besteht nur darin, daß wir als festes Fundament derselben ausschließlich die reine Vernunft in Anspruch nehmen, die Weltanschauung auf Grund der Wissenschaft, der Erfahrung und des vernünftigen Glaubens (der wissenschaftlichen Hypothese). Im Gegensatze dazu stehen alle Religionsformen, welche[416] sich auf sogenannte »Offenbarungen« stützen, d.h. auf übernatürliche Erscheinungen, welche der wissenschaftlichen Erfahrung und der reinen Vernunft widersprechen, mithin dem weiten Phantasiegebiete der Dichtung angehören, oder dem Bereiche des unvernünftigen Glaubens, d.h. des »Aberglaubens«.
Das Christentum in dieser Beziehung zu betrachten – wenn auch nur vorübergehend – war unvermeidlich, wenn ich meinem Buche einen gerundeten Abschluß geben wollte; und so war ich denn gezwungen, im 17. Kapitel der »Welträtsel« eine allgemeine Übersicht über »den wachsenden Gegensatz zwischen moderner Naturerkenntnis und christlicher Weltanschauung« zu geben; ich mußte den neuen Glauben der Vernunft und den alten Glauben der Offenbarung gegenüberstellen. Wenn daraufhin viele meiner Gegner mich schlechthin als »Feind des Christentums« denunzieren, so entspricht das nicht der Wahrheit. Denn ich habe stets den wertvollen Kern seiner reinen Sittenlehren anerkannt, vor allem das ethische Grundgesetz oder die »goldene Regel«, das auch den Kern unserer monistischen Ethik bildet. Zwar war dasselbe nicht neu (wie ich im 19. Kapitel gezeigt habe); aber es bleibt das hohe Verdienst des Christentums, das Gebot der Menschenliebe und Selbstverleugnung mehr als alle anderen Religionen betont und zu einem der wichtigsten Kulturfaktoren erhoben zu haben. Im Laufe von fast zwei Jahrtausenden hat sich der ethische Wert des echten Christentums – trotz aller Verunstaltungen durch seine »Kirche« und deren Diener – so vielseitig fruchtbar bewährt und ist so eng mit den verschiedensten Einrichtungen des höheren Kulturlebens verwachsen, daß es in der Hauptsache deren Grundlage auch in der Zukunft bilden wird.
Anders ist der Wert des dogmatischen Christentums, welchem als Hauptpflicht der blinde Glaube an einen bunten orientalischen Sagenkreis gilt, an Wunder und Zaubermärchen und an Legenden von[417] übernatürlichen Erscheinungen, welche im Lichte der reinen Vernunft als unmöglich erscheinen. Dieses dogmatische Lehrgebäude ist im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts haltlos zusammengebrochen. Die scharfsinnige Kritik der Kirchengeschichte hat gelehrt, daß die Lehren des Alten und Neuen Testamentes auf Traditionen von sehr verschiedenem Alter und Werte beruhen. Die Archäologie des Orients hat nachgewiesen, daß ein großer Teil der Bibel von Babel stammt und daß der Monotheismus der Hebräer schon lange vor Moses in Babylon Wurzel hatte. Die kritischen Forschungen nach dem »Leben Jesu« haben uns überzeugt, daß diese herrliche Idealfigur des christlichen Trinitätsglaubens nicht der »Sohn Gottes«, sondern ein edler Mensch von höchster sittlicher Vollkommenheit war (- vorausgesetzt die historische Existenz seiner Person, die doch auch von kritischen Theologen bestritten wird! -). Die fortgeschrittene Kosmologie und Astronomie hat das geozentrische Himmelsbild des Altertums ebenso zerstört, wie die moderne Biologie das anthropozentrische Menschenbild des Christentums. Endlich hat uns die Entwicklungslehre bewiesen, daß das Menschengeschlecht weiter nichts ist, als ein spät aus Primatenahnen entstandener Zweig des Säugetierstammes, und daß die Seele der einzelnen Person ebensowenig unsterblich sein kann, wie die der anderen Wirbeltiere.
Dieser fundamentale Gegensatz der modernen Wissenschaft gegen den christlichen Wunderglauben ist nicht nur durch die unbefangenen Forschungen der verschiedensten historischen und philosophischen Autoritäten, zur Gewißheit geworden, sondern auch durch die kritischen Untersuchungen der bedeutendsten christlichen Theologen selbst; ich erinnere nur an die bahnbrechenden Deutschen David Strauß und Ludwig Feuerbach, an den Franzosen Ernst Renan und den Engländer Stewart Ross. Der letztere hatte 1896 unter dem Pseudonym Saladin eine besonders scharfe »kritische Untersuchung des jüdisch-christlichen[418] Religionsgebäudes auf Grund der Bibelforschung« gegeben. Daß ich mich in meinem 17., besonders hart angegriffenen Kapitel mehrfach auf diese Autorität bezogen habe, ist mir von meinen theologischen Gegnern zum allerschwersten Vorwurf gemacht worden. Wie weit dieser sachlich berechtigt ist, vermag ich nicht zu entscheiden, da die spezielle Theologie mir zu fern liegt. Ich kann nur entgegnen, daß erstens Saladin unzweifelhaft ein sehr vielseitig gebildeter Theologe ist, und daß andererseits seine unumwundene Kritik der Bibel, besonders der klare Nachweis unzähliger Irrtümer und Widersprüche in diesem »Wort Gottes«, dem unbefangenen gesunden Menschenverstand ohne weiteres einleuchtet. In vielem einzelnen hat gewiß Saladin (- zu dem ich keinerlei persönliche Beziehungen habe -) ebenso geirrt, wie alle anderen Bibelausleger. Auch muß ich vielfach den gehässigen Ton seiner scharfen Angriffe auf »Jehovas Gesammelte Werke« mißbilligen. Wenn aber jetzt evangelische und katholische Theologen diesen englischen Kollegen in der heftigsten Weise angreifen und mit den derbsten Schimpfworten beehren, so dürften sie daran zu erinnern sein, daß sie unter sich vielfach gegenseitig in gleicher Weise verfahren. Von demselben Ton und Wert sind die Bannflüche, welche der römische Papst gegen alle Andersgläubigen schleudert, und die Verdammungsurteile, mit denen die orthodoxen Häupter der evangelischen Synoden die liberalen Theologen des Protestantenvereins belegen.
Unzweifelhaft besitzen viele Sagen und Legenden der »Biblischen Geschichte« (- nicht alle! -) einen hohen ethischen und namentlich pädagogischen Wert, ebenso wie viele Mythen und Erzählungen anderer Religionen, und wie diejenigen des klassischen Altertums. Auch sind ihre Phantasiegebilde von höchster Bedeutung für alle Zweige der Kunst, der Dichtkunst und der Tonkunst ebenso wie der bildenden Kunst. Wir verdanken ihnen eine Fülle der herrlichsten Schöpfungen des Menschengeistes; und[419] für unser Gemüt ist diese Idealwelt eine unerschöpfliche Quelle der Erbauung und des Trostes inmitten unseres unvollkommenen realen Lebens. Aber dieselben Idealgebilde bergen in sich die höchsten Gefahren, wenn sie als reale Wahrheiten gepredigt werden, von deren Anerkennung Seligkeit oder Verdammnis abhängt; und wenn sie zur Grundlage oder gar zur Voraussetzung der Wissenschaft gemacht werden. Dann gleitet die letztere unaufhaltsam auf der schiefen Ebene der Mystik in die Arme des Aberglaubens; sie wird zur Todfeindin der reinen Vernunft.
Vollends verderblich werden diese Idealgebilde der Dichtung, wenn sie als übernatürliche »Offenbarungen« gedeutet und von der praktischen Vernunft zu politischen und weltlichen Zwecken gemißbraucht werden. Dann entwickelt sich jenes verderbliche Übergewicht der geistlichen über die weltliche Macht, jene unzähmbare Herrschsucht der Kirche, welche den Staat lediglich zu ihren egoistischen Zwecken ausbeutet. Je höher und anspruchsvoller sich die einheitliche Organisation der Kirche erhebt, desto gefährlicher wird sie für den von ihr bedrohten Kulturstaat. Das lehrt vor allem die Geschichte des Papismus oder Ultramontanismus, der großartigsten und erfolgreichsten Hierarchie in der gesamten Kulturgeschichte.
Der Hinweis auf diese größte Gefahr der modernen Kultur erscheint gerade jetzt geboten, wo im deutschen Reichstage das römische Zentrum den Ausschlag gibt, und wo diese politische Partei den Deckmantel der Religion benutzt, um jede freie Entwicklung der modernen Kultur zu hemmen und den denkenden Geist in Fesseln zu schlagen. Täglich wird dieser Kulturkampf gefahrdrohender. Die leitenden Staatsmänner der beiden größten deutschen Staaten, ebenso des überwiegend protestantischen Preußens, wie des katholischen Bayerns, weichen in unbegreiflicher Verblendung und Feigheit vor den maßlos frechen Angriffen der ultramontanen[420] Kirche zurück, und der jammervolle Reichstag fördert diese Niederlagen. Während in dem republikanischen Frankreich die einsichtige und energische Regierung den römischen Klerus zum Gehorsam gegen die Staatsgesetze zwingt und den vatikanischen Todfeind der modernen Kultur mit fester Hand niederhält, geschieht in dem monarchischen Deutschland das Gegenteil. Der deutsche Reichstag, der sich mit vielen Debatten (z.B. über die »Lex Heinze«) vor der ganzen gebildeten Welt lächerlich gemacht hat, fordert beharrlich vom Bundesrat die Zulassung der Jesuiten, die selbst in vielen katholischen Staaten wegen ihres gemeingefährlichen Treibens immer wieder ausgewiesen werden. Dagegen werden die Altkatholiken, welche die ursprüngliche katholische Religion in ihrer Reinheit wieder herstellen wollen, und deren Förderung im eigensten Interesse des Staates läge, von diesem im Stich gelassen. Die Reichsregierung läßt sich von den Schmeichelworten des römischen Papstes und seiner Bischöfe umgarnen und macht ihren gefährlichsten Feinden die größten Konzessionen. Dieser bedauerlichen Sachlage gegenüber muß der energische Kampf gegen den Ultramontanismus allen Vaterlandsfreunden zur sittlichen Pflicht gemacht werden. Denn dieser mächtige Feind der höheren Geisteskultur ist viel gefährlicher als die Sozialdemokratie. Das hat einleuchtend Graf von Hoensbroech gezeigt, der in seinem großen Werk »Das Papsttum in seiner sozialkulturellen Wirksamkeit« (Leipzig 1901) auf Grund der sichersten historischen Quellen den ganzen ungeheuren Trug der römischen Hierarchie entlarvt hat. Wohin dieselbe unsere Sittlichkeit führt, zeigt die bekannte Liguorimoral (vergl. Graßmann, sowie die Wiesbadener Vorträge von Friedrich Nippold: »Prinz Max von Sachsen und Prälat Keller als Verteidiger der Liguorischen Moral«).
Die mächtigste Waffe in diesem neuen Kulturkampfe bleibt die Aufklärung und Bildung des Volkes; kein Weg führt sicherer zu derselben, als derjenige[421] der unbefangenen Naturerkenntnis, und vor allem ihrer jüngsten herrlichen Frucht, der Entwicklungslehre. Wenn in diesem heißen Kampfe der laute Ruf erschallt: »Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter«, – so können wir von unserem monistischen Standpunkt aus darunter nur die Wahrung der Vernunft gegenüber dem Aberglauben verstehen. Unser Monismus ist im Sinne von Goethe zugleich der reinste Monotheismus. In diesem Sinne mag auch diese neue Ausgabe der Welträtsel – als ein ehrliches und offenes »Glaubensbekenntnis der reinen Vernunft« – dazu dienen, in weiten Kreisen die veredelnde Bildung des Volkes zu heben und den Kultus unserer idealen Gottheit zu fördern, der Dreieinigkeit des Wahren, Guten und Schönen![422]
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Die Welträtsel
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