2. Der Einfluss der bewussten Vorstellung

[154] Die bewusste Vorstellung einer bestimmten Wirkung kann oft ohne den bewussten Willen dazu den unbewussten Willen zum Setzen der Mittel hervorrufen, so dass dann die Verwirklichung der bewussten Vorstellung unwillkürlich erscheint. Die Physiologie, welche diese Thatsachen berücksichtigen muss, aber den Begriff des unbewussten Willens nicht kennt, giebt sich zu der ungereimten Behauptung veranlasst, dass die blosse Vorstellung ohne Willen Ursache eines äusseren Vorganges werden könne. Wenn man aber dies überlegt, so findet man, dass hierbei in der That nichts gesagt ist, als dass der Begriff »Vorstellung« in diesen Fällen unvermerkt um den Begriff »unbewusster Wille« erweitert sei, wie dies Cap. A. IV. S. 106-107 erörtert ist. Ich thue also nichts, als dass ich diese unvermerkte Erweiterung des Begriffes Vorstellung beim rechten Namen nenne, und als selbstständiges Glied im Process hinstelle, da es doch unstatthaft erscheinen muss, in einen schon fixirten Begriff die Merkmale eines anderen ebenfalls fixirten Begriffes noch zu den seinigen dazu hineinzuschachteln.

In erster Reihe stehen alle Geberden und Mienen im weitesten Sinne genommen. Hier liegt in der Vorstellung, welche die Miene hervorruft, nicht einmal die Wirkung, geschweige denn die Mittel dazu, eingeschlossen, sondern die Geberden erscheinen durchaus als Reflexwirkungen, so nothwendig und übereinstimmend in allen Individuen erfolgen sie. Wie zweckmässig sie sind, liegt wohl auf der Hand, denn ohne die Nothwendigkeit und Allgemeinheit der Geberden würde Niemand sie verstehen, und ohne vorhergehende Verständigung durch Geberden würde nie eine Wortsprache möglich geworden sein, und würden die stummen Thiere jedes Verständigungsmittels, selbst die stimmbegabten des bei Weitem grössten Theiles ihrer Sprache entbehren. Aber auch bei Menschen halten wir uns jetzt noch, wo wir der Rede misstrauen, an den Ausdruck des Redenden. Ich überhebe mich einer Aufzählung der einschlagenden Erscheinungen, die überall nachzulesen sind.

Die zweite Gruppe der Erscheinungen bilden die Nachahmungsbewegungen, die offenbar ebenfalls Reflexwirkungen sind. – Wenn wir einen Redner heftig declamiren sehen, oder wenn wir ein Duell,[154] ein Fechten, einen kühnen Sprung, einen Tanzenden mit ansehen, und bei der Sache lebhaft betheiligt sind, so machen wir ähnliche Bewegungen mit, wie es uns gerade unsere Positur erlaubt, oder fühlen doch den Drang zu ähnlichen Bewegungen, wenn wir ihn auch unterdrücken. Ebenso singt der natürliche Mensch gern die Melodie mit, die er spielen hört Wenn man Jemand gähnen sieht, so ist es sehr schwer, das Gähnen selbst zu unterdrücken, und auch umfangreichere Krämpfe, wie Veitstanz, Epilepsie, wirken oft durch den blossen Anblick auf reizbare Personen ansteckend, ja sie können zu vollständigen Sekten- und Stammes-Epidemien werden. Da in allen diesen Fällen nicht materieller Einfluss die Vermittelung übernimmt, so kann es nur die Vorstellung dieser Bewegungen sein, welche durch den Anblick so lebhaft erregt wird, dass sie den unbewussten Willen zur Ausführung erweckt. Indem dieser Process innerhalb eines Nervencentrums vorgeht, auch wohl der letzte Ausführungswille in diesem Centrum bewusst wird, gehört er unter den Begriff Reflexbewegung.

Die nächste Gruppe enthält den Einfluss bewusster Vorstellung auf vegetative Functionen. Die Einflüsse der verschiedenartigsten Gemüthsbewegungen auf Absonderungsfunctionen sind bekannt (z.B. Aerger und Zorn auf Galle und Milch, Schreck auf Harn und Stuhlgang, wollüstige Bilder auf den Samen u.s.w.). Die Vorstellung, Arzneimittel (z.B. Laxantia) genommen zu haben, wirkt oft ebenso wie die Arzneimittel selbst; die Einbildung, vergiftet zu sein, kann die Symptome der Vergiftung wirklich hervorrufen; viele christliche Schwärmer haben an den Tagen der Märtyrer die Schmerzen derselben wirklich gefühlt, wie ja auch Hypochondristen die Krankheiten wirklich fühlen, welche zu haben sie sich vorstellen, und wie junge Mediciner bisweilen alle möglichen Krankheiten zu haben glauben, von denen sie hören (namentlich wird dies in auffallendem Maasse von einem Schüler Boerhave's erzählt, der deshalb auch das Studium verlassen musste). Das sicherste Mittel, von einer ansteckenden Krankheit befallen zu werden, ist, wenn man sich vor ihr fürchtet während der Arzt auf einer solchen Station selten davon befallen wird. Die lebhafte Furcht und Vorstellung der Krankheit kann allein zum Entstehen derselben ohne jede Ansteckung genügen besonders wenn sie durch den Schreck potenzirt wird, in Gefahr gerathen zu sein.A42 Durch das ganze Mittelalter hindurch ziehen sich die Berichte von Wundmalen und Blutungen an ascetischen Schwärmerinnen, und wir haben keine Ursache, diesen Nachrichten Glauben[155] zu versagen, wenn deutsche, belgische und italienische Aerzte dieses Jahrhunderts das freiwillige Bluten zu gewissen Zeiten als Augenzeugen bestätigen.11 Warum sollen auch nicht Blutgefässe, wenn sie das Erröthen gestatten und gelegentlich blutigen Schweiss entstehen lassen, sich soweit ausdehnen, dass Blutung durch die Haut entstehe?A43 Aehnliche Fälle kommen auch im profanen Leben vor. Ennemoser berichtet eine als völlig beglaubigt bezeichnete Geschichte, wo die Streiche eines zur Spiessruthenstrafe verurtheilten Soldaten am Leibe seiner Schwester sich durch Schmerzen und äussere Hautzeichen gezeigt haben sollen.A45 Das vielbezweifelte Versehen der Schwangeren gehört ebenfalls hierher. Die meisten Physiologen verwerfen ohne Weiteres die Thatsachen, weil sie sie nicht erklären können; Burdach, Baer (der ein Beispiel von seiner Schwester erzählt), Budge, Bergmann, Hagen (letztere Beide in Wagner's Handwörterbuch) erkennen die Thatsachen durchaus an, Valentin stellt wenigstens ihre Möglichkeit im Allgemeinen nicht in Abrede, J. Müller giebt das Versehen der Schwangeren zu, insoweit es nur Hemmungsbildungen hervorbringen soll, aber nicht insofern es Veränderungen auf bestimmten Theilen des Körpers hervorrufen soll. Nun ist aber einestheils fast jede Hemmungsbildung eine bloss partielle und andererseits haben wir so viel Beispiele sowohl von Vererbung ganz partieller Abzeichen, der Muttermäler, als auch von ganz partiellen Veränderungen am eigenen Körper (wie eingebildete Wirkung von Giften oder Arzneien, Wundmale der Stigmatisirten), dass kein Grund vorliegt, an solchen ganz partiellen Einwirkungen der Mutterseele auf die Fötusseele zu zweifeln, welche letztere ja noch ganz in das organische Bilden versenkt ist. Indem ich so die Thatsache vom Versehen der Schwangeren anerkenne, bezweifle ich keineswegs, dass neun Zehntel derartiger Erzählungen Unsinn sind, aber streng genommen wären ganz wenige beglaubigte Fälle genügend.

An die Entstehung von Vergiftungssymptomen nach eingebildeter Vergiftung und Arznei-Wirkung, ohne sie genommen zu haben, schliessen sich eine grosse Zahl der sympathetischen oder Wundercuren an.A44 Wie dort die Vorstellung der Wirkung den unbewussten Willen zum Setzen der Mittel und dadurch die Wirkung selbst hervorruft,[156] ebenso auch hier. Das Eigenthümliche daran ist die Frage, auf welche Art durch die Vorstellung der Wirkung das unbewusste Wollen der Mittel bewirkt werde. Das bewusste Wollen der Wirkung scheint nicht wesentlich, denn beim Versehen der Schwangeren und bei dem Eintreten der Wirkungen, die man sogar fürchtet, kann doch der bewusste Wille nur dagegen und nicht dafür sein, und dennoch tritt der unbewusste Wille und die Wirkung ein. Dagegen ist ein anderes Moment unentbehrlich bei demjenigen Theil der Erscheinungen, die vom eigenen Willen des Individuums ausgehen, und nicht (wie bei Mutter und Fötus) durch einen fremden Willen magisch hervorgerufen werden, nämlich der Glaube an das Eintreten der Wirkung; denn wie Paracelsus wunderschön sagt: »Der Glaube ist's, der den Willen beschleusst.« Wo deshalb der bewusste Wille mit dem Glauben an seine eigene Macht des Widerstandes opponirt, da ruft dieser Glaube einen unbewussten Willen hervor, welcher die Wirkung der ersten Vorstellung verhindert. Es kommt dabei nur darauf an, welcher Glaube stärker ist, der an das Eintreten der Wirkung, oder der an die eigene Widerstandskraft, je nachdem neigt sich auch der unbewusste Wille auf die eine oder die andere Seite. Die Kunst bei solchen Kuren ist also nur die, den Glauben an das Gelingen einzuflössen, und weil die Menschen diesen Zusammenhang nicht kennen, auch der daraus hervorgehende Glaube vielleicht zu schwach zur Wirkung wäre, muss der Aberglauben den Glauben schaffen und dazu dient allerlei Hocus Pocus. Vom unbewussten Willen gilt buchstäblich das Wort: »Je mehr Willen, je mehr Macht« und das ist der Schlüssel zur Magie.[157]

A42

S. 155 Z. 3 v. u. Maudsley sagt in seiner »Phys. u. Path. der Seele« (deutsch v. Böhm) S. 117: »Die Vorstellung eines bevorstehenden Brechactes bei Ueblichkeitsgefühl wird sicherlich das Eintreten des Brechens beschleunigen. Die Vorstellung eines nervösen Mannes, dass er den Coïtus nicht ausführen könne, macht ihn in der That oft unfähig dazu, und in den Philosophical Transactions ist ein sehr merkwürdiger Fall von einem Mann erwähnt, der für eine Zeit lang seine Herzbewegungen zum Stillstand bringen konnte.« S. 118: »Es giebt Leute, die durch lebhafte Vorstellung von Schauder oder von einem auf ihrer Haut kriechenden Thiere eine Gänsehaut bekommen.« S. 123: »Die Vorstellung von einem Gefühl von Jucken an einer bestimmten Körperstelle verursacht das Jucken selbst, und die lebhafte Vorstellung, dass ein Substanzverlust durch eine Operation gehoben werden wird, beeinflusst zuweilen die organische Thätigkeit des betreffenden Theiles in einem solchen Grade, dass die spontane Heilung eintritt.« S. 118: »Jede Stunde unsres täglichen Lebenslaufes hat Beispiele genug von der Wirkung von Vorstellungen auf unsre willkürlichen Muskeln aufzuweisen. Wenige nur von den gewöhnlichen Tagesverrichtungen versetzen den Willen« (d.h. den bewussten Willen) »in Thätigkeit; wenn sie nicht sensumotorisch« (d.h. als Reflex auf Sinneswahrnehmungen) »erfolgen, so werden sie durch Vorstellungen ausgelöst.« – Recht deutlich offenbart sich auch bei solchen Personen, die im wachen Zustande nicht nervös genug sind, um entschiedene Erfahrungen in dieser Hinsicht an sich zu sammeln, der unbewusste Einfluss der Phantasie im Traume, wo z.B. die Traumvorstellung, an bestimmten Körperstellen verletzt oder verwundet zu werden, deutliche locale Schmerzempfindung hervorrufen kann, die beim Erwachen verschwindet.

* Noch entschiedener und augenfälliger wird der Einfluss der Vorstellung durch die Suggestion bei Hypnotisirten bewiesen (vgl. zur bequemen Uebersicht über dies Erscheinungsgebiet die Schrift von Dr. med. Albert Moll: »Der Hypnotismus« 2. Aufl. Berlin 1890). Jede Art von halbseitiger oder systematisirter Lähmung ist hier durch die blosse Zufuhr der Vorstellung einer solchen nach Belieben schon während der Hypnose oder nach dem Erwachen herbeizuführen, desgleichen jede Art von Neuralgie. Die Lähmungen können sich auch auf Sinneswerkzeuge erstrecken, also posthypnotische Blindheit oder Taubheit, oder Geruchlosigkeit etc. hervorbringen, oder derart systematisirt sein, dass sie nur die Gesichts-, Gehörs- und Tastwahrnehmungen von bestimmten Gegenständen oder Personen umfassen. Erröthen, Erblassen, Schweissausbruch, Uebelkeit, Verlangsamung des Herzschlages, localisirte und systematisirter Krämpfe sind auf dieselbe Weise zu Erzielen. Andrerseits sind alle solche Krankheitszustände, die nicht auf anatomischen Veränderungen, sondern auf hysterischer Autosuggestion beruhen, durch posthypnotische Suggestion zu beseitigen, insofern der Einfluss des psychischen Rapports mit dem Experimentator stärker ist als der Einfluss der hysterischen Einbildung oder Autosuggestion, und für so lange, bis die letztere wieder die Oberhand gewinnt über die erstere. Suggerirbare Individuen sind auch im wachen Zustande für gewisse Suggestionen empfänglich, besonders von Seiten solcher Personen, von denen sie öfters hypnotisirt worden sind.

11

Siehe Salzburger Medicinische Zeitung von 1814. I. 145-158 u. II. 17-26: »Nachricht von einer ungewöhnlichen Erscheinung bei einer mehrjährigen Kranken« vom Medicinalrath und Professor v. Druffel zu Münster. Ferner: »Louise Lateau. Sa vie, ses exstases, ses stigmates.« Etude médicale par le Dr. F. Lefebvre, professeur de pathalogie générale et de thérapeutique à Louvain. Louvain, Ch. Peters. 1870.

A43

S. 156 Z. 6. Das Grosshirn als Organ der Willkür hat allerdings keinen unmittelbaren Einfluss auf die capillaren Blutgefässe, wohl aber kann von untergeordneten Nervencentren ein solcher Einfluss ausgehen, und das Grosshirn kann durch die in ihm sich regenden Interessen, Wünsche und Erwartungen den betreffenden untergeordneten Centren die nöthigen Impulse geben, um auf eine bestimmte Gruppe von capillaren Blutgefässen verengernd oder erweiternd zu wirken. Es ist der Medicin bekannt, dass es einen Grad der Hautreizbarkeit giebt, bei welchem die Haut auf jeden Reiz reflectorisch mit nesselartigem Auflaufen an der Reizstelle reagirt, z.B. die mit dem Fingernagel gezeichneten Buchstaben als Auflauf hervortreten lässt; die spiritistische Literatur ist reich an Berichten, nach welchen derartige Nesselaufläufe in Form von Anfangsbuchstaben oder kurzen Worten ohne äusseren Reiz durch Anregung der unbewussten Phantasie hervortreten und die vorherrschende Interessenrichtung bezeichnen oder auch auf Fragen Antwort geben. Die neuerlichen Versuche französischer Aerzte haben festgestellt, dass man Hypnotisirten befehlen kann, eine bestimmte Zeit nach dem Erwachen an bestimmten Körperstellen Hautröthung, Blasenziehen, capillaren Bluterguss in das Unterhautgewebe, Brandwunden, Nasenbluten, Hautblutungen u. s. w., hervortreten zu lassen, und dass man auf diese. Weise sehr wohl die Phänomene der Stigmatisation künstlich erzielen kann. (Vgl. Moll's »Hypnotismus« 1. Aufl. S. 79-85 und v. Kraft-Ebing »Eine experimentelle Studie auf dem Gebiete des Hypnotismus.« Stuttgart, Enke, 1888). Was bei dem künstlichen Somnambulismus die posthypnotische Suggestion des Experimentators oder Magnetiseurs vermag, das vermag bei spontanen Somnambulen die Autosuggestion des lebhaften Wunsches und der gläubigen Erwartung des Wunderzeichens. Der spontane Somnambulismus solcher Individuen kann sich übrigens ungeübten Beobachtern leicht entziehen, weil er nicht gerade als offener Somnambulismus aufzutreten braucht, sondern lavrirte Gestalten annehmen kann, die als Uebergangszustände oder Mischformen zwischen normalem und hypnotischem Zustand, zwischen wachem und somnambulem Bewusstsein aufzufassen sind.

Uebrigens ist nach meinen genaueren Informationen bisher kein Fall constatirt, wo die Erscheinungen bei einer Stigmatisirten von vorurtheilsfreien (d.h. katholischem Priestereinfluss unzugänglichen) und auf der Höhe ihrer Wissenschaft stehenden Aerzten mit allen Vorsichtsmaassregeln exacter Beobachtung geprüft und als spontane Blutung bestätigt worden wären. Dagegen sind mehrere Fälle veröffentlicht, wo eine solche Untersuchung den Gegenstand religiösen Aberglaubens als Resultat einer Täuschung constatirt hat (vgl. »Deutsche Klinik« 1875 Nr. 1-3: »Louise Lateau's drei Vorgängerinnen in Westphalen« vom Geh. San.-Rath Dr. Brück). Es ist dabei keineswegs nöthig, an Betrug im gewöhnlichen Sinne zu denken, obwohl auch dessen Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist. Die Personen, von welchen derartige Blutungen berichtet werden, sind fast ausnahmslos hysterische Frauenzimmer mit tief zerrüttetem Nervensystem und mehr oder minder gestörter Gemüthsverfassung, die von perversen Trieben beherrscht werden und in Betreff der moralischen Bedeutung ihrer Handlungen nichts weniger als zurechnungsfähig genannt werden können. Die instinctive List und Verstellungssucht des weiblichen Charakters, welche bei solchen Individuen meist schon vor ihrer Erkrankung abnorm entwickelt ist, wendet sich dann im Zustande der Hysterie auf scheinbar ganz sinnlose Ziele, und bietet oft einen erstaunlichen Scharfsinn auf, um selbst die Nächststehenden in völlig zweckloser Weise zu täuschen. Es ist sehr gewöhnlich, dass die natürliche weibliche Eitelkeit sich in solchen Fällen auf den Krankheitszustand selbst wirft, um durch die Ungewöhnlichkeit seiner Erscheinungen Interesse zu erwecken, und nicht selten vereinigt sich hiermit der perverse Trieb der Selbstbeschädigung und physischen Selbstquälerei, um wollüstig in der Einbildung eines auferlegten Martyriums zu schwärmen und zu schwelgen. Selbst die ernsteste und ruhigste Umgebung ist in der Regel solcher hysterischen Verrücktheit gegenüber ziemlich ohnmächtig; man mag sich denken, wie leicht eine auf die Neigungen der Kranken eingehende Umgebung dieselbe bestärken und zu wirklichen fixen Ideen verhärten kann. Obenein findet sich in einer Familie, aus der solche Kranke entspringt, gewöhnlich eine erbliche Disposition, die in geringerem Grade auch in anderen Familienmitgliedern zum Vorschein kommt; giebt sich dann erst eine Mutter oder Schwester zur Bewunderung und Hätschelung der Verkehrtheiten der Kranken her, so befestigt sie diese nicht bloss in ihren Wahnideen, sondern leistet der Realisirung ihrer hysterischen Neigungen wohl gar Vorschub, d.h. gelangt dazu, Mitschuldige eventueller Täuschungen zu werden. Da nun das Irrsein beim weiblichen Geschlecht, sowohl das wirkliche wie das hysterische Irrsein, vorzugsweise nach zwei Richtungen gravitirt, nach der geschlechtlichen oder nach der religiösen (oder nach beiden zugleich), so liegt es nahe, dass nichts mehr geeignet sein muss, solche perversen Neigungen zu bestärken und in bestimmte Bahnen zu lenken, als eine religiöse Exaltation, und speciell die von der katholischen Kirche künstlich genährte Verquickung von geschlechtlicher Erregung, Grausamkeitswollust und religiöser Extase beim glühenden Versenken der Phantasie in die Martern des himmlischen Bräutigams. Kommt dann noch der Pfaffe hinzu, der die Unglückliche in ihrem Wahn unterstützt und wohl gar die physischen Selbstbeschädigungen, in welche die geistige Marterschwelgerei im Zustande der Ueberspannung explodirt, für symbolische Zeichen der göttlichen Gnade erklärt, dann glaubt die Kranke willig genug, durch öfteres Hervorrufen dieser symbolischen Merkmale einem unmittelbaren göttlichen Befehl Folge zu leisten, und kann sehr leicht trotz ihrer objectiven Betrügerei die feste subjective Ueberzeugung haben, ein ausgewähltes Werkzeug der göttlichen Gnade zu sein, wenn sie die religiösen Wirkungen sieht, welche sie auf die herzuströmenden Gläubigen ausübt. Ueberall, wo Pfaffen dahinter stecken, kann man von vornherein als wahrscheinlich annehmen, dass dies der Zusammenhang der Sache ist, und der Thatbestand einer objectiven Täuschung wird zur Gewissheit, wenn neben der Stigmatisation noch andere Erscheinungen berichtet werden, welche den Gesetzen des organischen Lebens widersprechen (z.B. die jahrelange Nahrungsenthaltung im wachen Zustande). Aber nicht diese Unglücklichen gehören als Betrügerinnen in's Zuchthaus, wohin mehrere von ihnen gesperrt worden sind, sondern die Pfaffen, deren schamloser Herrschgier selbst die krankhafte Umnachtung des menschlichen Geistes als ein willkommenes Mittel gilt, um die von ihnen künstlich verdummten Massen desto sicherer zu bethören.

A45

S. 156 Z. 10. Ein solcher Fall setzt ein Zusammentreffen voraus von (bewusster oder unbewusster) Telepathie (oder Gefühlsübertragung ohne Sinnesvermittelung zwischen zwei entfernten Personen) und von Autosuggestion. Wem auch nur eine dieser beiden Erscheinungen unbekannt ist, muss natürlich solchen Bericht von vornherein für unglaubwürdig halten. Beide Arten von Erscheinungen sind aber durch eine Menge hinreichend beglaubigter Fälle sichergestellt. (Vgl. »Der Spiritismus« S. 61-74, 78-82.)

A44

S. 156 Z. 2 v. u. Viele Kuren sind nur vermeintlich sympathetisch, insofern Mittel dabei angewandt werden, deren medicinische Wirkung entweder bloss den Betheiligten oder auch dem heutigen Stande der Medicin nicht bekannt ist. Solche mitwirkenden Ursachen sind bei den sympathetischen Kuren durch blosses Besprechen ausgeschlossen. * Solches »Besprechen« kann theils auf Suggestion beruhen, theils auf Einflüssen des magnetischen Nervenstroms, theils auf einer Verbindung beider. Die Suggestion wirkt am meisten auf leicht hypnotisirbare Individuen, wird durch deren körperliche Schwäche, hilfsbedürftige Stimmung und gläubige Erwartung erleichtert und hängt wesentlich von der imponirenden Haltung und dem vertrauenerweckenden Benehmen des Suggerirenden ab. Die Suggestion kann eine solche durch Worte sein (gütliches Zureden, vertrauenerweckender Zuspruch, nachdrückliche Versicherung, wiederholter Befehl, Losbeten von Krankheiten, Beschwörung, Teufelaustreibung) oder eine durch blosse Gedankenübertragung und wortlosen Willenseinfluss, für deren Wirksamkeit natürlich eine weit grössere Empfänglichkeit und Sensitivität beim Aufnehmenden und ein viel engerer seelischer Rapport zwischen dem Aufnehmenden und dem Suggerirenden erforderlich ist als bei der Verbalsuggestion. Beide Arten von Suggestion gelingen leichter, wenn der Aufnehmende sich im hypnotischen, als wenn derselbe sich im wachen Zustande befindet; die Suggestion durch blosse Gedanken und wortlose Willensconcentration pflegt aber selbst bei Hypnotisirten nur dann wirksam zu sein, wenn die Art der Herbeiführung der Hypnose einen besonders engen psychischen Rapport begünstigt (also nicht durch äussere Agentien, sondern durch magnetischen oder psychischen Einfluss des Experimentators erfolgt ist), oder schon häufig durch denselben Experimentator wiederholt ist.

Der magnetische Nervenstrom äussert eine locale Wirksamkeit auf peripherische Nerven und wirkt ähnlich wie die Electricität, d.h. beruhigend auf sensible, erregend auf motorische und nutritive Nerven, also einerseits schmerzstillend und krampfstillend, andererseits kräftigend für die Ernährung der Gewebe, unterstützend bei localen Heilungsvorgängen und beihelfend zur Ueberwindung unvollkommener Lähmungen (Paresen). Die stärkste locale Wirkung des magnetischen Nervenstroms in einem andern Organismus ist die Katalepsie eines Gliedes oder einer beschränkten Gruppe von Muskeln; dieselbe entzieht den betreffenden Körpertheil zwar der Herrschaft des Willkürorgans, aber nicht dem Einfluss der niederen Nervencentra (wie z.B. deren Reflexactionen) und bereitet dadurch sowohl dem Walten der spontanen Naturheilkraft als auch den Einflüssen der Suggestion den günstigsten Boden. Daraus wird es erklärlich, dass die Cooperation von Suggestion und magnetischem Nervenstrom Wirkungen erzielt, die jedem einzelnen von ihnen unerreichbar sind. Das wohl beglaubigte Stillen heftiger Blutungen (vermittelst Contraction der Adern und Capillaren) und die Beseitigung des Schmerzes von Brandwunden dürften wohl auf einem solchen Zusammenwirken beruhen, indem die betreffenden Körpertheile kataleptisch und anästhetisch gemacht und dem ungehemmten Einfluss der mit Suggestionen imprägnirten niederen Nervencentra ausgeliefert werden. Auch das Besprechen des Schlangenbisses durch indische Fakirs scheint nach den näheren Einzelheiten der Procedur eben dahin zu gehören. – Darüber hinaus ist aber noch der Einfluss des Willens ohne Vermittelung des Wortes oder des magnetischen Nervenstroms wenigstens ohne Handannäherung, Anhauchung und Blick zu erwähnen; dieselbe ist als Mentalsuggestion in der Willenssphäre zu bezeichnen und ist das Analogen zu der bereits oben erwähnten Mentalsuggestion in der Vorstellungssphäre. Sie setzt entweder ungewöhnliche Willenskraft und Willensconcentration des Uebertragenden oder ungewöhnliche Empfänglichkeit des Aufnehmenden voraus. Diese Willensaction ist auch in den vorhergehenden Formen das eigentlich wirksame Agens, das nur in jenen seine natürliche Uebermittelung findet; dass sie auch ohne jene Vermittelungen wirksam werden kann, liefert den Beweis dafür. Die Bezeichnung als »magische Wirkung« sollte man streng genommen auf diese letzte reine Form beschränken.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 154-158.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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