b. Methode der Untersuchung und Art der Darstellung

[5] Man kann drei Hauptmethoden in der forschenden Wissenschaft unterscheiden, die dialektische (Hegel'sche), die deducirende (von oben nach unten), und die inducirende (von unten nach oben). Die dialektische Methode muss ich, ohne mich hier auf Erwägungen für oder wider einlassen zu können,1 A1 schon rein um deswillen ausschliessen, weil sie, wenigstens in ihrer bisherigen Gestalt, der Gemeinverständlichkeit entbehrt, auf welche es hier abgesehen ist; die Vertreter derselben, welche die relative Wahrheit an Allem ja mehr als jeder Andere anzuerkennen verpflichtet sind, werden hoffentlich auch dieses Werk seines naturwissenschaftlichen Charakters wegen nicht verdammen, zumal es ihren Tendenzen durch einen gewissen positiven Gegensatz gegen gemeinschaftiche Gegner und durch einen propädeutischen Werth für Nichtphilosophen in vieler Hinsicht entgegen kommen dürfte. Wir haben also noch das Verhältniss der deductiven oder herabsteigenden, und der inductiven oder hinaufsteigenden Methode zu betrachten. –

Der Mensch kommt zur Wissenschaft, indem er die Summe der ihn umgebenden Erscheinungen zu begreifen und sich zu erklären versucht. Die Erscheinungen sind Wirkungen, zu denen er die Ursachen wissen will. Da verschiedene Ursachen die gleiche Wirkung haben können (z.B. Reibung, galvanischer Strom, und chemischer[5] Process die Wärme), kann auch Eine Wirkung verschiedene Ursachen haben; die zu einer Wirkung angenommene Ursache ist mithin nur eine Hypothese, die keineswegs Gewissheit, sondern nur eine sich anderweitig bestimmende Wahrscheinlichkeit haben kann.

Es sei die Wahrscheinlichkeit, dass U1 die Ursache der Erscheinung E sei = u1, und die Wahrscheinlichkeit, dass U2 die Ursache von U1 sei = u2, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass U2 die entferntere Ursache von E ist = u1 u2; woraus man sieht, dass bei jedem Schritt rückwärts in der Kette der Ursachen die Wahrscheinlichkeitscoefficienten der einzelnen Ursachen in Bezug auf ihre nächste Wirkung sich multipliciren, d.h. aber immer kleiner werden (z.B. 8/10 neunmal mit sich selbst multiplicirt, giebt circa 1/10). Wüchsen nicht die Wahrscheinlichkeitswerthe der Ursachen beim Fortschreiten wiederum dadurch, dass der anzunehmenden Ursachen immer weniger werden und immer mehr Wirkungen aus Einer Ursache erklärbar werden,2 so würden bald die Wahrscheinlichkeiten durch die beständige Multiplication unbrauchbar kleine Werthe erhalten. Wären nun von allen Erscheinungen in der Welt die Ursachen rückwärts so weit erkannt, bis sie auf eine oder wenige letzte Ursachen oder Principien zurückgeführt wären, so wäre die Wissenschaft, die Eine ist, wie die Welt Eine ist, in inductiver Weise vollendet.

Denkt man sich nun, dass irgend Jemand diese Aufgabe in vollkommenerer oder unvollkommenerer Form gelöst habe, so steht die Frage offen, ob derselbe, um seine Ueberzeugung Anderen mitzutheilen, besser thue, sie den Weg von den Erscheinungen rückwärts und aufwärts bis zu den letzten Ursachen zu führen, oder ihnen aus diesen Principien von oben herunter die Welt, wie sie ist, zu deduciren. Es handelt sich hier um eine einfache Alternative; denn wenn Schelling in seinem letzten System die Nothwendigkeit einer Verbindung beider Wege behauptet, indem er (s. Werke Abth. II. Bd. 3. S. 151 Anm.) mit einer negativen, von unten aufsteigenden Philosophie beginnt, und mit einer positiven, von oben herabsteigenden Philosophie schliesst, so ist diese Doppelheit nur dadurch möglich, dass er für beide die Gebiete sondert, und zwar erstere auf rein logischem Gebiete hält, d.h. ihre inductive Methode nur auf Thatsachen der inneren Erfahrung des Denkens basirt (vergl. Werke II. 1. Seite 321 u. 326), während er die so als Resultat gewonnene höchste Idee in seiner positiven Philosophie als das wirklich[6] Existirende und das Princip alles Seienden (vgl. II. 3. S. 150) zu erweisen sucht, indem er von derselben nach deducirender Methode die Thatsachen der äusseren Erfahrung abzuleiten unternimmt. (Aehnliches gilt für Krause's aufsteigenden und absteigenden Lehrgang.) Selbst wenn die Resultate letzterer Deduction den Ansprüchen der Wissenschaft irgendwie genügten, so würde doch eine solche willkürliche Trennung der innern und äussern Erfahrung wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen sein, jedenfalls aber für letzteres Gebiet unsere obige Alternative sich wiederholen, ob die aufsteigende oder absteigende Methode der Darstellung vorzuziehen sei. Die Entscheidung fällt zweifelsohne zu Gunsten der von unten aufsteigenden oder inducirenden Methode aus; denn

1) steht der Andere noch unten, das Unten ist also für ihn der natürliche Ausgangspunct; er kommt bei dem Wege von unten nach oben stets vom Bekannten zum Unbekannten, während er sich auf den Standpunct der letzten Principien nur durch einen salto mortale versetzen kann, und dann während des ganzen Weges von Einem Unbekannten zum andern kommt, und ganz zum Schluss erst wieder zu Bekanntem;

2) der Mensch hält vorläufig immer seine eigene Meinung für die richtige und misstraut folglich jeder ihm neuen Lehre; darum will er wissen, wie der andere zu seinem sublimen Resultat gekommen ist, wenn sein Misstrauen sich nicht bis zum Schluss erhalten soll, und dies kann nur auf dem von unten aufsteigenden Wege geschehen;

3) der Mensch misstraut heimlich seinem eigenen Verstande ebenso sehr, als er auf seine einmal gefasste Meinung fast unerschütterlich baut, darum ist es sehr schwer, jemand durch Deduction zu überzeugen, weil er derselben immer misstraut, auch wenn er nichts dagegen zu sagen weiss, während er bei der Induction weniger scharf und anhaltend zu denken braucht, sondern mehr sehend und anschauend die Wahrheit herausfühlen kann;

4) die Deduction aus den letzten Principien, selbst angenommen, dass sie unwiderleglich richtig sei, kann wohl imponiren durch ihre Grossartigkeit, Geschlossenheit und Geistreichheit, aber nicht überzeugen denn da dieselben Wirkungen aus ganz verschiedenen Ursachen herstammen können, so beweist die Deduction glücklichstenfalls immer nur die Möglichkeit dieser Principien, keineswegs ihre Nothwendigkeit ja sie verleiht ihnen nicht einmal einen bestimmten Wahrscheinlichkeitscoefficienten, wie die inductive Methode thut, sondern kommt über den blossen Begriff der Möglichkeit nicht hinaus. Um[7] ein Bild zu brauchen, ist es allerdings gleichgültig, wenn man den Rhein kennen lernen will, ob man stromauf oder stromab wandert, für den Bewohner der Rheinmündung ist aber doch der natürliche Weg stromauf, und wenn ein Hexenmeister kommt, der ihn mit einem Luftsprung an die Quellen versetzt, so weiss er ja gar nicht, ob dies auch die Quellen des Rheines sind, und ob er nicht etwa die ganze mühsame Wanderung vergebens antritt. Und kommt er dann an der Mündung dieses Flusses an, und findet sich in einer fremden Gegend statt in der Heimath, so macht ihm wohl gar der Hexenmeister weiss, dass dies seine Heimath sei, und mancher glaubt es ihm um der schönen Reise willen.

Nach alledem wäre es unerklärlich, wie jemand, der auf inductivem Wege zu seinen Principien gekommen ist, zur Mittheilung und zum Beweis derselben die deductive Methode nehmen sollte; dieser Fall kommt in der That auch niemals vor. Vielmehr sind alle Philosophen, die ihr System deduciren (sei die Methode klar ausgesprochen, oder in verhüllter Form), in der That durch das einzige Mittel, das ausser der Induction übrig bleibt, zu ihren Principien gekommen, durch einen Luftsprung von mystischer Natur, wie dies im Cap. B. IX. besprochen wird, und die Deduction ist alsdann der Versuch, von ihrem mystisch erworbenen Resultat zu der zu erklärenden Wirklichkeit herabzusteigen und zwar auf einem Wege, der durch die unstatthafte Analogie mit der ganz anderartigen Wissenschaft der Mathematik und durch die blendende Evidenz der in letzterer erzielten Resultate für alle systematischen Köpfe von jeher etwas Verlockendes gehabt hat. Für jene Philosophen ist nämlich allerdings die Deduction der natürliche Weg, da das Oben ihr gegebener Ausgangspunct ist. Abgesehen davon, dass sowohl die Deduction selbst als auch die zu beweisenden Principien immer nach menschlicher Weise mangelhaft sein müssen, und dass demgemäss die Deduction zwischen sich und der zu erklärenden Wirklichkeit stets eine weite Kluft offen lässt, ist das Schlimme an der Sache, dass die Deduction ihre eigenen Principien, wie schon Aristoteles wusste, überhaupt nicht beweisen kann, weil sie im günstigsten Fall ihnen nur die Möglichkeit, aber nicht eine bestimmte Wahrscheinlichkeit erobert; darum gewinnen die Principien durch dieselbe wohl etwas an Verständlichkeit, aber nicht an Ueberzeugungskraft, und eine Ueberzeugung von ihrer Richtigkeit zu gewinnen, bleibt ausschliesslich der mystischen Reproduction überlassen, wie ihre Entdeckung in mystischer Production bestand.[8] Dies ist der grösste Uebelstand bei der Philosophie, soweit sie sich dieser Methode bedient, dass die Ueberzeugung von der Wahrheit ihrer Resultate nicht wie bei inductiv-wissenschaftlichen Ergebnissen mittheilbar ist, und selbst das Verständniss ihres Inhalts, wie gekannt, grossen Schwierigkeiten unterliegt, weil es unendlich schwer ist, eine mystische Conception in eine adäquat-wissenschaftliche Form zu giessen. Nur zu häufig täuschen aber auch die Philosophen sich und den Leser über die mystische Entstehungsweise ihrer Principien, und suchen denselben in Ermangelung guter Beweise einen wissenschaftlichen Halt durch spitzfindige Scheinbeweise zu geben, über deren Unwerth sie nur die feste Ueberzeugung der Wahrheit des Resultate verblenden kann. Hier liegt die Erklärung jener Erscheinung, dass man sich (mit seltenen Ausnahmen einer zufälligen Geistesverwandtschaft) von der Lectüre der Philosophen unangenehm abgestossen fühlt, wenn man auf ihre Beweise und Deductionen blickt, auf's Höchste angezogen und gefesselt dagegen, wenn man auf die imposante Geschlossenheit ihrer Systeme, ihre grossartigen Weltanschauungen, ihre genialen, das Verborgenste aufhellenden Lichtblicke, ihre tiefen Conceptionen, ihre geistreichen Aperçus, ihren psychologischen Scharfblick sieht. Die Art der Beweise ist es, welche dem naturwissenschaftlichen Denker jenen instinctiven Widerwillen gegen die Philosophie einflösst, jenen Widerwillen, der sich zu unserer Zeit, wo auf allen Gebieten des Lebens der Realismus über den Idealismus triumphirt, bis zur souverainen Verachtung gesteigert hat.

Ans der deductiven Methode der Philosophen folgt ferner, dass sich über einzelne Puncte nur insoweit streiten lässt, als es Consequenzen von Principien betrifft, über die man von vornherein einig ist. Da nun aber das ganze System eine Consequenz der obersten Principien sein soll, so kann man, vorausgesetzt dass alle Consequenzen in sich folgerichtig seien, nur das Ganze ablehnen oder acceptiren, je nachdem man die obersten Principien ablehnt oder acceptirt, während man bei der von unten, d.h. von allgemein zugegebenen und empirisch feststehenden Thatsachen ausbauenden inductiven Philosophie der Induction bis zu einem beliebigen Puncte zustimmend folgen, dann aber seinen Weg von dem des Philosophen trennen und an dem zugestandenen Unterbau der Pyramide einen grossen Gewinn zu eigener weiterer Benutzung nach Hause tragen kann. Es ist hiernach erklärlich, dass jedes deductive System mehr oder minder einsam wie die Spinne in ihrem Netze sitzt, weil alle Differenzen schon in den obersten Principien liegen, über die man[9] niemals einig wird, wenn man mit ihnen anfangen will, während unter verschiedenen inductiven philosophischen Systemen (die leider bis jetzt noch nicht existiren) ein ähnliches Bewusstsein solidarischer Verknüpfung durch gemeinsames Fundament bestehen würde, wie in der inductiven Wissenschaft überhaupt, wo jeder einmal streng wissenschaftlich gethane Schritt allen anderen weiter gehenden zu Gute kommt, und auch die kleinste Gabe als Baustein zum Ganzen dankbar angenommen wird. Endlich ergiebt sich aus Obigem, warum es der deductiven Philosophie noch niemals gelungen ist, ihr eng begrenztes Publikum auf die Mehrzahl der Gebildeten zu erweitern, und warum es ihr ebenso wenig gelingen konnte, die grosse Kluft, welche sie von der zu erklärenden Wirklichkeit scheidet, auszufüllen.

Der Theil der Philosophie dagegen, welcher das inductive Verfahren eingeschlagen hat, und die gesammten Naturwissenschaften im weitesten Sinne des Worts, haben zwar schätzbare Resultate untergeordneter Art und Baugrund für die Nachfolger geliefert, aber sie sind noch himmelweit entfernt von letzten Principien und einem einheitlichen System der Wissenschaft.

So gähnt für beide Seiten eine Kluft; die Induction kommt nicht zu letzten Principien und zum System, die Speculation nicht zur Erklärung der Wirklichkeit und zur Mittheilbarkeit. Man kann hieraus schliessen, dass das Ganze sich nicht von Einer Seite her begreifen lässt, sondern dass man die Sache zugleich von beiden Seiten anlassen muss, und sich von hüben und drüben nach den vorspringendsten Puncten umthun muss, wo sich eine Brücke schlagen lässt. Denn so ganz hoffnungslos ist die Sache eben nicht. Wie in einem Gefäss mit geschmolzenem Schwefel krystallisiren die Gedanken sowohl vom Grunde als von oben aus, und wenn nur erst die am weitesten hervorragenden Nadeln sich erfasst haben, dann wächst auch bald die ganze Masse zusammen. Wir sind an diesem Puncte in der Geschichte der Wissenschaft angelangt, wo sich schon die ersten Vorläufer begegnen, wie zwei Bergleute, die sich aus sich unterirdisch begegnenden Stollen durch die sie noch trennende Wand hindurch klopfen hören. Denn die inductive Wissenschaft hat in allen Zweigen der unorganischen und organischen Natur und auch in der des Geistes in neuester Zeit so gewaltige Fortschritte gemacht, dass derartige Versuche einen ganz andern Boden unter sich finden, als z.B. die eines Aristoteles, Paracelsus, Baco und Leibniz. Andererseits hat aber auch die alle früheren Perioden weit überflügelnde[10] Glanzperiode der Philosophie Ende des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts dem speculativen Geist so vielseitige Bereicherung zugeführt, dass beide Theile sich wiederum ebenbürtig gegenüberstehen. Aber freilich ist mit diesen Fortschritten die Welt sich auch klarer geworden über den polaren Gegensatz beider Gebiete, der früher sich mehr dem Bewusstsein entzog, und daher kommt es, dass jeder Forscher sich für eine der beiden Richtungen viel bestimmter zu entscheiden pflegt, als dies früher der Fall war. Darum fehlt es der Gegenwart hauptsächlich an einer Persönlichkeit, welche beide Seiten mit gleicher Liebe und Hingebung erfasst, welche fähig ist, wenn auch nicht zur mystischen Production, doch zur Reproduction, und doch zugleich eine genaue Uebersicht des exacten Wissens und die Strenge der inductiven exacten Methode sich zu eigen gemacht hat, welche endlich die vorliegende Aufgabe klar erkennt, die speculativen (mystisch erworbenen) Principien mit den bisher höchsten Resultaten der inductiven Wissenschaft nach inductiver Methode zu verbinden, um hierdurch die allgemein zugängliche Brücke zu den Principien zu schlagen, und diese bisher blos subjectiven Ueberzeugungen zur objectiven Wahrheit zu erheben. In Hinblick auf diese grosse und zeitgemässe Aufgabe wählte ich das Motto: »Speculative Resultate nach inductiv-naturwissenschaftlicher Methode!« Nicht als ob ich des Glaubens wäre, ein so umfassender Kopf zu sein, wie zur Lösung dieser Aufgabe erforderlich ist, oder gar glaubte, in diesem Werke eine genügende Lösung geboten zu haben, – das sei ferne von mir; aber damit glaube ich Dank zu verdienen, dass ich diese auch schon von anderen Männern erkannte und auf verschiedene Weisen in Angriff genommene Aufgabe klar als Ziel der gegenwärtigen, merklich an speculativer Erschöpfung leidenden Philosophie hinstelle, dass ich in den vorliegenden Untersuchungen zur Lösung derselben nach Kräften mein Scherflein bei trage, und dadurch anderen vielleicht erwünschte Anregung gebe, namentlich aber, indem ich die Sache an einer bisher vernachlässigten Seite anfasse, die ich jedoch grade für die fruchtbarste halten muss3. Zugleich legt mir die ausgesprochene Auffassung die Pflicht auf, mich vor jedem der beiden Fora sowohl dem naturwissenschaftlichen als dem philosophischen, zur Beurtheilung an stellen4. Dies thue ich aber mit Freuden,[11] denn ich halte jede Speculation für falsch, die den klaren Ergebnissen der empirischen Forschung widerspricht, und halte umgekehrt alle Auffassungen und Auslegungen empirischer Thatsachen für falsch, welche den strengen Ergebnissen einer rein logischen Speculation widersprechen.

Es sei mir vergönnt, noch einige Worte über die Art der Darstellung zu sagen. Der erste Grundsatz war Gemeinfasslichkeit und Kürze. Der Leser wird deshalb keine Citate finden, soweit sie nicht im Texte sich einflechten, jede Polemik ist auf das Möglichste vermieden, ausser wo sie zur Aufklärung eines Begriffs unerlässlich war. Ich traue mehr auf die siegende Kraft der positiven Wahrheit, soweit dieselbe in meiner Arbeit enthalten ist, als ich glaube, dass Jemand durch eine noch so schlagende negative Polemik sich von seinen Ansichten werde abbringen lassen. Auch ziehe ich es vor, anstatt die Irrthümer und Schwächen grosser Männer zu bekritteln, welche sich mit der Zeit ganz von selber durch Vergessenheit richten, ihre grössten Momente hervorzuheben, wo sie ahndungsvoll das in Andeutungen vorwegnehmen, was erst die zukünftige Entwickelung in ausführlicher Zusammengehörigkeit begründet. Ferner ist oft die Gelegenheit zu interessanten Seitenbemerkungen, zu gründlicheren, weiter ausholenden Beweisen, detaillirteren Ausführungen u.s.w. unbenutzt gelassen, um nicht in eine Ausführlichkeit der Darstellung zu[12] verfallen, mit denen wenigen meiner Leser gedient sein möchte. Daher sind die Capitel in der grösseren Mehrzahl, mit Ausnahme der grundlegenden, fast aphoristisch gehalten, weil ich glaube, dass die meisten Leser eine kürze, viel Anregung zum Selbstdenken bietende Darstellung einer erschöpfenden Behandlung des Stoffs vorziehen werden. Zugleich ist die Behandlung der Capitel in Rücksicht auf die Annehmlichkeit beim Lesen möglichst so eingerichtet, dass jedes derselben eine eigene kleine Abhandlung über einen begrenzten Stoff darstellt (nur wenige machen hiervon eine Ausnahme und gehören untrennbar zusammen, wie z.B. Cap. C. VI. und VII). Die Capitel der ersten beiden Abschnitte beweisen sämmtlich und jedes für sich die Existenz des Unbewussten; ihr Verständniss und ihre Beweiskraft stützen und erhöhen sich aber gegenseitig wie eine Gewehrpyramide, also auch die späteren die früheren. Ich bitte deshalb das Urtheil über die ersten gütigst zurückhalten zu wollen, mindestens bis zur Beendigung des Abschnitts A. Wenn aber einem Leser auch der Beweis dieses oder jenes Capitels falsch erscheint, so fallen darum keineswegs die Beweise der andern mit, wie man aus einer grossen Gewehrpyramide ganz gut eins oder mehrere der Gewehre herausnehmen kann, ohne dass dieselbe einfällt. Endlich bitte ich um gütige Nachsicht in Betreff der einzelnen als Beispiele benutzten physiologischen und zoologischen Thatsachen, wo einem Laien gar leicht ein Irrthum widerfahren kann, der aber für das grosse Ganze unmöglich von Bedeutung sein kann.

1

Meine Ansichten über dieselbe habe ich in einer besonderen Schrift: »Ueber die dialektische Methode« (Berlin 1868, C. Duncker's Verl.) niedergelegt.

A1

S. 5 Anm. letzte Z. Vgl. auch meine Schrift »Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus« 2. Aufl. S. 261-265; »Philosophische Fragen der Gegenwart« Nr. XII (»Bahnsen's Realdialektik«) und »Krit. Wanderungen durch die Phil. der Gegenwart« Nr. VI.

2

Das Wachsen geschieht nach der auf S. 45 u. 46 entwickelten Formel.

3

Die überraschend günstige Aufnahme, welche die bisherigen Auflagen dieses Werkes gefunden haben, scheint mir wesentlich auf einer Anerkennung der Zeitgemässheit dieses Strebens zu beruhen.

4

Die Kritiken und Einwendungen, welche mir von philosophischer wie von naturwissenschaftlicher Seite her zu Theil geworden sind, haben meine Ansichten in keinem wesentlichen Punkte zu erschüttern vermocht, wohl aber in vielen bestärkt. Hinsichtlich der kritischen und apologetischen Polemik kann ich auf die im Vorwort gegebenen Mittheilungen und auf das Literaturverzeichniss in Plümacher's »Kampf um's Unbewusste« verweisen. Was mich selbst anbetrifft, so habe ich bei den Zusätzen im Texte der beiden ersten Bände der Phil. d. Unb. alle Polemik möglichst zu vermeiden gesucht und mir erst in den Nachträgen (von der 7. Auflage an) und in den im dritten Bande vereinigten Schriften grössere Freiheit gestattet. Der weiteren Ausführung naturphilosophischer Fragen dienen ausserdem die »Beiträge zur Naturphilosophie« (Abschnitt C der »Gesammelten Studien und Aufsätze«, 3. Aufl.), die Abhandlung »der Somnambulismus«, welche den Schluss der »Modernen Probleme« (2. Aufl.) bildet und die Schrift über den Spiritismus. Apologetische Erläuterungen zur Metaphysik des Unbewussten sind hauptsächlich in der Schrift »Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus« zu finden; aber auch meine historisch-kritischen Arbeiten über »Lotze's Philosophie« und »Kirchmann's erkenntniss-theoretischen Realismus« enthalten mancherlei Hierhergehöriges, ebenso wie »Das philosophische Dreigestirn des 19. Jahrhunderts« (Abschnitt D der »Gesammelten Studien und Aufsätze«) und verschiedene Abhandlungen in den »Phil. Fragen der Gegenwart« und den »Kritischen Wanderungen«. Nicht zum wenigsten aber wird meine Metaphysik gestützt und fester begründet durch die Uebereinstimmung der von der Phil. d. Unb. unabhängig gewonnenen Ergebnisse meiner Erkenntnisstheorie, Ethik, Aesthetik und Religionsphilosophie, sowohl im Allgemeinen als auch in einzelnen Punkten, auf welche gelegentlich hingewiesen werden soll.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 5-13.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
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