4. Das Bewusstsein hat keine Grade

[51] Unser Princip hat sich nunmehr noch in einer letzten Probe zu bewähren. Wenn nämlich unsere Annahme richtig ist, dass das Bewusstsein[51] eine Erscheinung ist, deren Wesen in der Opposition des Willens gegen etwas nicht von ihm Ausgehendes und dennoch empfindlich Vorhandenes besteht, dass also nur diejenigen Vorstellungs- oder Gefühlselemente bewusst werden können, welche auf einen mit ihnen in Opposition befindlichen Willen treffen, d.h. auf einen Willen, welcher sie nicht will oder negirt, so folgt daraus, dass das Bewusstsein so wenig wie das Nicht oder die Negation Gradunterschiede in sich haben kann. Es handelt sich dabei um eine reine Alternative: »Bewusstwerden oder Unbewusstbleiben«; verhält sich der Wille affirmativ, so tritt letzteres, verhält er sich negativ, so tritt ersteres ein. Es giebt kein Stärker oder Schwächer der Negation, denn Negation ist ein positiver, kein comparativer Begriff; es giebt wohl ein theilweises und vollständiges Negiren, dies ist aber kein Unterschied des Negirens, sondern des negirten Objectes, kann also keinen Gradunterschied des Negirens selbst begründen; ein theilweises Negiren müsste in unserem Falle das Bewusstwerden des einen und das Unbewusstbleiben des anderen Theiles zur Folge haben, aber keinesfalls könnte aus demselben eine Gradverschiedenheit des Bewusstseins als solchen hervorgehen.

Es kann also dasjenige, was bewusst wird, das Object oder der Inhalt des Bewusstseins, ein Mehr oder Weniger zeigen, aber das Bewusstsein selbst kann nur sein oder nicht sein, niemals mehr oder weniger sein. Allerdings kann auch der Wille, welcher durch sein Negiren des Objectes das Bewusstwerden desselben setzt, Gradunterschiede zeigen, stärker oder schwächer sein; aber die Stärke dieses Willens, vorausgesetzt dass sie überhaupt oberhalb der Schwelle liegt, hat auf die Alternative: »Bewusstwerden oder nicht«, gar keinen Einfluss, nur ob sein Inhalt sich zu dem Objecte des Bewusstwerdens affirmativ oder negirend verhält, nur das entscheidet die Alternative; darum kann auch von der Stärke des opponirenden Willens kein Gradunterschied des Bewusstseins abgeleitet werden; entweder wird etwas bewusst oder es wird nicht bewusst, keinesfalls kann es mehr oder weniger bewusst werden. Ich will dieses Verhältniss noch durch ein Beispiel am Willen verdeutlichen.

Wenn ich einem Bettler etwas schenken will, so will ich freilich mehr, wenn ich ihm einen Thaler schenke, als wenn ich ihm einen Groschen gebe; dies ist das Mehr oder Weniger des Inhaltes, welches die Frage nach der Stärke des Willens als solchen noch gar nicht berührt, denn der Wille selbst kann in beiden Fällen ganz gleich stark sein, ob ich einen Thaler oder einen Groschen zu[52] schenken beabsichtige. Dagegen kann bei demselben Inhalte der Wille ganz verschieden stark sein; z.B. wenn von zwei Menschen jeder dem Bettler einen Groschen schenken will, so kann der Eine möglicherweise durch eine sehr unbedeutende Veranlassung davon zurückgebracht werden, während der Wille des Anderen starke Gegenmotive überwindet. Dies ist der Gradunterschied des Willens als solchen. Den Gradunterschied des Inhaltes haben wir beim Bewusstsein auch, der Gradunterschied des Bewusstseins als solchen muss dagegen nach der apriorischen Ableitung aus unserem Principe fehlen; würde sich diese apriorische Consequenz desselben in der Erfahrung nicht bestätigen, so wäre dies ein indirecter Angriff auf das Princip selbst.

Was der empirischen Anerkennung jenes Satzes zunächst im Wege steht, ist die Verwechselung des Begriffes Bewusstsein mit zwei anderen nahe liegenden Begriffen, erstens Aufmerksamkeit, zweitens Selbstbewusstsein. – Die Aufmerksamkeit haben wir schon mehrfach (Bd. I, S. 112-113, 150-151, auch 238-239) als einen sowohl reflectorisch, als willkürlich zu erzeugenden Nervenstrom kennen gelernt, welcher in sensiblen Nervenfasern vom Centrum nach der Peripherie verläuft und dazu dient, die Leitungsfähigkeit der Nerven, namentlich für schwache Reize und schwache Reizunterschiede zu erhöhen. Die Aufmerksamkeit besteht mithin in materiellen Nervenschwingungen; indem diese vom Centrum nach der Peripherie bin verlaufen, kann es unmöglich ausbleiben, dass dieselben, auch ohne auf eine Wahrnehmung getroffen zu sein, von der Peripherie nach dem Centrum reflectirt werden; ausserdem werden durch die Aufmerksamkeit für jedes Sinnengebiet eine Menge Muskeln in Spannung versetzt, um zur besseren Aufnahme der Wahrnehmung durch das Organ zu befähigen, und endlich werden gewisse andere Muskeln, namentlich Kopfhautmuskeln reflectorisch gespannt. Diese drei Momente stimmen darin überein, dem Organe des Bewusstseins Empfindungen durch materielle Schwingungen zuzuführen, d.h. die Aufmerksamkeit als solche ist ein Gegenstand der Wahrnehmung und folglich des Bewusstseins. Hiervon kann man sich leicht überzeugen, wenn man in schweigender Nacht Veranlassung hat, aufmerksam auf ein Signal zu horchen oder auf den Horizont zu blicken, ob eine Rakete steigen wird. Wenn für das blosse Vorstellen allerdings auch die Muskelspannung des Sinnesorganes fortfällt, so bleibt doch die reflectorische Spannung der Kopfhautmuskeln (daher das Wort Kopfzerbrechen) und[53] die Wirkung der Nervenschwingungen als solche bestehen; daher wird auch diejenige Aufmerksamkeit deutlich empfunden, welche nicht auf einen äusseren Sinn, sondern bloss auf das innere Vorstellungsleben des Gehirnes gerichtet ist, wie Jeder leicht an sich bemerken kann, wenn er ein entfallenes Wort sucht.

Die Aufmerksamkeit erhöht die Reizbarkeit der Theile, welche sie trifft, und erleichtert dadurch sowohl das Auftauchen der Gedächtnissvorstellungen, als auch die Wahrnehmung schwacher Reize und Reizunterschiede. Man kann nicht mit Bestimmtheit behaupten, dass sie die Amplitude der Schwingungen vergrössert, weil die Stärke einer Empfindung (z.B. Tonstärke) durch Erhöhung der Aufmerksamkeit scheinbar nicht vermehrt wird; doch kann dies auch, wie ich für höchst wahrscheinlich halte, bloss scheinbar sein, indem die Vermehrung der Stärke schon unbewusst in Abzug gebracht wird, wie die Vergrösserung eines Gegenstandes durch Näherrücken nicht leicht wahrgenommen wird, und die Vergleichung zweier gleichweit vom Auge entfernten Zirkelöffnungen nicht wesentlich leichter ist, als die zweier ungleich weit entfernten. – Sei dem, wie ihm wolle, so viel steht fest, dass wir eine doppelte Schätzung bei jeder Empfindung haben, sowohl über die Stärke der Empfindung, soweit sie vom Reiz abhängt, als auch über den Grad der angewandten Aufmerksamkeit, dass also der Wahrnehmung durch die Gehirnschwingungen der Aufmerksamkeit ein Bestandtheil hinzu gefügt wird, welcher die Totalwahrnehmung reicher und umfassender macht (ganz abgesehen davon, dass alle Sinnesempfindungen ohne einen gewissen Grad reflectorischer Aufmerksamkeit gar nicht bis zum Gehirn und dessen Bewusstsein kommen). Dasselbe gilt aber auch für blosse Gehirnvorstellungen, und in noch höherem Maasse.

Auch eine aus dem Gedächtnisse auftauchende Vorstellung wird durch die Aufmerksamkeit bereichert und verschärft; sie wird zwar ihrem allgemeinen Inhalte nach nicht verändert, aber während bei einer Vorstellung, für die man unaufmerksam ist, Alles nebelhaft und verschwommen, blass und farblos, gleichsam durch weite Ferne unerkennbar ist, werden die Umrisse, Farben und Detailausführung um so bestimmter, lebhafter und näher gerückt, je höher der Grad der Aufmerksamkeit steigt. Dies hat darin seinen Grund, dass alle unsere Vorstellungen auf Sinneseindrücken beruhen, und in diesen erst die bleichen Begriffsgespenster sich mit Fleisch und Blut bekleiden, dass aber die sinnlichen Vorstellungen um so plastischer und lebhafter werden, ein je grösserer Theil des speciellen Sinnesnerven[54] und Sinnescentralorganes in Mitleidenschaft gezogen, je weiter die Vorstellung peripherisch hinausprojicirt wird. Bei der Sinneswahrnehmung tritt also durch die Steigerung der Aufmerksamkeit nur insofern eine Bereicherung des Inhaltes ein, als durch die gesteigerte Leitungsfähigkeit auch geringere begleitende Details bis zum Gehirnbewusstsein gelangen und die Wahrnehmung der Aufmerksamkeitsschwingungen selbst intensiver wird; bei der Gedächtnissvorstellung aber tritt ausser diesen Momenten noch die Steigerung der sinnlichen Lebhaftigkeit und Bestimmtheit hinzu.

Dazu kommt noch in allen Fällen die bis jetzt unerwähnte Verhinderung der Störung durch andere Wahrnehmungen, welche von der höchsten Wichtigkeit ist. Für gewöhnlich besteht nämlich im wachen Zustande ein gewisser Tonus der Aufmerksamkeit im ganzen sensiblen Nervensysteme, der natürlich für jeden einzelnen Punct desselben schwach ist und erst durch einen stärker wirkenden Reiz reflectorisch in dieser Richtung erhöht wird. Dadurch entsteht für gewöhnlich eine grosse Theilung und Zerstreuung der Aufmerksamkeit, so dass das Bewusstsein einen unendlich gemischten Inhalt von lauter schwachen Wahrnehmungen in sich findet. Entsteht aber nun eine starke Anspannung der Aufmerksamkeit in bestimmter Richtung, also z.B. auf einen Sinn, oder auf das Gehirn allein, so kann dies bei der begrenzten Kraftsumme des Organismus nur auf Kosten der Aufmerksamkeit in allen anderen Richtungen geschehen, und daher ist jede einseitig erhöhte Aufmerksamkeit eine Concentration derselben, welche mit der Zerstreuung einen Gegensatz bildet. Statt der unendlich vielen schwachen Wahrnehmungen findet nun das Bewusstsein Eine energische Vorstellung als seinen Inhalt, während die Summe aller übrigen Wahrnehmungen auf ein Minimum reducirt ist. Man sieht, dass sich der Inhalt wesentlich verändert hat, so sehr, dass er zur Erklärung des veränderten Zustandes vollkommen genügt, es ist Nichts vorhanden, was auf eine graduelle Veränderung des Bewusstseins an sich hindeutete. Andererseits liegt es aber auf der Hand, wie leicht eine mangelhafte Unterscheidung der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins zu der Meinung führen kann, dass das Bewusstsein ebenso wie die Aufmerksamkeit Grade habe, und sehr häufig wird man finden, dass Bewusstsein gesagt wird, wo Aufmerksamkeit gemeint wird. Die Aufmerksamkeit kann Grade haben, weil sie in Nervenschwingungen besteht, und bei allen Nervenschwingungen die Grösse der Schwingungsamplitude die Stärke der Empfindung bedingt; das Bewusstsein aber kann keine[55] Grade haben, weil es eine immaterielle Reaction ist, die entweder eintritt oder nicht, aber wenn sie eintritt, immer in derselben Weise erfolgt.

Der Unterschied von Bewusstsein und Selbstbewusstsein ist schon zu Anfange dieses Capitels angedeutet worden. Das Selbstbewusstsein kann natürlich nicht ohne Bewusstsein, wohl aber das Bewusstsein ohne Selbstbewusstsein gedacht werden; wie weit ein völliges Fehlen des Selbstbewusstseins in der Wirklichkeit zu constatiren ist, muss noch dahingestellt bleiben, da ja auch das Selbstbewusstsein zunächst instinctiv als sogenanntes dumpfes Selbstgefühl geboren wird; so viel ist gewiss, dass ein sehr klares Bewusstsein bei einem verschwindenden Minimum von Selbstbewusstsein häufig genug vorkommt; ja sogar, je klarer bei demselben Individuum das gegenständliche Bewusstsein wird, desto mehr verschwindet das Selbstbewusstsein. Niemand ist im Stande, ein Kunstwerk wahrhaft zu gemessen, es sei denn, dass er wahrhaft sich selbst vergisst. Ebenso hört das Selbstbewusstsein fast gänzlich auf, wenn man sich in wissenschaftliche Lectüre vertieft; wenn man aber producirt und in tiefes Nachdenken versunken ist, so ist man so abwesend nicht nur von der Umgebung, sondern auch von sich selbst, dass man kein Gedächtniss für seine wichtigsten Interessen hat, ja sogar, dass man sich, plötzlich angerufen, auf seinen eigenen Namen erst besinnen muss. Und doch ist in diesen Momenten das Bewusstsein am klarsten, weil es eben ganz in den Gegenstand versenkt ist, d.h. die Aufmerksamkeit den höchsten Grad von Concentration erreicht hat. Diese Versenkung in den Gegenstand ist aber bei allen Dingen nothwendig, wo der Vorstellungsprocess etwas Erhebliches leisten soll, ausgenommen bei practischen Fragen des eigenen Interesses, weil hier alle Zwecke des ganzen Lebens in ihrer Wichtigkeit gegen einander berücksichtigt werden sollen, also die Identität der Ich's verschiedener Zeiten, die Persönlichkeit, eine Hauptrolle spielt. Aus demselben Grunde entbehren aber auch exclusiv practische Naturen, die nie sich selbst und ihre vielen Ziele und Interessen vergessen können, regelmässig jeder höheren wissenschaftlichen und jeder künstlerischen Befähigung.

Man sieht also, dass Bewusstsein und Selbstbewusstsein sehr verschiedene Dinge sind; nichtsdestoweniger ist die Verwechselung beider etwas ganz Gewöhnliches. Man sagt z.B. von einem Schlafwandler, dass er in diesem Zustande ohne Bewusstsein sei, während doch seine Leistungen (Gedichte, schriftliche Arbeiten) ein sehr klares[56] Bewusstsein beweisen; aber er ist allerdings ohne volles Selbstbewusstsein, da seine Aufmerksamkeit, in einen einseitigen Gegenstand vertieft, für alle anderen Wahrnehmungen, die mit diesem Gegenstande nicht zusammenhängen, abwesend ist, und darum auch keine Erinnerung seiner sonstigen Ziele und Interessen in ihm auftaucht, welche nicht diesen Gegenstand berühren.

Insofern das vollständige Selbstbewusstsein die Erinnerung aller Ziele und Interessen einschliesst, die frühere Ich's jemals gehabt haben, sagt man auch öfters Besinnung dafür, und wo man mit Recht sagen kann, ein Mensch sei in dem und dem Augenblicke, bei der und der Handlung ohne Besinnung oder ohne Selbstbewusstsein gewesen, sagt man oft unrichtigerweise, er sei ohne Bewusstsein gewesen; andererseits aber sagt man häufig, wo Jemand das Bewusstsein verliert oder verloren hat (z.B. in Ohnmacht, Betäubung) er sei oder werde besinnungslos, oder verliere das Selbstbewusstsein; in diesem Falle sagt die Verwechselung der Worte zu wenig, wie im anderen zu viel. Nun ist aber klar, dass das Selbstbewusstsein Grade hat; denn es ist am unvollkommensten, wenn es bloss das Ich der gegenwärtigen Geistesthätigkeit erfasst, und ist um so vollkommener, d.h. sein Grad um so höher, je mehr Ich's vergangener oder zukünftiger Handlungen es umfasst. Denn das Selbstbewusstsein ist ja nicht, wie das Bewusstsein, blosse, leere Form, sondern es ist Bewusstsein eines ganz bestimmten Inhalts, des Selbst, und da dieser bestimmte Inhalt schon zu seinem Begriffe gehört, so muss auch der Grad des Selbstbewusstseins mit dem Grade dieses Inhaltes steigen und fallen. Das Bewusstsein dagegen lässt seinen Inhalt ganz unbestimmt, es verlangt nur einen Inhalt überhaupt, wenn es zur Erscheinung, zur Wirklichkeit kommen soll, seinem Begriffe nach aber ist es blosse Form, und kann daher sein Begriff nicht dadurch graduelle Verschiedenheiten annehmen, dass der ihm völlig gleichgültige Inhalt verschieden ausfällt. Ist aber dieser Unterschied zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein noch nicht, oder wenigstens nicht in dieser Hinsicht geklärt, so ist es kein Wunder, dass man sich durch die häufige Verwechselung beider Begriffe unvermerkt gewöhnt, auch im Bewusstsein an sich an graduelle Verschiedenheiten zu glauben. Noch verzeihlicher wird die Täuschung, wo Aufmerksamkeit und Selbstbewusstsein sich vermischen; wenn ich z.B. auf ein Signal horche mit vollstem Selbstbewusstsein, indem ich weiss, dass mein ganzes Lebensglück von demselben abhängig ist, und es trifft endlich der[57] Schall eines fernen Schusses mein Ohr, so kann ich leicht in den Irrthum verfallen, dass das Bewusstsein, mit welchem ich jetzt den Schall gehört habe, graduell höher sei, als dasjenige, womit ich ihn zufällig als Spaziergänger vernommen hätte. Zieht man aber gewissenhaft die einzelnen Momente davon ab: zuerst den Gedanken, dass das ganze Ich der Zukunft an der Sinneswahrnehmung des nächsten Momentes hängt, dann den Gedanken, dass ich selbst es bin, der absichtlich seine Aufmerksamkeit anstrengt, dann die Muskelspannung und die Wahrnehmung der Aufmerksamkeit als solcher, endlich die Verstärkung der sinnlichen Wahrnehmung, ihre grössere Bestimmtheit u.s.w., so wird man zugeben müssen, dass der für das Bewusstsein als solches übrig bleibende Rest in beiden Fällen derselbe ist, und dass die Unterschiede nur theils den dem Bewusstsein vom Gehirne dargebotenen Inhalt, theils das Selbstbewusstsein treffen.

Nachdem so die gewöhnlichen Täuschungen der menschlichen Selbstbeobachtung dargelegt sind, wird die Behauptung ihr Paradoxes verloren haben, dass das sogenannte höchste und niedrigste Bewusstsein, das des Menschen und der niedrigsten Thiere, als Bewusstsein sich ganz gleich sind und sich nur durch den ihnen gebotenen Inhalt unterscheiden. Wir haben gesehen, dass die einfachen sinnlichen Qualitäten, aus denen sich alle Sinneswahrnehmung zusammensetzt, Reactionen des Unbewussten auf die materiellen Schwingungen des Centralorganes (Gehirn, Ganglien, thierisches und pflanzliches Protoplasma) sind; es versteht sich, dass die Reactionen sich nach der Art der Schwingungen richten, um so stärker und lebhafter ausfallen, je stärker die Schwingungen sind, und um so bestimmter in sich gegliedert und um so deutlicher von anderen ähnlichen Empfindungen unterschieden sind, je bestimmter und reicher die Schwingungen sich in sich gestalten, und je geringere Unterschiede der äusseren Reize sie im Centralorgane zur Erscheinung bringen.

Somit liegt auf der Hand, dass das Auge der Schnecke, welches ihr nach genauen Beobachtungen buchstäblich alle fünf Sinne ersetzen muss, ohne dass sie mit demselben mehr als hell und dunkel im Allgemeinen unterscheiden kann, dass dieses Auge Schwingungen im Centralorgane erweckt, welche weder für Gesicht, Geruch, Geschmack, Gehör und Gefühl so grosse Unterschiede zeigen, wie bei Thieren mit gesonderten Sinnesorganen, noch auch erheblicher Mannigfaltigkeit innerhalb jedes dieser besonderen Empfindungsgebiete fähig sind. Was aber der Wahrnehmung anderen Wahrnehmungen gegenüber[58] die Unterscheidbarkeit giebt, das verleiht ihr für sich betrachtet die Bestimmtheit, und darum sind die Wahrnehmungen um so unbestimmter, je tiefer wir in der Thierreihe hinabsteigen. Diese Unbestimmtheit ist nur so zu denken, dass in der Wahrnehmung das Detail fehlt, welches bei höherer Organisation die Unterschiede begründet; nimmt man dieses Detail aus der Wahrnehmung heraus, so wird sie aber ärmer an Inhalt, denn es bleibt ihr bloss das Allgemeine übrig, was an dem Verschiedenen noch gleich ist; alle Unbestimmtheit der Wahrnehmung beruht also auf Armuth, während der Reichthum an Inhalt die Bestimmtheit und Unterscheidbarkeit begründet. Jetzt können wir aussprechen, worin der Unterschied eines scheinbar niedrigeren Bewusstseins besteht: in der geringen Intensität und der Armuth des ihm gebotenen Inhaltes, in der materiellen Dürftigkeit sowohl der einzelnen Wahrnehmung und Vorstellung, als der gesammten zugänglichen Vorstellungsmasse. Wenn ich einen einzelnen Lichtpunct in finsterer Nacht sehe, so sehe ich ihn scharf abgegrenzt als Punct, in bestimmtem Helligkeitsgrade und den Hintergrund in bestimmtem Dunkelheitsgrade, ich sehe auch beide in ganz bestimmter Farbe; das ist der Reichthum, der in dieser einfachen Wahrnehmung liegt. Die Schnecke aber sieht diesen Punct gar nicht, oder wenn er sehr hell ist, so sieht sie einen schwachen Helligkeitsschimmer vor sich, und von all' dem Anderen sieht sie nichts; das ist die Armuth ihrer Vorstellung.

Ausserdem aber sieht die Schnecke mit viel geringerer Intensität, weil mit geringerer Aufmerksamkeit. Die Schwächung der Aufmerksamkeit in allen anderen Richtungen bei Concentration nach einer einzigen beweist die begrenzte summarische Grösse derselben für ein bestimmtes Wesen, welche offenbar mit seiner summarischen Nervenkraft in Beziehung steht. Nichts liegt näher, als dass die summarische Maximalgrösse der Aufmerksamkeit mit der Stufe des ganzen Nervensystems in der Thierreihe sinkt, also wird eine Schnecke bei möglichster Anspannung der Aufmerksamkeit auf einen Lichtpunct kaum so viel Aufmerksamkeit auf denselben verwenden können, als ich, wenn ich ganz und gar nicht an jenen Lichtpunct denke; denn das Centralorgan der Schnecke steht jedenfalls tiefer, als meine Vierhügel, welche die Gesichtseindrücke aufnehmen, und über welche sie nicht hinauskommen, wenn das Gehirn anderweitig in Anspruch genommen ist. Jetzt hat man ein ungefähres Bild von dem Bewusstsein der niederen Thiere bei einer einzelnen Wahrnehmung;[59] und doch ist das Bewusstsein immer das nämliche, nur der ihm gebotene Inhalt ist so viel schwächer und dürftiger.

Das Verhältniss steigert sich noch, wenn wir das ganze Vorstellungsmaterial in Erwägung ziehen, welches dem Vergleichen, Abstrahiren und Combiniren zu Grunde liegt, dann sehen wir alsbald, dass die Unbestimmtheit und Dunkelheit der einzelnen Vorstellung noch weit übertroffen wird von der Armuth der ganzen Summe von Erfahrungen, die einem solchen Thiere zu Gebote stehen, und von der Unfähigkeit eines Centralorganes, die einmal gemachten Erfahrungen genügend im Gedächtniss zu behalten, oder gar sie zu handlicheren Theilvorstellungen (Begriffen) zu verarbeiten. Dies bedarf wohl keiner weiteren Ausführung. Das Resultat von dem Allen ist die Bestätigung des aus unserem Principe abgeleiteten Satzes, dass das Bewusstsein als solches, d.h. seiner Form nach überall dasselbe ist, und nur in dem ihm gebotenen Inhalte sich unterscheidet; denn nirgends fanden wir Veranlassung, dem Bewusstsein selbst graduelle Unterschiede zuzuschreiben, wie wir es z.B. beim Willen, auch abgesehen von seinem Inhalte, thun müssen; das Princip hat sich also auch in dieser letzten Probe bewährt.A7

A7

S. 60 Z. 19. (Vgl. zu dieser Stelle O. Plümacher's Schrift »Der Kampf um's Unbewusste«, Berlin 1881 Nr. II. »Das Unbewusste als Urquell des Bewusstseins« S. 40-75).

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 51-60.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
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