2. Der Individualcharakter

[263] Ueber den menschlichen Charakter giebt es zwei extreme Ansichten: Die eine (Rousseau, Helvetius u.s.w.) behauptet, dass alle Menschen bei der Geburt gleich sind, d.h. also eines Individualcharakters entbehren, dass ihre Seele in Bezug auf Charakter ebenso eine tabula rasa sei, wie in Bezug auf Vorstellungen, und dass sie Eines wie das Andere erst durch äussere Eindrücke erwerbe, den Charakter also vornehmlich durch Erziehung und Schicksale.

Die andere Ansicht (Schopenhauer) behauptet, dass der Charakter unveränderlich sei, dass er sich zwar, wie natürlich, bei verschiedenen äusseren Gelegenheiten, z.B. in verschiedenen Lebensaltern, verschieden äussere, aber seinem Wesen nach zugleich des Menschen unveräusserliche und unveränderliche Natur und Grundlage sei, mithin von der Geburt bis zum Tode derselbe bleibe.

Jede der beiden Ansichten erklärt einen Theil der Thatsachen sehr gut, muss sich aber gegen einen anderen Theil derselben verschlissene. Fragen wir, welche der beiden Ansichten metaphysisch annehmbarer scheint, so tritt der merkwürdige Fall ein, dass sich gegen die Auffassung der französischen Naturalisten von metaphysischer Seite nichts einwenden lässt, dass dagegen die des Metaphysikers Schopenhauer, der die Feststellung des Charakters durch einen ausserzeitlichen ein- für allemaligen Entschluss annimmt, vor der Kritik aus seinen eigenen Principien kaum bestehen kann.

Schopenhauer selbst will absoluter Monist sein; wenn also der Wille der Welt dem Wesen nach Einer ist, wenn ferner der Charakter ebenfalls nach seiner eigenen Behauptung nichts als die Eigenthümlichkeit des individuellen Willens ist, so kann offenbar die Individualität des Charakters nur in einer individualisirten Thätigkeit des allgemeinen Willens als möglich gedacht werden, nicht aber als im Wesen des allgemeinen Willens unmittelbar begründet, da dieses immer allgemein bleibt. Wie aber die Thätigkeit des Willens, welche den Charakter erzeugt, ausserzeitlich zu denken sei, davon habe ich keinen Begriff; ich kann nur ein Wesen, nicht[263] aber seine Thätigkeit als ausserzeitlich denken, da die Thätigkeit sofort die Zeit setzt, es sei denn, dass man auch in Null-Zeit eine Thätigkeit als möglich annehmen wolle, in welchem Falle sie eben auch im Moment wieder erlischt; der Charakter aber, der die Lebenszeit des Individuums hindurch dauern soll, fordert offenbar auch eine Thätigkeit des allgemeinen Willens, die ebenso lange dauert. Anders ausgedrückt, die Lehre vom intelligibeln Individualcharakter ist ein Widerspruch gegen das monistische Princip, ein Widerspruch auch gegen die transcendentale Idealität von Raum und Zeit. Denn im Intelligibeln fehlt das principium individuationis, folglich auch die Vielheit und die Individualität, folglich auch die vielen Individualcharaktere. Der Individualcharakter setzt das Individuum oder vielmehr die Individuen, also die Vielheit, die Individualität, kurz die Welt der Erscheinung voraus, er wird wie diese erst möglich durch die Zeit, durch die zeitliche Thätigkeit des allgemeinen intelligibeln Wesens.

Wenn sich dies nun so verhält, so ist erstens nicht ohne Weiteres einzusehen, warum die Charaktere der verschiedenen Individuen nicht alle typisch gleich sind, was doch viel natürlicher wäre; zweitens aber ist noch weniger einzusehen, warum, wenn die Charaktere doch einmal factisch unter einander so verschieden sind, jeder einzelne sich während der Dauer des Lebens, d.h. die ganze Zeit, wo diese bestimmte Thätigkeit des allgemeinen Willens existirt, sich gleich bleiben und nicht vielmehr sich beständig ändern solle.

Metaphysisch viel plausibler ist die Annahme der französischen Naturalisten, dass nur typische Artcharaktere, nicht aber Individualcharaktere angeboren seien, dass aber durch Aenderung des Charakters in verschiedenem Sinne die Individualcharaktere sich allmählich herausbilden. Bei dieser Annahme befreundet man sich rückwärts viel leichter mit der All-Einheit des allgemeinen Wesens, denn die individuellen Abänderungen des ursprünglich gleichen Artcharakters lassen sich alsdann auf verschiedene Hirneindrücke zurückführen, deren jeder eine bleibende Veränderung im Hirne zurücklässt, welche bewirkt, dass hinfort eine Molecularbewegung in demselben Sinne wie die durch jene Eindrücke hervorgerufene, leichter als eine im heterogenen Sinne entsteht (Bd. I, S. 28-29). Es ist dies die Art, wie überhaupt die Gewohnheit eine Macht wird, in specieller Anwendung auf den Charakter. Das erste Handeln in einem bestimmten Sinne wird unter Annahme eines noch unbestimmten Charakters rein durch die Motive entschieden; in welcher Art und Stärke[264] dieselben an den Menschen herantreten, hängt von äusseren Verhältnissen ab. Ist aber die erste Handlung in einem bestimmten Sinne ausgefallen, so werden für den nächsten ähnlichen Fall die Motive, welche für die nämliche Entscheidung wie das vorige Mal wirken, einen gewissen, wenn auch noch so unmerklichen Vorzug gegen die entgegengesetzten Motive erlangt haben, welcher sich bei jeder in demselben Sinne ausfallenden Entscheidung erhöht.

So bildet sich die Eigenschaft heraus, dass gewisse Motive bei diesem Individuum eine grössere, andere eine geringere Wirkung üben, als durchschnittlich auf den typischen Artcharakter, und die Summe aller dieser Prävalenzen ist der Individualcharakter.

Nach dieser Ansicht entsteht mithin der Individualcharakter zunächst durch eine individuelle Beschaffenheit des Hirnes, die durch frühere, von äusseren Verhältnissen bedingte Eindrücke erzeugt ist; denn nur auf das Organ des Bewusstseins, nicht auf das Unbewusste kann die Gewohnheit einen directen Einfluss haben. Nichtsdestoweniger ändert sich mit der Beschaffenheit des Hirnes auch die Art der Thätigkeit, welche das Unbewusste auf dasselbe richtet; denn diese ändert sich mit jeder Aenderung des Organismus, und das Hirn ist eines der wichtigsten Theile desselben. Das Unbewusste ruft auf ein Motiv im Gehirn für gewöhnlich immer die am leichtesten sich ergebende Reaction hervor; nur wo besonders wichtige, namentlich generelle Interessen bei einer Handlung auf dem Spiele stehen, kann man annehmen, dass es sich der Mühe unterzieht, mit einer anderen als dieser am leichtesten sich ergebenden Reaction auf den Reiz des Motivs zu antworten, wie dieser Fall eintritt bei allem Handeln nach unbewussten Zwecken, wo also die Reaction, welche sonst unmittelbar dem Motive entsprechen würde, ausbleibt oder überboten wird durch eine andere, ausschliesslich durch unbewusste Zwischenglieder bedingte. In allen Fällen aber, wo das Unbewusste kein so erhebliches Interesse hat, dass es der Mühe lohnen würde, die am leichtesten sich ergebende Reaction durch eine andere zu ersetzen, wird auch eine gewohnheitsmässige Aenderung dieser am leichtesten sich ergebenden Hirnreaction eine Aenderung der Thätigkeit des Unbewussten zur Folge haben; die Art dieser Thätigkeit ist aber der Charakter selbst, – wie wir früher (Cap. B. IV.) sagten, des Menschen eigenstes Wesen. Es ist kein Widerspruch, dass dieser Charakter im Unbewussten liegt, und doch seine Beschaffenheit durch das Hirn, das specifische Organ des Bewusstseins, mit bedingt werden soll; denn das Organ des Bewusstseins[265] sammt allen seinen molecularen Lagerungsverhältnissen, die als latente Dispositionen zu gewissen Schwingungszuständen dieser oder jener Art betrachtet werden müssen, liegt selbst so sehr jenseits alles Bewusstseins, dass zwischen seiner materiellen Function und der bewussten Vorstellung erst der ganze Complex jener unbewussten psychischen Functionen sich einschaltet, mit denen wir uns bisher beschäftigt haben. Zugleich aber ist hierbei nochmals darauf aufmerksam zu machen, dass die latenten Hirndispositionen keineswegs die vollständige und zureichende Ursache, sondern nur eine der mitwirkenden Bedingungen für die Bestimmung der in's Bewusstsein tretenden Vorstellung, beziehungsweise des Willens zu handeln, sind; denn sie allein würden niemals irgend welchen psychischen Effect erzielen, sondern die Spontaneität des Unbewussten entnimmt nur aus ihnen bestimmende Direction für die Art und Weise seiner Thätigkeitsentfaltung, an welche es nicht einmal so weit gebunden ist, um sie nicht nach höheren Zwecken spontan zu modificiren.

Aus dieser Betrachtung geht hervor, dass der Mensch, selbst wenn er ohne Individualcharakter geboren wäre, als Erwachsener einen mehr oder weniger vom typischen Artcharakter abweichenden Individualcharakter sich erworben haben müsste. Wenn dieser Mensch nun aber Kinder zeugt, so wissen wir, dass nach dem Gesetze der Vererbung die von dem typischen Menschenhirne abweichenden eigenthümlichen Dispositionen seines Hirnes wahrscheinlich auf einige seiner Kinder mehr oder weniger vollständig übergeben. Dann wird solches Kind schon mit diesen latenten Dispositionen, welche den Individualcharakter bedingen, geboren, und sobald es in Verhältnisse tritt, wo diese Dispositionen wirksam werden, kommt sein angeborener Charakter zum Vorschein. Die Erscheinungen des Rückschlages in väterlicher und mütterlicher Linie, und die Vermischung solcher von verschiedenen Seiten überkommenen Eigenschaften machen die Untersuchung im einzelnen Falle sehr schwierig, woher die verschiedenen Eigenschaften eines angeborenen Charakters stammen; dennoch ist die unläugbare Thatsache des angeborenen Charakters nur so zu erklären. Ob der erste Mensch einen Individualcharakter gehabt habe, ist eine ganz müssige Frage: sein Artcharakter war ja sein Individualcharakter, da er als das erste Individuum seiner Art dieselbe vollständig repräsentirte. Nach der im vorigen Capitel entwickelten Descendenztheorie, wo der Artbegriff etwas Flüssiges geworden ist, steht ja jedes organische Individuum (also auch der erste Mensch) in einer[266] organischen Entwickelungsreihe, innerhalb deren er von seinen unmittelbaren Vorfahren einen ganzen Schatz charakterologischer Eigenthümlichkeiten als Erbtheil übernimmt, den er seinerseits wieder durch die Eindrücke seines Lebens (bis zur Zeugung) modificirt seinen Nachkommen hinterlässt.

Jeder Mensch bringt demnach den Haupttheil seines Charakters mit auf die Welt; wie gross im Verhältniss zu diesem der Theil ist, den er sich hinzu erwirbt, hängt von der Ungewöhnlichkeit und abnormen Beschaffenheit der Verhältnisse ab, in denen er sich bewegt. In den allermeisten Fällen reicht die Gewohnheit eines Menschenlebens nicht aus, um in dem ererbten Charakter tiefeingreifende Veränderungen hervorzubringen. Gewöhnlich beschränkt sich der erworbene Theil des Charakters auf neu hinzutretende unwichtigere Eigenschaften, oder Verstärkung vorhandener, oder Schwächung anderer durch Nichtgebrauch. Das Letztere findet relativ im geringsten Maasse statt, denn wie von allem Lernen das Schwerste das Vergessen des Erlernten ist, so von allen Charakteränderungen die schwierigste die Unterdrückung und Abschwächung vorhandener Eigenschaften. Dies ist es besonders, was Schopenhauer dazu veranlasste, die Unveränderlichkeit des Charakters zu behaupten24.

Wer an der Thatsache der Vererbung auch der erworbenen Charaktereigenschaften zweifeln sollte, den verweise ich auf Beispiele von der Vererbung anderweitiger erworbener Eigenschaften. Niemand wird bezweifeln, dass die in gewissen Familien erblichen Krankheitsanlagen, wenn man im Stammbaume rückwärts geht, auf einen Vorfahren hinführen müssen, der sie nicht mehr ererbt, sondern erworben hat. Dass sich amputirte Arme und Beine und dergleichen Verstümmelungen in der Regel nicht vererben, beweist gegen unsere Behauptung gar nichts, denn es sind zu grobe und handgreifliche Eingriffe in die typische Idee der Gattung, als dass man ihre Realisation im Kinde erwarten könnte; und doch giebt es selbst hier merkwürdige Ausnahmen. Nach Häckel zeugte ein Zuchtstier, dem durch Zufall der Schwanz an der Wurzel abgeklemmt wurde, lauter schwanzlose Kälber, und hat man durch consequentes Schwanzabschneiden während mehrerer Generationen eine schwanzlose Hunderace erzielt. Meerschweinchen, welche durch künstliche Verletzung[267] des Rückenmarks epileptisch gemacht worden waren, vererbten diese Krankheit auf ihre Nachkommen. Im Allgemeinen vererben sich erworbene Eigenschaften um so leichter, je weniger sie den Arttypus stören, in je minutiöseren organischen Veränderungen sie bestehen. Letzteres ist aber in hohem Grade bei allen Hirndispositionen zu gewissen Schwingungszuständen der Fall. Es ist eine bekannte Erfahrung, dass die Jungen von gezähmten Thieren zahmer werden, als die jung eingefangenen von wilden, dass von Hausthieren wieder diejenigen Jungen am zahmsten, folgsamsten, gelehrigsten u.s.w. zu werden versprechen, die von den zahmsten, folgsamsten, gelehrigsten Eltern stammen. Jede Dressur eines Thieres nach einer bestimmten Richtung bietet um so mehr Aussicht auf Erfolg, je weiter die Dressur der Eltern in derselben Richtung gediehen war. Junge undressirte Jagdhunde von ausgezeichneten Eltern machen bei der Jagd fast von selbst Alles ziemlich richtig, während bei Hunden, die von Eltern stammen, welche nie zur Jagd gebraucht wurden, die Jagddressur eine furchtbare Arbeit ist. Söhne aus Reiterfamilien bringen Sitz und Balance schon zum ersten Versuch mit. Dies Alles sind Beispiele von erworbenen Eigenschaften, welche sich dennoch vererben. Sie gehören ganz und gar mit zum Gegenstande unserer Betrachtung, dem Individualcharakter im weiteren Sinne, d.h. der Summe von körperlichen und geistigen Merkmalen, welche ein Individuum höherer Ordnung (auch abgesehen von seiner räumlichen Besonderung durch den eingenommenen Ort und den in Besitz genommenen Stoff) von allen anderen Individuen unterscheidet.

Wenn wir bei der Betrachtung des menschlichen Individualcharakters bisher den engeren Sinn von Charakter in's Auge fassten, so geschah dies nur, weil sich um letzteren die Controversen hauptsächlich bewegen, nicht als ob die Unterschiede in den geistigen Anlagen, Fähigkeiten und Talenten nicht ebenso wesentlich bei Begründung individueller Unterschiede wären. Wer jedoch unserer Entwickelung über den Charakter im engeren Sinne beistimmend gefolgt ist, der wird ohne Weiteres einsehen, dass letztere Unterschiede noch viel weniger auf eine andere Weise entstehend gedacht werden dürfen, und es wäre deshalb eine Wiederholung der Entwickelung für dieselben ganz überflüssig. Wie wenig der Charakter im engeren Sinne von den geistigen Anlagen zu trennen ist, geht schon daraus hervor, dass einerseits der Besitz einer intellectuellen Anlage oder Fähigkeit stets von dem Trieb, sie zu benutzen, begleitet ist, und dass andrerseits der Charakter im engeren Sinne bereits geistige[268] Anlage einschliesst, da er die Summe der Reactionsmodi des Willens auf verschiedene Arten von Motiven ist, und jeder Reactionsmodus nur dadurch zu einem eigenthümlichen wird, dass das bei einem gegebenen Motiv resultirende Wollen einen eigenthümlichen (von dem anderer Individuen) abweichenden Vorstellungsinhalt besitzt. Ist also der Charakter angeboren (d.h. ererbt), so ist auch der eigenthümliche Vorstellungsinhalt angeboren, dessen Gewolltwerden bei gegebenem Motiv die Eigenthümlichkeit des angeborenen Reactionsmodus ausmacht. Ein Vorstellungsinhalt kann aber nur angeboren sein als (ererbte) schlummernde Gedächtnissvorstellung, d.h. als moleculare Hirndisposition zu gewissen Schwingungsarten (Bd. I S. 28-29). In dieser Art ist z.B. das Verhalten des undressirten jungen Jagdhundes (seine Aufmerksamkeit auf Wild) sein Stutzen, seine Neigung zum Apportiren geworfener Gegenstände, durch ein von seinen Vorfahren ererbtes Gedächtniss zu erklären, so aber, dass die aus den ererbten Hirndispositionen auf geeignete Veranlassung auftauchenden (Erinnerungs-) Vorstellungen nicht als Erinnerungen bewusst werden, sondern nur als Inhalt der durch jene Veranlassungen (Motive) hervorgerufenen Willensacte auftreten. (Hier zeigt sich eine eigenthümliche Bestätigung zu Plato's Erklärung des Lernens als Erinnerung aus einem früheren Leben, nur dass die Gültigkeit dieser Erklärung eine sehr beschränkte ist, und das frühere Leben nicht demselben Individuum angehörte). Auch bei Menschen setzt sich ein grosser Theil der äusserlichen Manieren und Eigenthümlichkeiten der Haltung, der Bewegung und des Benehmens aus ererbten Hirnprädispositionen der mit denselben Eigenthümlichkeiten behafteten Vorfahren zusammen. Dass gewisse geistige Talente durch mehrere Generationen in einer Familie erblich sind, beweisen zahlreiche Beispiele (Maler, Mathematiker, Astronomen, Schauspieler, Feldherren u.s.w.). Alle solche ererbte Prädispositionen wirken aber dazu mit, um die gesammte Individualität des Menschen in seiner Einzigkeit zu constituiren.

Ich füge nur noch hinzu, dass, während der Charakter im engeren Sinne sich durch Kreuzung immer wie der ausgleicht, und im Wesentlichen für das Menschengeschlecht ziemlich auf derselben Stufe bleibt, – wenn auch die Gegensätze innerhalb desselben immer reicher ausgebildet und immer schärfer zugespitzt werden, – dass die geistigen Anlagen und Fähigkeiten im Menschengeschlechte in einer fortwährenden Steigerung begriffen sind. Dies kommt daher, dass die verschiedenen Charaktere, insoweit sie nicht[269] gar zu excentrische Ausgeburten sind, ziemlich gleich gut durch's Leben kommen, der mit höheren geistigen Anlagen begabte Mensch aber im Kampfe um's Dasein allemal im Vortheil ist. Noch mehr als bei Individuen tritt die Wahrheit dieses Gegensatzes bei Völkern auf; ihr Charakter hat für ihren Kampf um's Dasein eine verschwindend kleine Bedeutung im Verhältniss zu ihrer geistigen Befähigung und Bildung. Bald bleibt das offene, gerade und tapfere, bald das listige, verrätherische und feige, bald das langsame und ausdauernde, bald das schnell fertige und schnell wieder abspringende, bald das sittenstrenge, bald das verderbte, immer aber auf die Dauer das geistig höher stehende Volk der Sieger im Kampfe um's Dasein, der somit auch auf diesem Gebiete befestigend und steigernd auf die individuellen Unterschiede wirkt, seien dieselben nun durch Zufälligkeiten oder unbewusste Absicht bei der Zeugung, seien sie durch äussere Lebensverhältnisse oder eigenen bewussten Fleiss zuerst entstanden (vgl. Cap. B. X. S. 330-333).

Blicken wir hingegen über den Anfang der Menschheitsgeschichte hinaus auf die Entwickelungsgeschichte des organischen Lebens zurück, von der die Menschheit nur die reifste Frucht bildet, so zeigt sich ein Hand in Hand gehendes Aufsteigen von Charakter und Intelligenz in vollkommenem Gleichschritt. Wir müssen schon ziemlich hoch hinaufsteigen im Thierreich, ehe wir Aeusserungen einer Intelligenz finden, welche mehr sind als unmittelbarer Inhalt eines Willensactes, der sich nach dem vorliegenden Motiv richtet. Daher haben die angeborenen Reactionsmodi oder ererbten schlummernden Gedächtnissvorstellungen in jenen niederen Geistessphären noch eine relativ weit höhere Bedeutung (Bd. I, S. 76-77). Aber wie das Unbewusste sich in diesen Hirn- oder Gangliendispositionen Mechanismen zur leichteren Erzielung gewisser Willensreactionen schafft (z.B. die Neigung der Bienen zum Bau sechsseitiger Bienenzellen), so kann sehr wohl etwas ähnliches auch bei abstracten menschlichen Vorstellungen stattfinden, welche häufig wiederkehren, und für die Organisation des gesammten Denkens von besonderer Wichtigkeit sind (z.B. mathematische Begriffe, logische Kategorien, Sprachformen u.s.w.). Wollte man zur Bezeichnung solcher latenten Hirnprädispositionen auf den Ausdruck »angeborene Ideen« recurriren, so wäre dies eine eben so uneigentliche Bezeichnung, wie der andre »schlummernde Gedächtnissvorstellungen« (vgl. I, 261 Anm.), da die Idee oder Vorstellung erst durch die ideale Reaction des Unbewussten zu der materiellen Function hinzukommt, und durch die Prädisposition[270] nicht ersetzt, sondern nur erleichtert wird. Auch ist niemals zu vergessen, dass selbst wenn die bis jetzt ganz unbewiesene Vermuthung von, den angeführten Begriffen entsprechenden Hirnprädispositionen ihre Richtigkeit haben sollte, doch immer die unbewusste psychische Function das Prius des ersten Entstehens einer Schwingungsform sein musste, aus welcher die entsprechende Disposition dem ersten Keime nach entstand, und dass ferner bei andern formalen Vorstellungselementen bestimmte Gründe obiger Vermuthung entgegenstehn (vgl. I, 296-297). Jedenfalls kann man aber so viel festhalten, dass die Steigerung des bewussten Intellects in der Entwickelungsgeschichte der Organisation und der Menschheit nicht nur auf einer Vermehrung der intensiven und extensiven Capacität und Combinationsfähigkeit, sondern auch auf einer Steigerung der ererbten Hirnprädispositionen für alle practisch nutzbaren intellectuellen Bethätigungs-Richtungen beruht. Man darf sich hieran nicht dadurch irre machen lassen, dass beim Menschen (und schon bei den anthropoiden Affen) die embryonale Entwickelung des Hirns ziemlich weit in die Zeit nach der Geburt hinüberragt (vgl. auch I, 304-305).

Dieselben Resultate, welche wir hier auf einem anderen Wege zu gewinnen vorzogen, hätten wir natürlich auch erhalten, wenn wir auf die Resultate der beiden vorigen Capitel unmittelbar weiter gebaut und von der Entstehung der Urzelle an noch einmal die verschiedenen Ursachen der individuellen Abweichungen in's Auge gefasst hätten. Die Uebereinstimmung des Zieles, zu welchem beide Wege führen, mag zur Bekräftigung dienen. Der Unterschied, welcher dabei noch auszugleichen wäre, ist folgender:

Bei niederen Organismen, wo die Abweichungen wesentlich im Körperbau und den organischen Functionen liegen, suchten wir dem entsprechend die Entstehung der individuellen Abweichungen vorwiegend in derjenigen Periode des Lebens, welche Modificationen den geringsten Widerstand entgegensetzt; beim Menschen aber, wo die Abweichungen der geistigen Eigenschaften ein die der körperlichen weit überragendes Interesse verdienen, mussten wir natürlich die Entstehung dieser Abweichungen in derjenigen Periode des Lebens suchen, wo die geistigen Functionen bereits in Thätigkeit sind, also nach der Geburt und zwar nicht in der allerersten Zeit nach derselben; aber auch hier werden wir dieselben nicht in die späteren Perioden des Lebens setzen dürfen, wo die Entwickelung gleichsam verhärtet, sondern in das empfängliche Kindes– und Jugendalter.[271]

Im Wesentlichen aber ist die Quelle der individuellen Unterschiede durch das ganze Reich der Organisation dieselbe: äussere Verhältnisse bedingen einen abweichenden Bau des Organismus, und der abweichende Bau des Organismus bedingt eine Abweichung der auf ihn gerichteten Thätigkeit des All-Einigen Unbewussten. Diese Unterschiede treten hinzu zu dem bereits durch die Verschiedenheit des erfassten Stoffes bedingten, und bilden zusammen diejenige Summe von Unterschieden, welche jedem Individuum seine Einzigkeit verbürgt.[272]

24

In Betreff der näheren Auseinandersetzung mit dieser Theorie so wie über das Verhältniss von Wille und Motiv verweise ich auf meinen Aufsatz zu Julius Bahnsen's Schriften (»Beiträge zur Charakterologie« und »Zum Verhältniss zwischen Wille und Motiv«) in den Philos. Monatsheften Bd. IV. Hft. 5.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 263-273.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
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