3. Malebranche

[197] Spinozismus ist Vollendung des Cartesianismus. Eine Form, die dem Spinozismus an der Seite steht und auch eine vollendete Entwicklung der Cartesianischen Philosophie ist, ist die Form, in der Malebranche diese Philosophie vorgestellt hat; es ist Spinozismus in anderer, frommer, theologischer Form. Um dieser Form willen hat seine Philosophie nicht den Widerspruch gefunden, den Spinoza fand; und dem Malebranche ist darum auch nicht der Vorwurf des Atheismus gemacht worden.

Nicolas Malebranche ist 1638 zu Paris geboren. Er war kränklich, hatte einen übelgewachsenen Körper und wurde daher mit großer Zärtlichkeit erzogen. Er war schüchtern und liebte die Einsamkeit; in seinem 22. Jahre trat er in die congregation de l'oratoire, eine Art geistlicher Orden, ein und widmete sich den Wissenschaften. Zufällig bekam er, beim Vorbeigehen vor einem Buchladen, Cartesius' Werk De homine zu sehen; er las es, und es interessierte ihn so, daß er Herzklopfen beim Lesen bekam und fortzulesen aufhören mußte. Dies entschied; es erwachte in ihm die entschiedenste Neigung zur Philosophie. Er war ein Mann vom edelsten, sanftesten Charakter und der reinsten, unwandelbarsten[197] Frömmigkeit. Er starb zu Paris 1715 im 77. Jahre seines Alters.

Sein Hauptwerk hat den Titel De la recherche de la vérité. Ein Teil davon ist ganz metaphysisch, der größere Teil jedoch ganz empirisch; er handelt z.B. logisch, psychologisch von den Irrtümern im Sehen, Hören, in der Einbildungskraft, dem Verstande. Das Wichtigste ist seine Vorstellung von dem Ursprung unserer Erkenntnis.

Er sagte: »Das Wesen der Seele ist im Denken, wie das der Materie in der Ausdehnung. Das weitere, Empfindung, Einbildung, Wollen, sind Modifikationen des Denkens.« Er fängt mit [diesen] zweien an, es ist absolute Kluft zwischen beiden. Er führte insbesondere die Cartesianische Idee von der Assistenz Gottes im Erkennen aus. Sein Hauptgedanke ist, daß »die Seele ihre Vorstellungen, Begriffe nicht von den äußerlichen Dingen bekommen kann«. Denn sobald Ich und das Ding schlechthin selbständig gegeneinander sind und keine Gemeinschaftlichkeit haben, so können sie ja nicht in Beziehung zueinander treten; sie können also nicht füreinander sein. »Die Körper sind undurchdringlich; ihre Bilder würden einander auf dem Wege zu den Organen zerstören.« Wie kommt Denken und Ausgedehntes zusammen? Dies ist immer ein Hauptpunkt. Wie kommt das Ausgedehnte, Viele in das Einfache, den Geist, da es das Gegenteil ist von dem Einfachen, das Außereinander? »Die Seele kann die Ideen« aber ferner »auch nicht aus sich selbst erzeugen«, »noch können sie angeboren sein«; »Augustin sagt, ›Sprecht nicht, daß ihr selbst euer eigenes Licht seid.‹«

Das Resultat ist dann aber, daß wir alle äußerlichen Dinge nur in Gott erkennen: »Daß wir alle Dinge in Gott sehen«, – Gott selber der Zusammenhang zwischen uns und ihnen ist; er ist Einheit der Dinge und des Denkens. »Gott hat von[198] allem die Ideen, weil er alles erschaffen hat. Gott ist durch seine Allgegenwart aufs Innigste mit den Geistern vereinigt. Gott ist so der Ort der Geister«, das Allgemeine des Geistes, »wie der Raum« das Allgemeine, »der Ort der Körper ist. Die Seele erkennt mithin in Gott, was in ihm ist«, die Körper, »insofern er die erschaffenen Wesen darstellt« (sich vorstellt), »weil dies alles geistig, intellektuell und der Seele gegenwärtig ist.« In Gott sind die Dinge intellektuell, geistig, und wir sind auch intellektuell; wir schauen daher die Dinge in Gott an, wie sie in ihm als intellektuell sind. – Analysiert man dies weiter, so ist es vom Spinozismus nicht unterschieden. Malebranche läßt populärerweise die Seele und die Dinge auch als selbständige bestehen. Dieses verfliegt aber wie ein Rauch, wenn man die Grundlage weiter festhält. »Gott ist allgegenwärtig«; entwickelt man Allgegenwart, so geht das auf Spinozismus, und doch sprechen die Theologen dann gegen das Identitätssystem.

Zu bemerken ist ferner, daß Malebranche auch das Allgemeine, das Denken überhaupt zum Wesentlichen macht. α) Das Allgemeine ist vor dem Besonderen. »Die Seele hat den Begriff des Unendlichen und Allgemeinen; sie erkennt nichts als nur durch die Idee, die sie vom Unendlichen hat. Diese Idee muß daher vorausgehen«; das Allgemeine ist das Erste. »Das Allgemeine ist nicht eine verworrene Vorstellung; es ist nicht nur eine Verwirrung der einzelnen Ideen, nicht eine Vereinigung von einzelnen Dingen.« Bei Locke ist das Einzelne das Erste, woraus das Allgemeine gebildet wird; bei Malebranche ist das Allgemeine die erste Idee im Menschen. »Wenn wir an etwas Besonderes denken wollen, so denken wir vorher an das Allgemeine«; es ist die Grundlage des Besonderen, wie bei den Dingen der Raum. Alles Essentiale ist vor unseren besonderen Vorstellungen, und dieses Essentiale ist das Erste. »Alle Wesen (Essenzen) sind[199] vor unserer Vorstellung; dies können sie nicht sein, als nur, weil Gott im Geiste gegenwärtig ist: er ist der, der alle Dinge in der Einfachheit seiner Natur enthält. – Es scheint, daß der Geist nicht fähig wäre, sich die allgemeinen Begriffe von Gattung, Art und dergleichen vorzustellen, wenn er nicht alle Dinge sähe in Eines eingeschlossen.« Das Allgemeine ist an und für sich, entsteht nicht durch das Besondere. »Da jede existierende Sache ein Einzelnes ist, so kann man nicht sagen, daß man etwas Erschaffenes sehe, wenn man z.B. einen Triangel im allgemeinen sieht.«β) Wir sehen dies Allgemeine durch Gott, den Ort der Geister; da schreien die Theologen über Pantheismus. »Man kann keine Rechenschaft geben, wie der Geist abstrakte und gemeine Wahrheiten erkennt, als durch die Gegenwart dessen, der den Geist erhellen kann auf unendliche Weise«, -der das Allgemeine an und für sich ist. »Wir haben eine deutliche Idee von Gott«, vom Allgemeinsten. »Wir können sie nur haben durch die Union mit ihm; denn diese Idee ist nicht ein Erschaffenes«, ist an und für sich. Es ist wie bei Spinoza: das eine Allgemeine ist Gott, und sofern es bestimmt ist, ist es das Besondere; dies Besondere sehen wir nur im Allgemeinen, wie die Körper im Raume. »Wir konzipieren schon das unendliche Sein, indem wir das Sein konzipieren, unangesehen, ob es endlich oder unendlich ist. Um ein Endliches zu erkennen, müssen wir das Unendliche einschränken; dieses muß also vorangehen. Also erkennt der Geist alles im Unendlichen; es fehlt so viel, daß dieses eine verworrene Vorstellung vieler besonderer Dinge sei, daß vielmehr alle besonderen Vorstellungen nur Partizipationen sind der allgemeinen Idee des Unendlichen, – ebenso wie Gott sein Sein nicht empfängt von den endlichen Kreaturen, sondern alle Kreaturen nur durch ihn bestehen.« So ist das Endliche nicht das Erste; so hat nicht das Unendliche sein[200] Dasein von den endlichen Dingen; das Unendliche ist das Prius, welches vorausgehen muß, wenn wir etwas Besonderes denken sollen. γ) Richtung der Seele zu Gott. Er sagt ebenso, wie Spinoza nach seiner ethischen Seite gesagt hat: »Es ist unmöglich, daß Gott einen anderen Zweck habe als sich selbst (die Heilige Schrift läßt uns nicht daran zweifeln)«; der Wille Gottes kann nur das Gute, schlechthin Allgemeine zum Zwecke haben. »Es ist daher notwendig, daß nicht nur unsere natürliche Liebe, d. i. die Bewegung, die er in unserem Geiste hervorbringt, nach ihm strebt – der Wille überhaupt ist die Liebe zu Gott –, sondern es ist auch unmöglich, daß die Erkenntnis und das Licht, das er unserem Geiste gibt, etwas anderes erkennen lasse, als was in ihm ist«; denn das Denken ist nur in der Einheit mit Gott. »Wenn Gott einen Geist machte und ihm zur Idee oder zum unmittelbaren Gegenstand seiner Erkenntnis die Sonne gäbe, so machte Gott diesen Geist und die Idee dieses Geistes für die Sonne und nicht für sich selbst.« Alle natürliche Liebe, noch mehr die Erkenntnis, das Wollen des Wahrhaften hat Gott zum Zweck. »Alle Bewegungen des Willens für die Kreaturen sind nur Bestimmungen der Bewegung für den Schöpfer.«

Er führt von Augustin an, »›daß wir Gott von diesem Leben an (des cette vie) sehen durch die Erkenntnis, die wir von ewigen Wahrheiten haben. Die Wahrheit ist unerschaffen, unveränderlich, unermeßlich, ewig über alle Dinge. Sie ist wahr durch sich selbst. Sie hat ihre Vollkommenheit von keinem Dinge. Sie macht die Kreaturen vollkommener, und alle Geister suchen auf natürliche Weise sie zu erkennen. Nun ist nichts, das diese Vollkommenheiten habe, als Gott. Also ist die Wahrheit Gott. Wir schauen diese unveränderlichen und ewigen Wahrheiten; also schauen wir Gott.‹« »Gott sieht wohl, aber empfindet die sinnlichen Dinge nicht.[201]

Wenn wir etwas Sinnliches sehen, so befindet sich in unserem Bewußtsein Empfindung und reiner Gedanke. Die Empfindung ist eine Modifikation unseres Geistes. Gott verursacht dieselbe, weil er weiß, daß unsere Seele derselben fähig ist. Die Idee, die mit der Empfindung verbunden ist, ist in Gott; wir sehen sie« usf.

»Diese Beziehung, diese Union unseres Geistes mit dem Verbe de Dieu und unseres Willens mit seiner Liebe ist, daß wir nach dem Ebenbilde Gottes und seiner Ähnlichkeit gemacht sind.« Die Liebe Gottes besteht also darin, seine Affektionen auf die Idee Gottes zu beziehen; wer sich erkennt und seine Affektionen deutlich denkt, liebt Gott. – Es ist so in dieser edlen Seele ganz derselbe Inhalt wie bei Spinoza, nur in einer frömmeren Form. – Sonst finden sich sonstige leere Litaneien von Gott, ein Katechismus für Kinder von acht Jahren über Güte, Gerechtigkeit, Allgegenwart, moralische Weltordnung; Theologen kommen ihr ganzes Leben nicht weiter.

Das Angegebene sind die Hauptideen Malebranches; das übrige ist teils formelle Logik, teils empirische Psychologie. – Malebranche geht zur Abhandlung von Irrtümern über, wie sie entstehen, wie die Sinne, Einbildungskraft, Verstand uns täuschen, wie wir uns benehmen müssen, um dem abzuhelfen. Dann geht Malebranche fort zu den Regeln und Gesetzen, die Wahrheit zu erkennen. Dieses ist formelle Logik und Psychologie; und dieses ist schon hier die Weise, wie über die besonderen Gegenstände reflektiert wird aus formeller Logik und äußeren Tatsachen. Dieses nannte man Philosophie.[202]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 20, Frankfurt am Main 1979, S. 197-203.
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