b. Anwendung auf die Behandlung der Geschichte der Philosophie

[55] Die erste Folge aus dem Gesagten ist diese, daß das Ganze der Geschichte der Philosophie ein in sich notwendiger, konsequenter Fortgang ist; er ist in sich vernünftig, durch seine Idee bestimmt. Die Zufälligkeit muß man mit dem Eintritt in die Philosophie aufgeben. Wie die Entwicklung der Begriffe in der Philosophie notwendig ist, so ist es auch ihre[55] Geschichte. Das Fortleitende ist die innere Dialektik der Gestaltungen. Das Endliche ist nicht wahr, noch wie es sein soll; daß es existiere, dazu gehört Bestimmtheit. Die innere Idee zerstört aber diese endlichen Gestaltungen. Eine Philosophie, die nicht die absolute, mit dem Inhalt identische Form hat, muß vorübergehen, weil ihre Form nicht die wahre ist. A priori ist der Fortgang notwendig. Dies hat die Geschichte der Philosophie als Exempel zu bewähren.

Die zweite Bestimmung, die aus dem Bisherigen folgt, ist die, daß jede Philosophie notwendig gewesen ist und noch ist, keine also untergegangen, sondern alle als Momente eines Ganzen affirmativ in der Philosophie erhalten sind. Wir müssen aber unterscheiden zwischen dem besonderen Prinzip dieser Philosophien als besonderem Prinzip und der Ausführung dieses Prinzips durch die ganze Weltanschauung. Die Prinzipien sind erhalten, die neueste Philosophie ist das Resultat aller vorhergehenden Prinzipien; so ist keine Philosophie widerlegt worden. Was widerlegt worden, ist nicht das Prinzip dieser Philosophie, sondern nur dies, daß dies Prinzip das Letzte, die absolute Bestimmung sei. Die atomistische Philosophie z.B. ist zu der Bestimmung gekommen, daß das Atom das Absolute sei; es ist das unzerschneidbare Eins, was tiefer das Individuelle, Subjektive ist. Das bloße Eins ist das abstrakte Fürsichsein, so wurde das Absolute als unendlich viele Eins gefaßt. Dies atomistische Prinzip ist widerlegt worden; wir sind nicht Atomisten. Der Geist ist auch für sich seiendes Eins, Atom; das ist aber dürftige Bestimmung. Das Eins drückt also nicht das Absolute aus. Aber dies Prinzip ist auch erhalten, nur ist dies nicht die ganze Bestimmung des Absoluten. Diese Widerlegung kommt in allen Entwicklungen vor. Die Entwicklung des Baums ist Widerlegung des Keims, die Blüte die Widerlegung der Blätter, daß sie nicht die höchste, wahrhafte Existenz des Baumes sind. Die Blüte wird endlich widerlegt durch die Frucht; aber sie kann nicht zur Wirklichkeit kommen ohne das Vorhergehen aller früheren Stufen. Das Verhalten[56] gegen eine Philosophie muß also eine affirmative und eine negative Seite enthalten; dann erst lassen wir einer Philosophie Gerechtigkeit widerfahren. Das Affirmative wird später erkannt, im Leben wie in der Wissenschaft; widerlegen ist mithin leichter als rechtfertigen.

Drittens. Wir werden uns besonders auf die Betrachtung der Prinzipien beschränken. Jedes Prinzip hat eine Zeitlang die Herrschaft gehabt; daß in dieser Form dann das Ganze der Weltanschauung ausgeführt worden, das nennt man ein philosophisches System. Man hat auch die ganze Ausführung kennenzulernen. Aber wenn das Prinzip noch abstrakt, ungenügend ist, so ist es nicht hinreichend, die Gestaltungen zu fassen, die zu unserer Weltanschauung gehören. Die dürftige Bestimmung des Eins kann z.B. die Tiefe des Geistes nicht aussprechen. Die Bestimmungen des Cartesius sind von der Art, daß sie für den Mechanismus sehr gut hinreichen, weiter aber nicht; die Darstellungen der anderen Weltanschauungen (z.B. der vegetabilischen und animalischen Natur) sind ungenügend und daher uninteressant. Wir betrachten daher nur die Prinzipien dieser Philosophien; bei konkreteren Philosophien haben wir dann auch die Hauptentwicklungen, Anwendungen zu berücksichtigen. Die Philosophien von untergeordnetem Prinzip sind nicht konsequent; sie haben tiefe Blicke getan, die aber außerhalb ihrer Prinzipien liegen. So haben wir im Timaios des Platon eine Naturphilosophie, deren Ausführung auch empirisch sehr dürftig ist, da sein Prinzip dazu noch nicht hinreichte; und die tiefen Blicke, die nicht fehlen, verdanken wir nicht dem Prinzip.

Viertens. Es ergibt sich daraus die Ansicht für die Geschichte der Philosophie, daß wir in ihr, ob sie gleich Geschichte ist, es doch nicht mit Vergangenem zu tun haben. Der Inhalt dieser Geschichte sind die wissenschaftlichen Produkte der Vernünftigkeit, und diese sind nicht ein Vergängliches. Was in diesem Felde erarbeitet worden, ist das Wahre, und dieses ist ewig, existiert nicht zu einer Zeit und nicht mehr zu einer anderen. Die Körper der Geister, welche die Helden dieser[57] Geschichte sind, ihr zeitliches Leben (die äußeren Schicksale der Philosophen) ist wohl vorübergegangen, aber ihre Werke (der Gedanke, das Prinzip) sind ihnen nicht nachgefolgt. Denn den vernünftigen Inhalt ihrer Werke haben sie sich nicht eingebildet, erträumt, gemeint – Philosophie ist nicht ein Somnambulismus, vielmehr das wachste Bewußtsein –, und ihre Tat ist nur dies, daß sie das an sich Vernünftige aus dem Schachte des Geistes, worin es zunächst nur als Substanz, als inneres Wesen ist, zu Tag ausgebracht, in das Bewußtsein, in das Wissen befördert haben, – ein sukzessives Erwachen. Diese Taten sind daher nicht nur in dem Tempel der Erinnerung niedergelegt, als Bilder von Ehemaligem, sondern sie sind jetzt noch ebenso gegenwärtig, ebenso lebendig als zur Zeit ihres Hervortretens. (Das Prinzip ist nicht vergangen; wir sollen selbst darin präsent sein.) Es sind Wirkungen und Werke, welche nicht durch nachfolgende wieder aufgehoben und zerstört worden sind. Sie haben nicht Leinwand, noch Marmor, noch das Papier, noch die Vorstellung und das Gedächtnis zu dem Elemente, in welchem sie aufbewahrt werden – Elemente, welche selbst vergänglich oder der Boden des Vergänglichen sind –, sondern das Denken (den Begriff), das unvergängliche Wesen des Geistes, wohin nicht Motten noch Diebe dringen. Die Erwerbe des Denkens, als dem Denken eingebildet, machen das Sein des Geistes selbst aus. Diese Erkenntnisse sind eben deswegen nicht eine Gelehrsamkeit, die Kenntnis des Verstorbenen, Begrabenen und Verwesten; die Geschichte der Philosophie hat es mit dem nicht Alternden, gegenwärtig Lebendigen zu tun.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 55-58.
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