b. Geschichtlicher Eintritt eines geistigen Bedürfnisses zum Philosophieren

[70] Sosehr die Philosophie auch, als Denken, Begreifen des Geistes einer Zeit, apriorisch ist, so wesentlich ist sie auch Resultat; der Gedanke ist resultierend, hervorgebracht, er ist die Lebendigkeit, Tätigkeit, sich hervorzubringen. Diese Tätigkeit enthält das wesentliche Moment einer Negation: Hervorbringen ist auch Vernichten; die Philosophie, damit sie sich hervorbringe, hat das Natürliche zu ihrem Ausgangspunkte. Die Philosophie tritt zu einer Zeit auf, wo der Geist eines Volkes sich aus der gleichgültigen Dumpfheit des ersten Naturlebens herausgearbeitet hat, ebenso als aus dem Standpunkt des leidenschaftlichen Interesses, so daß diese Richtung aufs Einzelne sich abgearbeitet hat; der Geist geht über seine natürliche Gestalt hinaus, er geht von seiner realen Sittlichkeit, Kraft des Lebens zum Reflektieren, Begreifen über. Die Folge davon ist, daß er diese substantielle Weise der Existenz, diese Sittlichkeit, diesen Glauben angreift, wankend macht; und damit tritt die Periode des Verderbens ein. Der weitere Fortgang ist dann, daß der Gedanke sich in sich sammelt. Man kann sagen, wo ein Volk aus seinem konkreten Leben überhaupt heraus ist, Trennung und Unterschied der Stände entstanden ist und das Volk sich seinem Untergange nähert, wo ein Bruch eingetreten ist zwischen dem inneren Streben und der äußeren Wirklichkeit, die bisherige Gestalt der Religion usw. nicht mehr genügt, der Geist Gleichgültigkeit an seiner lebendigen Existenz kundgibt oder unbefriedigt in derselben weilt, ein sittliches Leben sich auflöst, – erst dann wird philosophiert. Der Geist flüchtet in die Räume des Gedankens, und gegen die wirkliche Welt bildet er sich ein Reich des Gedankens.

Die Philosophie ist dann die Versöhnung des Verderbens, das der Gedanke angefangen hat. Die Philosophie fängt an mit dem Untergange einer reellen Welt; wenn sie auftritt mit ihren Abstraktionen, grau in grau malend, so ist die[71] Frische der Jugend, der Lebendigkeit schon fort, und es ist ihre Versöhnung eine Versöhnung nicht in der Wirklichkeit, sondern in der ideellen Welt. Die Philosophen in Griechenland haben sich von den Staatsgeschäften zurückgezogen; sie sind Müßiggänger gewesen, wie das Volk sie nannte, und haben sich in die Gedankenwelt zurückgezogen.

Es ist dies eine wesentliche Bestimmung, die bewährt wird in der Geschichte der Philosophie selbst. So ist mit dem Untergang der ionischen Staaten in Kleinasien die ionische Philosophie aufgegangen. Sokrates und Platon hatten keine Freude mehr am athenischen Staatsleben, welches in seinem Untergange begriffen war; Platon suchte ein besseres beim Dionysios zu bewerkstelligen. So tritt in Athen mit dem Verderben des athenischen Volks die Zeit ein, wo die Philosophie dort hervorkommt. In Rom breitete sich die Philosophie erst mit dem Untergange des eigentlichen römischen Lebens, der Republik, unter dem Despotismus der römischen Kaiser aus – in dieser Zeit des Unglücks der Welt und des Untergangs des politischen Lebens, wo das frühere religiöse Leben wankte, alles in Auflösung und Streben nach einem Neuen begriffen war. Mit dem Untergang des römischen Kaisertums, das so groß, reich, prachtvoll, aber innerlich erstorben war, ist verbunden die hohe und höchste Ausbildung der alten Philosophie durch die neuplatonischen alexandrinischen Philosophen. Ebenso im 15. und 16. Jahrhundert, als das germanische Leben des Mittelalters eine andere Form gewann und – während früher das politische Leben noch in Einheit mit der Religion gestanden oder, wenn der Staat auch gegen die Kirche kämpfte, diese dennoch die herrschende blieb – jetzt der Bruch zwischen Staat und Kirche eingetreten war, da ist die Philosophie zunächst zwar nur eingelernt worden, nachher aber in der modernen Zeit selbständig aufgetreten. Die Philosophie tritt so nur in einer gewissen Bildungsepoche des Ganzen ein.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 70-72.
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