a. Die Freiheit des Denkens als Bedingung des Anfangs

[115] Die allgemeine Antwort ist nach dem Gesagten: da fängt die Philosophie an, wo das Allgemeine als das allumfassende Seiende aufgefaßt wird oder wo das Seiende in einer allgemeinen Weise gefaßt wird, wo das Denken des Denkens[115] hervortritt. Wo ist nun dies geschehen? Wo hat dies begonnen? Das ist das Historische der Frage. Das Denken muß für sich sein, in seiner Freiheit zur Existenz kommen, sich vom Natürlichen losreißen und aus dem Versenktsein in die Anschauung heraustreten. Das Denken muß als freies in sich gehen; es ist damit Bewußtsein der Freiheit gesetzt. Der eigentliche Anfang der Philosophie ist da zu machen, wo das Absolute nicht als Vorstellung mehr ist, sondern der freie Gedanke nicht bloß das Absolute denkt, [sondern] die Idee desselben erfaßt: d.h. das Sein (was auch der Gedanke selbst sein kann), welches er als das Wesen der Dinge er kennt, als die absolute Totalität und das immanente Wesen von Allem, – hiermit, wenn es auch sonst als ein äußeres Sein wäre, es doch als Gedanken erfaßt. So ist das einfache, unsinnliche Wesen, welches die Juden als Gott gedacht haben (alle Religion ist Denken), nicht ein Gegenstand der Philosophie, sondern z.B. die Sätze: das Wesen oder Prinzip der Dinge ist das Wasser, oder das Feuer, oder der Gedanke.

Diese allgemeine Bestimmung, das Denken, das sich selbst setzt, ist abstrakte Bestimmtheit. Sie ist der Anfang der Philosophie; dieser ist zugleich ein Geschichtliches, die konkrete Gestalt eines Volkes, deren Prinzip dies ausmacht, was wir gesagt haben. Ein Volk, das dieses Bewußtsein der Freiheit hat, gründet sein Dasein auf dieses Prinzip. Die Gesetzgebung, der ganze Zustand des Volkes hat seinen Grund allein im Begriffe, den der Geist sich von sich macht, in den Kategorien, die er hat. Sagen wir, zum Hervortreten der Philosophie gehört Bewußtsein der Freiheit, so muß dem Volke, wo Philosophie beginnt, dies Prinzip zugrunde liegen; nach der praktischen Seite hängt damit zusammen, daß wirkliche Freiheit, politische Freiheit aufblühe. Diese beginnt nur da, wo das Individuum für sich als Individuum sich weiß, als Allgemeines, als Wesentliches, welches als Individuum einen unendlichen Wert hat, oder wo das Subjekt das Bewußtsein der Persönlichkeit erlangt hat, also schlechthin für sich gelten will. Darin ist das freie Denken[116] des Gegenstandes enthalten – des absoluten, des allgemeinen, wesentlichen Gegenstandes. Denken heißt, etwas in die Form der Allgemeinheit bringen; sich denken heißt, sich in sich als Allgemeines wissen, sich die Bestimmung des Allgemeinen geben, sich auf sich beziehen. Darin ist das Element der praktischen Freiheit enthalten. Das philosophische Denken hat sogleich diesen Zusammenhang, daß der Gedanke als Denken einen allgemeinen Gegenstand vor sich hat, daß er das Allgemeine zu seinem Gegenstande macht oder das Gegenständliche sich als das Allgemeine bestimmt. Die Einzelheit der natürlichen Dinge, die im sinnlichen Bewußtsein sind, bestimmt er als ein Allgemeines, als einen Gedanken, als einen objektiven Gedanken, – das Objektive, aber als Gedanken. Zweitens gehört dazu, daß ich dies Allgemeine jetzt erkenne, bestimme, weiß. Ein wissendes, erkennendes Verhältnis zu dem Allgemeinen tritt nur ein, insofern ich mich für mich halte, erhalte. Insofern das Gegenständliche mir gegenüber als Gegenständliches bleibt und ich es zugleich denke, so ist es das Meinige; und obgleich es mein Denken ist, so gilt es mir doch als das absolut Allgemeine; ich habe mich darin, bin in diesem Objektiven, Unendlichen erhalten, habe Bewußtsein darüber und bleibe auf dem Standpunkt der Gegenständlichkeit stehen.

Dies ist der allgemeine Zusammenhang der politischen Freiheit mit dem Hervortreten der Freiheit des Gedankens. In der Geschichte tritt daher die Philosophie nur da auf, wo und insofern freie Verfassungen sich bilden. Der Geist muß sich trennen von seinem natürlichen Wollen, Versenktsein in den Stoff. Die Gestalt, mit der der Weltgeist anfängt, die der Stufe jener Trennung vorausgeht, ist die Stufe der Einheit des Geistes mit der Natur, welche, als unmittelbar, nicht das Wahrhafte ist. Das ist das orientalische Wesen überhaupt. Die Philosophie beginnt in der griechischen Welt.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 115-117.
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