B. Indische Philosophie

[147] Was das Altertum der indischen Weisheit anbetrifft, so hat man sich das Vergnügen gemacht, an ihre großen Zahlen zu glauben, sie zu ehren; aber durch das Bekanntwerden mit ihren größeren astronomischen Werken hat man jetzt das Uneigentliche dieser großen Zahlen erkannt. Es kann nichts verworrener sein, nichts unvollkommener als die Chronologie der Inder. Kein Volk, das in der Astronomie, Mathematik usf. ausgebildet ist, ist so unfähig für die Geschichte; es ist bei ihnen darin kein Halt, kein Zusammenhang. Man hatte geglaubt, an der Ära des Wikramaditja einen Halt zu haben, der ungefähr 50 v. Chr. gelebt haben soll und unter dessen Regierung der Dichter Kalidasa, Schöpfer der Sakuntala, lebte. Aber bei näherer Untersuchung haben sich ein halbes Dutzend Wikramaditjas gefunden, und gründliche Beleuchtungen haben diese Epoche in unser 11. Jahrhundert[147] verlegt. Die Inder haben Reihenfolgen von Königen, eine ungeheure Menge von Namen; aber alles ist unbestimmt.

Wir wissen, wie der uralte Ruhm dieses Landes schon bis zu den Griechen in hohem Grade vorgedrungen war; wie auch ihnen die Gymnosophisten bekannt waren, fromme Menschen, wenn man sie anders so nennen darf, Menschen, die, einem beschaulichen Leben gewidmet, in einer Abstraktion des äußerlichen Lebens sich befinden und deshalb allen Bedürfnissen entsagen, selbst wie die Kyniker in Horden umherziehend. Diese sind als Philosophen auch besonders den Griechen bekannt geworden, insofern man nämlich die Philosophie auch in diese Abstraktion setzt, in der man von allen Verhältnissen des äußerlichen Lebens abstrahiert; und diese Abstraktion ist ein Grundzug, den wir hervorzuheben und zu betrachten haben.

Die indische Bildung ist sehr entwickelt, großartig; aber ihre Philosophie ist identisch mit ihrer Religion, so daß die Interessen der Religion dieselben sind, die wir in der Philosophie finden. Die Mythologie hat die Seite der Inkarnation, der Individualisierung, von der man glauben könnte, daß sie dem Allgemeinen, der Ideenweise der Philosophie entgegen wäre; aber mit dieser Inkarnation ist es nicht so genau genommen, beinahe alles gilt als solche, und was sich zu bestimmen scheint als Individualität, zerfließt alsobald wieder in dem Dunste des Allgemeinen. Wie nun die religiösen Vorstellungen ungefähr dieselbe allgemeine Grundlage haben wie die Philosophie, so sind die heiligen Bücher, die Wedas, auch die Grundlage für die Philosophie. Wir kennen sie ziemlich gründlich. Sie enthalten vornehmlich Gebete an die vielen Vorstellungen von Gott, Vorschriften über die Zeremonien, Opfer usf. Und sie sind aus den verschiedensten Zeiten; viele Teile sind von hohem Alter, andere sind erst später entstanden, z.B. der über den Dienst des Wischnu. Die Wedas sind die Grundlage der Philosophien der Inder, selbst für die atheistischen Philosophien der Inder; auch diesen fehlt es nicht an Göttern, und es wird wesentliche Rücksicht[148] auf die Wedas genommen. Die indische Philosophie steht daher innerhalb der Religion, wie die scholastische Philosophie innerhalb der christlichen Dogmatik stand, den Glauben der Kirche zugrunde legte, voraussetzte.

Die indische Vorstellung ist dann näher diese. Es ist eine allgemeine Substanz, die abstrakter gefaßt werden kann oder konkreter, aus der alles entsteht. Und diese Produktionen sind dann Götter, und auf der anderen Seite Tiere und die unorganische Natur. Zwischen beiden steht der Mensch; und das Höchste in der Religion wie in der Philosophie ist, daß der Mensch als Bewußtsein sich identisch macht mit der Substanz: durch Andacht, Opfer, strenge Büßungen – und durch Philosophie, durch Beschäftigung mit dem reinen Gedanken.

Erst vor kurzem haben wir bestimmte Kenntnis von der indischen Philosophie erhalten. Im ganzen verstand man darunter die religiösen Vorstellungen; in neueren Zeiten hat man aber wirklich philosophische Werke kennengelernt. Besonders hat uns Colebrooke aus zwei indischen philosophischen Werken Auszüge mitgeteilt; und dies ist das erste, was wir über indische Philosophie haben. Was Friedrich v. Schlegel von seiner Weisheit der Indier spricht, ist nur aus den religiösen Vorstellungen genommen. Er ist einer der ersten Deutschen, der sich mit indischer Philosophie beschäftigt hat; indessen hat dies nicht viel gefruchtet, denn er hat eigentlich nichts weiter gelesen als das Inhaltsverzeichnis zum Ramajana. Nach jenem Auszuge nun »besitzen die Inder alte philosophische Systeme. Sie betrachten sie einesteils als orthodox, und zwar die, welche mit den Wedas übereinkommen; andere gelten als heterodox und als nicht übereinkommend mit der Lehre der heiligen Bücher«. Der eine Teil, »der wesentlich orthodox ist, hat keine andere Absicht,[149] als die Erklärung der Wedas zu erleichtern«, zu unterstützen oder »aus dem Text dieser Grundbücher eine feiner gedachte Psychologie zu ziehen«. Dies System »heißt Mimansa, und es werden zwei Schulen davon angeführt«. Davon verschieden sind andere Systeme, von denen die zwei Hauptsysteme Samkhja und Njaja sind. »Das erste zerfällt wieder in zwei Teile«, die jedoch nur in Ansehung der Form verschieden sind. »Von dem Njaja gilt der Gotama als Urheber«; es ist besonders verwickelt, »führt speziell die Regeln des Räsonnements aus und ist zu vergleichen mit der Logik des Aristoteles«. Von diesen bei den Systemen hat uns nun Colebrooke Auszüge gemacht, und er sagt, man habe viele alte Werke darüber und die versus memoriales daraus seien sehr verbreitet.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 147-150.
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