c. Hegesias

[547] Merkwürdig ist deswegen, daß ein anderer Kyrenaiker, Hegesias, eben diese Unangemessenheit der Empfindung und der Allgemeinheit, welche gegen das Einzelne ist, ebenso wohl das Angenehme als das Unangenehme in sich hat, erkannte.[547] Indem er überhaupt das Allgemeine fester auffaßte und mehr geltend machte, so verschwand ihm alle Bestimmung der Einzelheit, – in der Tat ihr Prinzip verschwand. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß die Empfindung, dies Einzelne, nichts an sich [ist]. Indem er auch die Empfindung, »das Vergnügen zum Zwecke machte«, so ist sie ihm das Allgemeine gewesen. Ist das Vergnügen Zweck, so ist nach dem Inhalt zu fragen; untersucht man diesen Inhalt, so ist jeder Inhalt besonderer, welcher dem Allgemeinen nicht angemessen ist. Die Dialektik des Besonderen tritt ein. Bis zu dieser Konsequenz hat Hegesias das kyrenaische Prinzip verfolgt. Dies Allgemeine ist in dem enthalten, was er aussprach, wie wir es oft genug sagen hören, daß es keine vollkommene Glückseligkeit gebe. Er sagt, der Körper werde von mannigfaltigen Leiden geplagt und die Seele leide da mit; es sei deswegen gleichgültig, Leben oder den Tod zu erwählen. An sich sei nichts angenehm oder unangenehm; d.h. eben, es ist ein leeres Wort, das Vergnügen als das Ansich auszusprechen; denn es ist vielmehr das Nichtige, das keine Bestimmung in sich selbst hat, – Negation objektiver Bestimmtheit. Dies Kriterium des Angenehmen und Unangenehmen sei selber etwas ganz Unbestimmtes, ist so ganz unbestimmt gemacht. Die Seltenheit, Neuheit oder der Überdruß des Vergnügens erzeuge in einigen Vergnügen, in anderen Mißvergnügen. »Armut und Reichtum hat keine Bedeutung für das Angenehme; denn wir sehen die Reichen nicht vorzüglicher die Freude genießen als die Armen. Ebenso ist Sklaverei und Freiheit, edle und unedle Geburt, Ruhm und Unberühmtheit gleichgültig für das Angenehme.«

»Nur dem Toren kann daran gelegen sein, zu leben, dem Weisen ist dies gleichgültig« – und er mithin unabhängig; vor dem Allgemeinen, was so festgehalten ist, schwindet alles Bestimmte, selbst das Leben. »Der Weise lebt nur für sich, um seiner selbst willen; er hält keinen anderen seiner[548] gleich würdig. Denn wenn er auch von anderen« (wie Freunden, von außen usf.) »die größten Vorteile (Genuß) erlangt (karpousthai), so kommt das dem nicht gleich, was er sich selbst gibt.« Der Weise ist, wie wenn jetzt gefragt wird: Was kann ich wissen? Was soll ich glauben? Was darf ich hoffen? Was ist das höchste Interesse des Subjekts? Nicht: Was ist Wahrheit, recht, an und für sich, in sich bestimmt? Sondern: Was ist wahr und recht, insofern es Einsicht, Überzeugung, Wissen des Individuums und Weise seiner Existenz ist? »Hegesias und seine Freunde hoben« (nach Diogenes) »auch die Empfindung auf, weil sie keine richtige (genaue) Erkenntnis gebe.« Das ist im ganzen skeptisch. Sie sagen ferner noch: »Zu tun ist, was mit Gründen das Beste scheint (tôn t' eulogôs phainomenôn panta prattein).« Dem Fehler gehöre Verzeihung; denn niemand fehle freiwillig, sondern durch eine Leidenschaft überwältigt. Der Weise hasse nicht, sondern belehre vielmehr. Sein Bestreben gehe überhaupt nicht sowohl darauf, Güter zu erlangen (en tê agathôn hairesei), als die Übel zu fliehen; sein Zweck sei, ohne Beschwerde und Leid zu leben.

Es ist hier bei Hegesias die größere Konsequenz des Gedankens durchgeführt zu sehen. Wenn vom Einzelnen die Rede ist und er das Wesentliche bleibt, er aber in die Allgemeinheit aufgefaßt wird, so verschwinden in ihm alle die Bestimmtheiten, welche dem Gefühl angehören, es verschwindet ebenso hiermit die Summe der Bestimmtheiten -oder die Einzelheit des Bewußtseins als solche –, des Angenehmen, des Genusses usf., Überhaupt hiermit das Leben als unwesentlich. Das Prinzip der individuellen Freiheit scheint ganz aufs Einzelne zu gehen; wird dies gedacht als Allgemeines, so löst sich alles Besondere auf, es ist gleichgültig. Diese Allgemeinheit und Freiheit des Selbstbewußtseins, die Hegesias als Prinzip heraushob, sprach er (es kommt das Stoische und Epikureische heraus: »Alles ist dasselbe«) als[549] vollkommene Gleichgültigkeit, Zustand des Weisen aus, -eine Gleichgültigkeit, auf die wir alle philosophischen Systeme dieser Zeit werden hinausgehen sehen: dies Aufgeben aller Realität, das gänzliche Insichzurückgehen des Lebens. Es wird erzählt, daß Hegesias, der in Alexandrien lebte, das Lehren von dem damaligen Ptolemäer verboten worden, weil er viele seiner Zuhörer mit einer solchen Gleichgültigkeit und Überdruß des Lebens entflammte, daß sie es sich selbst nahmen.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 547-550.
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