2. Karneades

[348] Gleich berühmt war Karneades, einer der Nachfolger des Arkesilaos in der Akademie, lebte jedoch bedeutend später. Er war Ol. 141, 3 (217 v. Chr.) in Kyrene geboren und starb Ol. 162, 4 (132 v. Chr.), 85 oder 90 Jahre alt. Er lebte in Athen und ist auch dadurch geschichtlich, daß er, wie schon erwähnt, von den Atheniensern mit noch zwei Philosophen nach Rom als Gesandter geschickt wurde. Es war von der Akademie Karneades, von den Stoikern Diogenes und von den Peripatetikern Kritolaos, welche im Jahre 156 v. Chr. zur Zeit des älteren Cato nach Rom kamen. Die Römer haben sich so in Rom selbst mit der griechischen Philosophie bekanntgemacht; jene Philosophen hielten dort Vorträge und Reden. Karneades' Scharfsinn, Beredsamkeit und die Macht des Beweises und sein großer Ruhm erweckten viel Aufmerksamkeit und großen Beifall in Rom. Hier hielt er nach der Weise der Akademiker zwei Reden über die Gerechtigkeit: die eine für die Gerechtigkeit, die andere gegen die Gerechtigkeit. Worauf im allgemeinen beides beruhte, erhellt leicht: In der Rechtfertigung der Gerechtigkeit setzte er das Allgemeine als Prinzip; in der Nichtigkeit derselben aber machte er das Prinzip der Einzelheit, des Eigennutzes geltend. Den jungen Römern, welche eben den Gegensatz des Begriffs wenig kannten, war dies etwas Neues: sie hatten keine Vorstellung von dergleichen Wendungen des Gedankens, sie wurden sehr dadurch angezogen, bald davon eingenommen; und Karneades' Vorträge hatten vielen Zulauf. Aber die alten Römer, besonders der ältere Cato (Censorius), der damals noch lebte, sahen es sehr ungern und eiferten sehr dagegen, weil die Jugend dadurch von der Festigkeit der Vorstellungen und Tugenden, die in Rom galten, abgebracht wurde. Wie das Übel um sich griff, machte Cajus Acilius den Vorschlag im Senate, alle Philosophen aus der Stadt zu verbannen, worunter natürlich, auch ohne namentlich genannt zu sein, auch jene[348] drei Gesandten begriffen waren. Der alte Cato aber bewog den Senat, die Geschäfte mit den Gesandten aufs schleunigste abzumachen, – daß sie wieder fortkämen, daß sie wieder in ihre Schulen kämen und ferner nur die Söhne der Hellenen unterwiesen, die römischen Jünglinge aber auf ihre Gesetze und die Obrigkeiten wie vorher hörten und aus dem Umgange der Senatoren Weisheit lernten. Aber dies Verderben – das Verlangen der Erkenntnis – läßt sich nicht abhalten, sowenig als im Paradiese; die Erkenntnis, welche notwendiges Moment in der Bildung der Völker ist, tritt so als Verderben auf, als Sündenfall. Eine solche Epoche, wo die Wendungen des Gedankens auftreten, muß in die Bildung eines Volkes kommen; was denn als Übel für die alte Verfassung, für die alte Festigkeit angesehen wird. Aber dies Übel des Denkens ist nicht durch Gesetze usf. abzuhalten; es kann und muß sich nur durch sich selbst heilen, wenn durch das Denken selbst auf wahrhafte Weise das Denken zustande gebracht ist.

a) Über die Philosophie des Karneades haben wir eine Darstellung bei Sextus Empiricus; was von Karneades übrig, ist ebenfalls gegen den Dogmatismus der stoischen und epikureischen Philosophie gerichtet. Diese Seite, daß vornehmlich die Natur des Bewußtseins näher beachtet ist, macht seine Sätze interessant. Bei Arkosilaos sahen wir guten Grund. Das Prinzip, was Karneades behauptete, wird so ausgedrückt, daß es absolut kein Kriterium der Wahrheit gebe, »weder Empfindung, noch Vorstellen, noch Denken, noch sonst dergleichen etwas. Erstlich: alles dies – logos, phantasia, aisthêsis – zusammen täuscht uns«, – dieser allgemeine Satz ist noch immer die Mode, empirisch. Zweitens beweist er näher aus Gründen. In der weiteren Entwicklung sehen wir die Natur des Bewußtseins werden, – überhaupt bestimmter ausgesprochen in Folgendem. »Er zeigt nämlich,[349] daß, wenn ein solches Kriterium wäre, so könnte es nicht ohne eine Affektion (Passivität) des Bewußtseins sein, die von der Wahrnehmung herkommt (ou chôris tou apo tês enargeias pathous).« Im allgemeinen ist dies sein Hauptgedanke, daß jedes Kriterium so beschaffen sein müßte, daß es zwei Elemente hat: eins wäre das objektive, seiende, unmittelbar bestimmte, – und das andere Element sei eine Affektion, eine Tätigkeit, Bestimmung des Bewußtseins, und gehöre dem empfindenden, vorstellenden oder denkenden Subjekte an; so ein Bestimmtes wie Empfinden, Vorstellen, Denken könne nicht das Kriterium sein. Diese Tätigkeit des Bewußtseins bestehe darin, daß es das Objektive verändere, also das Objektive nicht, wie es ist, unmittelbar an uns kommen lasse. Es ist dabei dieselbe Trennung, dasselbe Verhältnis vorausgesetzt wie vorhin: daß der Verstand als letztes und schlechthin absolutes Verhältnis anzusehen ist. Sextus überliefert uns seine Gedanken am bestimmtesten.

α) Gegen die Epikureer macht er dies geltend: »Weil das Lebendige von dem Toten durch die Tätigkeit des Empfindens unterschieden ist, so wird es durch dieses sich selbst und das Äußere auffassen«, ist ein Gedoppeltes, Zweifaches; – es ist nicht nur dies Äußere, sondern es selbst. »Aber dies Empfinden«, wie Epikur es vorstellt, »das unbewegt bleibt und apathisch und unveränderlich ist« (sein soll), keine Affektion durch die Tätigkeit des Bewußtseins erleide, »ist weder Empfinden, noch faßt es etwas auf; sondern erst verändert und bestimmt nach dem Einfall des Wirklichen (hypoptôsin tôn enargôn), zeigt das Empfinden die Dinge.« Das Empfinden Epikurs sei ein Seiendes, nicht aber ein Urteilendes; jede Empfindung liegt für sich, folglich ist in ihr kein Prinzip zum Urteilen. Aber die Empfindung muß analysiert werden, daß die Seele einerseits darin bestimmt sei, andererseits aber, daß das Bestimmende zugleich bestimmt[350] werde von der Energie des Subjekts, des Bewußtseins. Indem ich empfinde als Lebendiges, Bewußtes, so geht da eine Veränderung vor; die Empfindung ist nicht unveränderlich. Alles, was im Bewußtsein ist, enthält eine Veränderung, ein Bestimmtwerden nach außen und nach innen. Folglich kann das Kriterium nicht so als einfache Bestimmtheit sein; sondern vielmehr ist es ein Verhältnis in sich, – zwei Momente sind zu unterscheiden, Empfindung und Denken.

β) »Es ist also in dem Bestimmtwerden (Affektion) der Seele von dem Wirklichen (der Wirksamkeit) das Kriterium zu suchen (en ara tô apo tês enargeias pathei tês psychês zêtêteon to kritêrion)«: das Andere ist die Wirksamkeit der Seele; nur in diese Mitte könnte das Kriterium fallen. Solchen Inhalt, Empfindung, Bestimmtsein des Bewußtseins, welches zugleich auch wieder bestimmt ist durch das Bewußtsein, diese Passivität und Aktivität des Bewußtseins, dies Dritte nannte er nun die Vorstellung. Vorstellung macht bei den Stoikern den Inhalt des Denkens aus. Er sagt: »Dies Bestimmtwerden aber muß eine Anzeige sein sowohl seiner selbst als des Erscheinenden oder des Dinges, durch welches es bewirkt wurde; dies pathos ist nichts anderes als die Vorstellung.« Sie ist Erkenntnis des Subjektiven einerseits, andererseits hat sie einen Inhalt, der das Objektive, das Erscheinende ist. »Daher die Vorstellung etwas in dem Lebendigen ist, welches sich selbst und das Andere darstellt (parastatikon)«; und dieses Letztere ist nur vorhanden in der Bestimmtheit des Bewußtseins. »Wenn wir etwas sehen, so hat das Gesicht eine Affektion; und es ist nicht mehr so beschaffen als vor dem Sehen. Durch eine solche Veränderung entsteht in uns ein Doppeltes: eins, die Veränderung selbst, d. i. die Vorstellung«, die subjektive Seite; »das Andere, das, was die Veränderung hervorbrachte«, das Objektive, »das Gesehene«. (Reinhold hat dieses ausgeführt.)[351] Das Bewußtsein ist ein Zweiteiliges; die Empfindung, sagt Karneades, ist nur das Erste. »Gleichwie nun«, sagt er, »das Licht sich selbst zeigt und alles in ihm, so ist das Vorstellen das Haupt (archêgos) des Bewußtseins, Wissens im Tiere und muß, wie das Licht, sich selbst offenbar machen und das Wirkliche (enarges) zeigen, was bewirkte« (das, wodurch das Bewußtsein bestimmt ist). Dieses ist der ganz richtige Standpunkt des Bewußtseins und verständlich; dieses ist aber nur der erscheinende Geist. Bei diesem Standpunkte hat sich die philosophische Bildung aufgehalten. So auch in der modernen Zeit. Vorstellen ist dies Unterscheiden in ihm selbst: sich zeigen und Anderes zeigen. Aber, fährt Karneades fort, das Vorstellen ist also das Allgemeine, es begreift die Empfindung und die kataleptische Phantasie, es ist der Mittelpunkt; »aber es zeigt dieses nicht immer nach der Wahrheit«. Man erwartet jetzt eine Entwicklung dieses Gegensatzes; aber er geht ins Empirische über, gibt nicht die nähere Entwicklung des Gegensatzes. »So wie schlechte Boten lügt es oft und weicht von den Dingen ab, die es schickten so folgt, daß nicht jede Vorstellung ein Kriterium der Wahrheit abgeben könne, sondern nur die, welche, wenn eine, wahr ist.« (Ich bin überzeugt, es ist meine Vorstellung, – immer nur meine Vorstellung; etwas meinen sie gesagt zu haben, daß sie diese Überzeugung haben. Einsicht, objektive Wissenschaft sei doch nur die Überzeugung des anderen; aber der Inhalt ist seiner Natur nach allgemein.) »Weil aber eben keine so beschaffen ist, daß sie nicht auch falsch sein könnte so sind die Vorstellungen ebenso ein gemeinschaftliches Kriterium des Wahren als Falschen; oder sie sind kein Kriterium.« Das ist populär ausgedrückt: Es gibt auch Vorstellung von Nichtwahrem. Karneades berief sich auch darauf, daß eine Vorstellung auch von etwas nicht Existierendem kommen könnte. »Oder die Stoiker sagten: Das ist ein Seiendes, was gedacht ist, es ist von Gegenständlichem[352] aufgefaßt; aber es kann auch Falsches aufgefaßt werden,«

γ) Endlich ist auch das Denken nicht wahr: »Weil nun keine Vorstellung ein Kriterium ist, so ist es auch nicht das Denken.« Die Empfindung als solche ist kein Kriterium, sie ist nicht unveränderlich, nicht apathisch; die Vorstellung ist ebenso kein Kriterium; daher ist es drittens auch das Denken nicht. »Denn dieses hängt von der Vorstellung ab«, – muß mithin ebenso unsicher sein als diese. »Denn zuerst muß ihm« (dem weiteren Denken) »das, worüber es urteilt, Vorstellung sein«, diese muß gegeben sein; »Vorstellung kann aber nicht sein ohne die gedankenlose Empfindung«, – diese könne ja aber wahr oder falsch sein. – Dies ist der Grundzug in der akademischen Philosophie: einerseits der Unterschied von Denken und Seiendem, und dann, daß die Vorstellung eine Einheit von beiden ist, aber nicht diese Einheit an und für sich.

b) Was nun Karneades Affirmatives über das Kriterium vortrug, besteht in Folgendem: Darin, daß allerdings Kriterien zu suchen seien und Kriterien festzusetzen seien zur Führung des Lebens und zur Erwerbung der Glückseligkeit; aber nicht in der spekulativen Betrachtung dessen, was an und für sich ist, sondern mehr in das Psychologische und die endlichen Formen des Bewußtseins übergehend. Es ist dies mit hin auch kein Kriterium für die Wahrheit, sondern zum subjektiven Gebrauche, – subjektive Wahrheit, verständiges Bewußtsein. Es geht auf endlichen Inhalt und richtiges Bewußtsein desselben. Es ist bloß fürs Subjekt gesorgt, – Beziehung aufs Einzelne. Es bleibt immer konkreter Zweck. Wie soll der Mensch sein Leben führen? Das Individuum mußte dieses suchen. Das leitende Prinzip bestimmt Karneades ungefähr wie Arkesilaos, – im allgemeinen als nur in der Form »einer überzeugenden Vorstellung« überhaupt;[353] d.h. sie müsse als etwas Subjektives anerkannt werden. »Sie ist α) eine überzeugende und zugleich β) feste, die sich nach allen Seiten bestimmt hat, und γ) entwickelte Vorstellung«, wenn sie ein Kriterium des Lebens sein soll. Diese Unterscheidungen gehören im ganzen zu einer richtigen Analyse. Dieses kommt auch ungefähr in der formalen Logik vor; es sind etwa dieselben Stufen, wie sie bei Wolff in der klaren, distinkten und adäquaten Vorstellung sich finden.

»Der Unterschied. Die Vorstellung ist Vorstellung von etwas: dessen, woraus sie wird« (Objekt), »und dessen, worin sie wird« (Subjekt); »woraus ist das äußerliche Empfundene, worin ein solches wie der Mensch«, – ohne Interesse ist diese Einteilung. »Auf diese Weise hat sie zwei Verhältnisse: die eine Seite nach dem Gegenstande, die andere zum Vorstellenden (Subjekt). α) Nach jenem Verhältnisse ist sie entweder wahr oder falsch: wahr, wenn sie mit dem Vorgestellten (Gegenstande) übereinstimmt; falsch, wenn nicht.« Aber diese Seite kann hier gar nicht in Betracht kommen, da eben das Urteil über diese Übereinstimmung die Sache gar nicht von der vorgestellten Sache zu trennen imstande ist. β) »Nach dem Verhältnisse zum Vorstellenden ist die eine vorgestellt erscheinend als wahr zu sein, die andere vorgestellt nicht erscheinend als wahr zu sein.« Bloß dieses kommt bei den Akademikern in Betracht: Verhältnis zum Vorstellenden, – jenes, wie wir gesehen, nicht. »Die als wahr vorgestellte heißt bei den Akademikern Emphase (emphasis) und Überzeugung, überzeugende Vorstellung«; solche Vorstellung im Bewußtsein, die Überzeugung, nannten die Akademiker die emphatische Vorstellung. »Die aber nicht als wahr vorgestellt ist, heißt Apemphase (apemphasis) und Nichtüberzeugung und nichtüberzeugende Vorstellung. Denn weder was uns durch sich selbst als unwahr vorgestellt, oder was wahr ist, aber uns nicht vorgestellt ist, überzeugt uns nicht« (Wahres[354] ohne Vorstellung). Die Überzeugung hat nun drei Grade:

α) Es ist eine überzeugende Vorstellung überhaupt, die wahr zu sein scheint und deutlich genug ist; sie hat auch eine gehörige Breite und kann auf vielerlei in recht mancherlei Fällen angewandt werden: sich bewährend immer mehr durch Wiederholungen, wie bei Epikur, macht sie sich immer überzeugender und glaubwürdiger. Es ist keine weitere Bestimmung ihres Inhalts gegeben; das öfter Vorkommende ist empirische Allgemeinheit. Dies ist aber nur eine einzelne Vorstellung, überhaupt eine unmittelbare, einfache geradezu überhaupt.

β) »Weil aber eine Vorstellung nicht für sich allein ist, sondern wie in einer Kette eine von der anderen abhängt, so kommt das zweite Kriterium hinzu, daß sie zugleich überzeugend und fest sei«, zusammenhängend, indem sie abstrakte Gewißheit hat; und daß sie von allen Seiten bestimmt ist, nicht verändert, hin- und hergezogen werden kann (aperispastos) und andere Vorstellungen ihr nicht widersprechen, weil sie gewußt wird in diesem Zusammenhange mit anderen. Dies ist eine ganz richtige Bestimmung, die im allgemeinen überall vorkommt. Es wird nichts allein gesehen oder gesagt, sondern noch eine Menge von Umständen, die in Zusammenhang damit stehen. »Z.B. in der Vorstellung eines Menschen ist mancherlei enthalten, sowohl was ihn selbst betrifft, als was ihn umgibt: jenes z.B. Farbe, Größe, Gestalt, Bewegung, Kleidung usf.; dies Luft, Licht, Freunde und dergleichen. Wenn von solchen Umständen keiner uns ungewiß macht oder abzieht, um sie für falsch zu halten, sondern wenn alle gleichmäßig zusammenstimmen, so wird die Vorstellung um so überzeugender.« Wenn eine Vorstellung auch mit den mannigfaltigen Umständen, in denen sie steht, in Übereinstimmung ist, so ist sie fest. Einen[355] Strick kann man für eine Schlange halten; aber dann sind noch nicht alle Umstände bei demselben beachtet worden.

γ) Endlich soll die Vorstellung entwickelt sein. Das heißt: »Außerdem, wie bei der Beurteilung einer Krankheit alle Symptome zu Rate gezogen werden, eine Vorstellung Überzeugung hat, wenn alle Umstände übereinstimmen, so kommt noch ein drittes Moment hinzu, das die Überzeugung verstärkt, wenn nämlich alle Teile und Momente derselben jeder für sich hinlänglich untersucht worden sind«; sie sind nicht unmittelbar vorauszusetzen. »Das zweite war nur die sich unmittelbar ergebende Übereinstimmung der Umstände; das dritte betrifft nun weiter nichts als die Untersuchung dieser einzelnen Umstände selbst, mit denen die Vorstellung zusammenhängt, in Ansehung der Momente: des Urteilenden, des Beurteilten und dessen, wonach geurteilt wird.« Wer urteilt, bezeugt. »Wie uns bei einer unwichtigen Sache ein Zeuge genügt, bei einer wichtigeren mehrere erforderlich gehalten werden und einer noch notwendigeren die einzelnen Zeugen selbst« (ihre Fähigkeit) »untersucht werden durch Vergleichung der Zeugnisse, so bei geringen Dingen genügt eine allgemeine überzeugende Vorstellung, bei Dingen von einiger Wichtigkeit eine feste, durch die Umstände nicht wankend gemachte; bei solchen aber, die zu einem rechten und glücklichen Leben gehören, eine, die nach ihren Teilen untersucht ist«, – das ist hinreichende Vorstellung, die uns leiten soll in der Führung des Lebens. – Wir sehen (umgekehrt gegen die, welche das Wahre in das Unmittelbare setzen, besonders die Anschauung in neueren Zeiten) unmittelbares Wissen, innere Offenbarung oder äußere Wahrnehmung, diese Art der Gewißheit bei Karneades mit Recht den niedrigsten Rang einnehmen; die entwickelte ist die notwendige, doch erscheint sie nur auf eine formelle Weise.[356]

In der Tat ist die Wahrheit nur im Erkennen, – und die Natur des Erkennens wird nicht erschöpft; aber es ist wesentliches Moment desselben die Entwicklung und das urteilende Bewegen der Momente.

Wir sehen in der Neuen Akademie das Subjektive der Überzeugung ausgesprochen, oder daß nicht die Wahrheit als Wahrheit im Bewußtsein, sondern die Erscheinung oder wesentlich so wie es für das Bewußtsein und die Vorstellung im Bewußtsein ist. So ist nur Überzeugung, subjektive Gewißheit gefordert; von der Wahrheit ist da keine Rede mehr, nur das Relative in Ansehung des Bewußtseins wird gefordert. Das akademische Prinzip beschränkt sich so auf überzeugende Vorstellungen, geht auf das Subjektive der Vorstellungen. Die Stoiker eigentlich setzen ebenso im Denken, Epikur in der Empfindung das Ansich; aber sie nannten dies das Wahre. Die Akademiker stellten es hingegen dem Wahren entgegen und drückten aus, daß es nicht das Seiende als solches ist. Es ist ein Bewußtsein, daß das Ansich wesentlich das Moment des Bewußtseins an ihm habe und ohne es nicht sei, – was die Vorhergehenden auch hatten, aber dessen sie sich nicht bewußt waren. Das Ansich hat wesentliche Beziehung aufs Bewußtsein; dies ist noch entgegengesetzt der Wahrheit, noch nicht daß es als an und für sich sei. Das Moment des Fürsich ist Bewußtsein; das Ansich liegt dem Bewußtsein noch im Hintergrunde, steht ihm noch bevor, aber zieht zugleich das Fürsich als wesentliches Moment herein selbst im Gegensatze des Ansich.

Auf die letzte Spitze getrieben, wird dies, daß schlechthin alles für das Bewußtsein ist und daß die Form eines Seins überhaupt auch als Form ganz verschwindet. Wenn also die Akademiker noch eine Überzeugung, ein Fürwahrhalten dem anderen vorzogen, als worin gleichsam ein Ziel liegt oder vorschwebt von einem ansichseienden Wahren, so bleibt noch dieses einfache Stehenbleiben übrig beim Fürwahrhalten überhaupt ohne Unterschied, oder daß alles auf gleiche Weise nur auf das Bewußtsein bezogen ist und nur[357] als erscheinend überhaupt gilt. – Die Akademie hat so keine feste Dauer weiter gehabt, sondern ist hiermit eigentlich schon in den Skeptizismus hinübergegangen, der bloß das Scheinen, ein subjektives Fürwahrhalten behauptet hat, aber so, daß objektive Wahrheit überhaupt geleugnet worden ist.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 19, Frankfurt am Main 1979, S. 348-358.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie
Universal-Bibliothek, Nr. 4881: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Nr. 612: Georg Wilhelm Friedrich Hegel Werke Band 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 18: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 19: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)

Buchempfehlung

Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich

Deutsche Lieder aus der Schweiz

Deutsche Lieder aus der Schweiz

»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon