10. Kapitel
Von der Sprache und den Wissenschaften

[17] 1. Sprache oder Rede ist eine Verbindung der von den Menschen festgesetzten Worte, um eine Reihe von Gedanken, d.h. Vorstellungen von Dingen, an die wir denken, zu bezeichnen. Wie sich also ein Wort zu einer Vorstellung verhält, so verhält sich die Sprache zu einem Gedankenablauf. Und zwar scheint die Sprache dem Menschen eigentümlich zu sein. Denn wenn auch einige Tiere durch Gewohnheit lernen, unsere Wünsche und Befehle auf Grund von Worten zu verstehen, so erfassen sie dabei doch nicht die eigentümlichen Wortbedeutungen (denn sie wissen ja nicht, zur Bezeichnung welches Gegenstandes die Worte vom Menschen bestimmt sind), sondern die Worte sind ihnen nur Signale.

Die Zeichengebung aber, die mit Hilfe der Stimme zwischen zwei Tieren derselben Art zustande kommt, ist darum keine Sprache, weil jene Laute, durch die Hoffnung, Furcht, Freude usw. ausgedrückt wird, von ihnen nicht willkürlich festgesetzt, sondern durch den Zwang ihrer Natur von ihren Empfindungen mit Gewalt ausgepreßt werden. So kommt es bei Tieren, wenn deren Stimme nur eine kleine Veränderungs möglichkeit hat, vor, daß die einen von den anderen durch die Verschiedenheit der Laute in Gefahren zur Flucht aufgefordert, zum Fressen gerufen, zum Singen ermuntert, zur Liebe gereizt werden. Doch sind diese Laute nicht Sprache, da sie nicht absichtlich bestimmt sind, sondern durch die Gewalt der Natur von der Furcht, Freude, Begierde und den übrigen Empfindungen jedes einzelnen hervorgerufen werden. Das dies kein Sprechen ist, geht auch daraus hervor, daß die Tiere derselben Gattung in allen Erdteilen dieselben Laute hervorbringen, die Menschen dagegen verschiedene Sprachen geschaffen haben.[17]

Darum entbehren auch die Tiere des Verstandes, denn der Verstand wurzelt in dem Verständnis der Wortbedeutungen.

2. Ich habe soeben gesagt, daß die Worte durch menschliche Festsetzung entstanden sind; vielleicht mag nun jemand fragen, welcher Menschen Festsetzungen so grundlegend waren, daß sie eine so große Wohltat, wie die Sprache für uns ist, dem menschlichen Geschlecht werden konnten. Es ist nun nicht glaublich, daß einmal die Menschen zu einer Beratung zusammengekommen seien, um durch einen Beschluß festzusetzen, was die Worte und Sätze bedeuten sollten. Wahrscheinlich dagegen ist, daß es von Anfang an einige wenige Worte gegeben hat, und zwar die Bezeichnungen der bekanntesten Dinge. Der erste Mensch hat nach seiner Willkür nur einigen Tieren, die Gott ihm vorführte, Namen beigelegt; dann anderen Gegenständen, die er am öftesten gewahrte; diese Bezeichnungen ererbten die Söhne von ihren Vätern und vererbten sie ihren Nachkommen, die noch andere hinzu erfanden. Nun wird aber im 2. Kapitel der Genesis erzählt, daß Gott, bevor noch Adam irgendwelchen Dingen Namen gegeben hätte, ihm untersagt habe, die Frucht vom Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen; wie konnte Adam das Verbot Gottes verstehen, da er doch bis dahin noch nicht wußte, was »essen«, was »Frucht«, was »Baum«, was »Erkenntnis«, was endlich »das Gute« oder »das Böse« bedeute? Adam muß also jenes göttliche Verbot nicht aus der Bedeutung der Worte, sondern auf irgendeine übernatürliche Weise verstanden haben, was bald darauf aus Gottes Frage, wer ihm gesagt habe, daß er nackt sei, klar hervorgeht. Wie konnte Adam ebenso die Schlange verstehen, da sie vom Tode sprach, von dem er, der erste Sterbliche, doch keine Vorstellung haben konnte? Diese Vorgänge also sind auf natürliche Weise nicht zu verstehen, und folglich kann die Sprache auf natürliche Weise nicht anders entstanden sein, als durch Willkür des Menschen. Das wird noch deutlicher durch die Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel. Denn zu diesem Zeitpunkte sind die verschiedenen Sprachen entstanden und von den einzelnen Menschen auf die einzelnen Völker übertragen[18] worden. Die Lehre dagegen, daß den einzelnen Dingen entsprechend ihrer Natur die Bezeichnungen beigelegt seien, ist albern. Denn wie hätte das sein können, da doch die Dinge allenthalben von der gleichen Beschaffenheit, die Sprachen indessen verschieden sind? Und welche Ähnlichkeit hat etwa ein Wort, d.h. ein Schall, mit einem Tier, d.h. einem Körper?

3. Die wichtigsten Vorteile, die aus der Sprache erwachsen, sind folgende. Erstens kann der Mensch mit Hilfe der Zahlwörter zählen, und das heißt nicht nur Einheiten zusammenfügen, sondern auch die einzelnen Gegenstände messend bestimmen. So wird bei Körpern jede Art der Ausdehnung, sei es die Länge, oder Länge und Breite, oder Länge, Breite und Dicke, gemessen, sie werden addiert, subtrahiert, multipliziert, dividiert und miteinander verglichen. Zeiten, Bewegung, Gewichte und die Intensitäten der Qualitäten werden berechnet. Hieraus entstehen dem Menschengeschlecht ungeheuere Vorteile, die den übrigen Lebewesen versagt sind. Denn jedermann weiß, in welchem Maße diese Fähigkeiten beim Ausmessen von Körpern, bei der Zeitrechnung, bei der Berechnung der Gestirnbewegungen, bei der Erdbeschreibung, bei Seefahrten, beim Bauen, bei Maschinen und anderen notwendigen Dingen verwendet werden.

Alles dieses beruht auf dem Zählen, das Zählen aber auf der Sprache.

Zweitens verdanken wir der Sprache, daß ein Mensch den anderen belehren, d.h. sein Wissen dem anderen mitteilen, ihn ermahnen, um Rat fragen kann; und so wird das Gut, an sich schon groß, noch größer dadurch, daß man es mitteilen kann.

Eine dritte, und zwar die größte Wohltat der Sprache ist, daß wir befehlen und Befehle verstehen können. Denn ohne diese gäbe es keine Gemeinschaft zwischen den Menschen, keinen Frieden und folglich auch keine Zucht, sondern Wildheit; ohne Sprache würden die Menschen einsam leben und in Schlupfwinkeln jeder für sich hausen, nicht aber gesellig wohnen. Zwar weisen auch einige Tierarten eine Art von Staatenbildung auf, aber diese sind doch für die Wohlfahrt von ziemlich geringer Bedeutung. Sie können[19] daher hier außer Betracht bleiben; auch finden sie sich nur bei waffen- und bedürfnislosen Geschöpfen. Zu diesen gehört aber der Mensch nicht; denn so gewiß Schwerter und Spieße, die Waffen der Menschen, Hörner, Zähne und Stacheln, die Waffen der Tiere, übertreffen, so gewiß ist auch der Mensch, den sogar der künftige Hunger hungrig macht, raublustiger und grausamer als Wölfe, Bären und Schlangen, deren Raubgier nicht länger dauert als ihr Hunger, und die nur grausam sind, wenn sie gereizt sind. Hiernach ist leicht einzusehen, wieviel wir der Sprache verdanken, durch die wir gesellig, friedlich, sorglos, glücklich und behaglich leben – oder doch leben können, wenn wir wollen.

Aber die Sprache hat auch ihre Nachteile. Vermag der Mensch als einziger unter allen Lebewesen vermittelst der allgemeinen Wortbedeutungen sich praktische Gesetze, vor allem für die Lebensordnung, zu ersinnen, so vermag er allein auch nach falschen Regeln zu handeln und diese auch anderen mitzuteilen, damit sie danach handeln. Daher verbreiten sich die Irrtümer des Menschen weiter und sind gefährlicher, als es bei den Tieren möglich ist. Auch kann der Mensch, wenn es ihm beliebt – belieben wird es ihm aber, so oft er meint, daß es für seine Absichten vorteilhaft ist –, vorsätzlich Falsches lehren, d.h. lügen, und die Bedingungen von Gemeinschaft und Frieden unter den Mitmenschen aufheben. Bei tierischen Gesellschaften kann das nicht vorkommen, weil Tiere Gut und Übel nur nach eigenem Empfinden, nicht nach fremden Klagen schätzen, deren Gründe sie nicht begreifen können, wenn sie sie nicht sehen.

Weiter bringt die Gewohnheit zu hören es bisweilen mit sich, daß die Worte der Philosophen und Lehrer unbesehen hingenommen werden, wenn sich ihnen auch kein Sinn entlocken läßt, – was besonders dann der Fall ist, wenn die Worte nur ersonnen sind, um die eigene Unwissenheit zu bemänteln und anscheinend etwas Rechtes zu sagen, während doch nichts mit ihnen ausgedrückt wird.

Endlich verführt die Fähigkeit zu sprechen den Menschen auch dazu, zu reden, wenn er überhaupt nichts denkt, und indem er, was er redet, für wahr hält, sich selbst zu täuschen. Das Tier kann sich nicht selbst täuschen. So[20] wird der Mensch durch die Sprache nicht an sich besser, sondern nur mächtiger.

4. Unter Wissenschaft werden die in den theoretischen Behauptungen, d.h. in den allgemeinen Sätzen und in ihren Folgerungen enthaltenen Wahrheiten verstanden. Wenn es sich bloß um die Richtigkeit einer Tatsache handelt, so spricht man nicht eigentlich von Wissenschaft, sondern nur von Kenntnis. Wissenschaft beginnt erst mit dem Wissen, durch welches wir die Wahrheit einer Behauptung einsehen, sie ist die Kenntnis eines Gegenstandes aus seinen Ursachen oder seiner Entstehung durch richtige Ableitung im Denken. Ein Wissen ist auch die Einsicht in die mögliche Wahrheit eines Satzes; sie wird durch einen an sich berechtigten Schluß von den erfahrungsgemäßen Wirkungen aus gewonnen. Beide Arten von Ableitungen pflegt man als Beweise zu bezeichnen. Indessen gilt die erstere mehr als die letztere, und dies mit Recht. Denn es ist mehr wert zu wissen, wie wir uns der gegenwärtigen Ursachen am besten bedienen können, als die vergangenen, die wir doch nicht zurückrufen können, zu erschließen. Eine demonstrative Erkenntnis a priori ist uns daher nur von den Dingen möglich, deren Erzeugung von dem Willen der Menschen selbst abhängt.

5. So sind streng beweisbar die meisten Sätze über Größe, wie sie die Geometrie als Wissenschaft entwickelt. Da nämlich die Ursachen der Eigenschaften, welche die einzelnen Figuren haben, in den Linien liegen, die wir selbst ziehen, und da die Erzeugung der Figuren von unserem Willen abhängt, so ist zur Erkenntnis jeder beliebigen Eigenschaft einer Figur nichts weiter erforderlich, als daß wir alle Folgerungen aus der Konstruktion ziehen, die wir selbst beim Zeichnen der Figur ausführen. Aus diesem Grunde, weil wir selbst die Figuren hervorbringen, gilt die Geometrie für eine demonstrative Wissenschaft und ist auch streng beweisbar. Dagegen steht es nicht in unserer Macht, die Dinge in der Natur hervorzubringen, die vielmehr durch Gottes Willen geschaffen und überdies zum größten Teil (wie z.B. der Äther) uns unsichtbar sind; daher können wir ihre Eigenschaften nicht aus Ursachen, die wir ja nicht sehen, erklären.[21]

Indessen ist es uns möglich, indem wir aus den uns sichtbaren Eigenschaften rückwärts schließen, zu der Erkenntnis zu gelangen, ihre Ursachen könnten diese oder jene gewesen sein. Diese Demonstrations art nennt man den Beweis a posteriori, die Wissenschaft, die sich ihrer bedient, Physik. Da man aber bei den Naturvorgängen, die sich durch Bewegung vollziehen, nicht vom Späteren auf das Frühere schließen kann ohne Kenntnis dessen, was aus einer bestimmten Bewegungsart folgt, und nicht auf die Folgen der Bewegungen ohne Kenntnis der Quantität, d.h. ohne Geometrie, so muß notwendigerweise einiges auch der Physiker durch Demonstration a priori beweisen. Daher pflegt die Physik, ich meine die wahre Physik, die auf der Mathematik beruht, unter die angewandten mathematischen Wissenschaften gerechnet zu werden. Als mathematische Wissenschaften nämlich hat man sich gewöhnt, diejenigen zu bezeichnen, welche nicht durch Erfahrung und Versuch, sondern von Lehrern und durch Regeln gelernt wurden. Reine Mathematik ist diejenige Wissenschaft, welche es mit den Quantitäten in abstracto zu tun hat, so daß sie die Kenntnis eines Gegenstandes nicht braucht; reine Mathematik sind so Geometrie und Arithmetik. Gemischt mathematisch oder angewandte Mathematik sind die Wissenschaften, bei deren Beweisen auch eine Eigenschaft des Gegenstandes in Betracht kommt; zu ihnen gehören Astronomie, Musik, Physik und die Einzeldisziplinen der Physik, deren es entsprechend der Verschiedenheit der Arten und den Teilen des Universums verschiedene geben kann.

Außerdem läßt sich die Politik und die Ethik, d.h. die Wissenschaft von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, von Billigkeit und Unbilligkeit, apriorisch demonstrieren, weil wir die Prinzipien für die Erkenntnis des Wesens der Gerechtigkeit und der Billigkeit, und umgekehrt der Ungerechtigkeit und Unbilligkeit, d.h. die Ursachen der Gerechtigkeit, nämlich Gesetze und Abmachungen, selbst schaffen. Denn vor festen Abmachungen und Gesetzen gab es bei den Menschen keine Gerechtigkeit noch Ungerechtigkeit, noch auch einen Begriff des allgemeinen Guten oder Schlechten, ebensowenig wie bei den Tieren.[22]

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 17-23.
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