14. Kapitel
Von der Religion

[47] 1. Religion ist die Kulthandlung, durch die Menschen Gott aufrichtig ehren. Es verehren aber Gott die aufrichtig, welche nicht nur an seine Existenz glauben, sondern ihn auch für den allmächtigen und allwissenden Schöpfer und Lenker aller Dinge und außerdem für das Wesen halten, welches alles Glück und Unglück nach seinem Willen verteilt. Die Religion schlechthin, d.h. die natürliche, zerfällt also in zwei Teile; der eine von ihnen ist der Glaube, d.h. die Überzeugung, daß Gott existiert und alles lenkt, der andere ist der Kult. Jener erste, der Glaube an Gott, pflegt »Frömmigkeit« gegen Gott genannt zu werden. Wer diesen Glauben hat, wird notwendig streben, Gott in allen Dingen zu gehorchen, ihm im Glück danken, im Unglück zu ihm beten; das sind die eigentlichen Werke der Frömmigkeit; in ihnen sind Liebe und Furcht enthalten, die uns Gott lieben und fürchten heißen.

2. Indessen soll Gott vom Menschen nicht so geliebt werden, wie der Mensch vom Menschen. Denn unter der Liebe eines Menschen zum anderen verstehen wir immer entweder die Begierde nach Besitz oder Wohlwollen; keines von ihnen kann sinngemäß unter der Liebe zu Gott verstanden werden. Gott lieben heißt Gottes Gebote freudig erfüllen. Gott fürchten heißt sich hüten, in Sünde zu verfallen, so wie wir die Gesetze zu fürchten pflegen.

3. Was aber der Glaube über die Gewißheit hinaus, daß Gott alles erschaffen hat und lenkt, an Lehren über die übersinnliche und dem Menschen nicht zugängliche Welt enthält, wurzelt lediglich in der Autorität ihrer Verkünder.[47]

Diesen zu glauben haben wir nur Anlaß, wenn wir zuvor die Überzeugung haben, daß sie ihr Wissen selber in übernatürlicher Weise empfangen haben. Erst müssen wir an übernatürliche Vorgänge überhaupt glauben und dann erst vermögen wir dem zu glauben, der uns von dem Übernatürlichen erzählt. Mag jemand zur Bekräftigung seiner Lehre sich auf Wunder berufen; wenn er selber keine vollbracht hat: wer wird ihm glauben wollen? Wenn man jedem beliebigen Menschen ohne Wunder glauben müßte, warum sollten wir, da sie in ihren Lehren voneinander abweichen, dem einen mehr als dem anderen glauben? Der wichtigste und gottgefälligste Teil der Religion, der Glaube, darf aber nicht von beliebigen Menschen abhängen; nur denen darf er folgen, die wirkliche Wunder verrichtet haben.

4. Wenn die Religion, abgesehen von der natürlichen Frömmigkeit, von beliebigen Menschen nicht abhängt, so muß sie, da es Wunder schon längst nicht mehr gibt, von den Gesetzen des Staates abhängen. Religion ist nicht Philosophie, sondern Staatsgesetz; und darum ist sie nicht zu erörtern, sondern zu erfüllen. Kein Zweifel kann darüber bestehen, daß man ehrerbietig von Gott denken und ihn lieben, fürchten und verehren müsse. Das ist den Religionen bei allen Völkern gemeinsam. Strittig ist nur, worüber Menschen verschieden denken; im Glauben an Gott sind aber alle einig. Diskussionen über die wissenschaftliche Erkenntnis von Dingen, die nun einmal der Wissenschaft nicht zugänglich sind, zerstören jedoch den Glauben an Gott, soweit dies möglich ist. Denn wäre das Wissen erreicht, so würde damit der Glaube aufgehoben, ebenso wie die Hoffnung aufgehoben wird, sobald der Genuß da ist. Nun lehrt der Apostel, daß, wenn das Reich Gottes kommt, von den drei Tugenden: Glaube, Hoffnung, Liebe, der Glaube und die Hoffnung nicht weiter bestehen, sondern allein die Liebe bleibt. Die Fragen also nach dem Wesen Gottes, des Schöpfers der Natur, sind allzu neugierig und nicht zu den Werken der Frömmigkeit zu rechnen; wer über Gott disputiert, der wünscht nicht, Gott Glauben zu verschaffen – dem ja schon alle glauben –, sondern sich selbst.[48]

5. Da nun Gott lieben dasselbe ist, wie seinen Geboten gehorchen, und Gott fürchten dasselbe wie fürchten, daß man etwas gegen seine Gebote tut, so entsteht die weitere Frage, woher man wisse, was Gott eigentlich befohlen habe. Als Antwort kann darauf gegeben werden: Gott habe, eben indem er dem Menschen die Vernunft verlieh, durch sie sein oberstes Gebot, das er auch in die Herzen aller einsenkte, wissen lassen; daß nämlich niemand einem anderen etwas antun solle, was er für unbillig halten würde, wenn es ihm von einem anderen geschähe. In diesem Gebot ist die ganze Gerechtigkeit und der bürgerliche Gehorsam enthalten. Wer würde, wenn er im Staate mit der höchsten Vollmacht zur Regierung und Gesetzgebung vom Volke betraut wäre, es nicht für unbillig halten, wenn seine Gesetze von irgendeinem Unberufenen mißachtet, sein Ansehen nicht anerkannt oder gar in Zweifel gezogen würde? Wenn du König wärest, würdest du dies für unbillig halten; also hast du in dem Gesetze die sicherste Richtschnur deiner Handlungen. Das aber ist auch ein göttliches Gesetz, das befiehlt, den höchsten Gewalten, d.h. den Gesetzen der höchsten Befehlshaber zu gehorchen.

6. Nun übertreten indes die Menschen die Gebote Gottes und sündigen täglich; wie – so wird man einwenden – verträgt es sich mit der göttlichen Gerechtigkeit, daß Gott sie für ihre Sünden nicht büßen läßt? Wenn ein Mensch sich für das Unrecht, das ihm geschehen ist, niemals rächt, wenn er so verzeiht, daß er überhaupt keine Strafe, nicht einmal Reue verlangt, werden wir ihn für ungerecht halten und nicht vielmehr für heilig? Wenn wir also nicht etwa behaupten wollen, Gott sei weniger mitleidig als die Menschen, so ist nicht einzusehen, warum Gott nicht den Sündern, wenigstens den reuigen, verzeihen sollte, ohne von ihnen selbst oder von anderen für sie Buße empfangen zu haben. Wenn Gott ehemals für die Sünden des Volkes Opfer forderte, so hatten diese Opfer nicht den Sinn der Strafe, sondern waren bestimmt als Zeichen, daß die Sünder sich zu Gott wandten und zum alten Gehorsam zurückkehrten. Und so war der Tod unseres Heilands nicht eine Strafe der Sünder, sondern ein Opfer für die Sünden. Und wenn es heißt, daß er unsere Sünden auf sich nahm,[49] so ist sein Tod doch darum ebensowenig als Strafe aufzufassen, wie früher die Opfer, die nicht Bußen an jenen Tieren für Sünden waren, welche die Juden begangen hatten, sondern Gaben dankbarer Menschen. Gott forderte von den Israeliten jährlich zwei Böcke; der eine von ihnen, der als Gabe dargelegt wurde, wurde geschlachtet; der andere, der mit den Sünden des Volkes beladen war, wurde in die Wüste fortgetrieben, um gleichsam die Sünden des Volkes fortzutragen. Ebenso starb Christus, insofern er am Kreuze geopfert wurde; insofern er aber unsere Sünden trug, ist er wieder auferstanden. Wenn Christus nicht wieder auferweckt ist, so bleiben, sagt der Apostel, unsere Sünden.

7. Da die Frömmigkeit aus Glauben, Gerechtigkeit und Nächstenliebe besteht, Gerechtigkeit aber und Liebe sittliche Tugenden sind, kann ich denen nicht beistimmen, die sie als glänzende Sünden bezeichnen. Wären sie Sünden, so müßte man einem Menschen um so weniger vertrauen, je frömmer er ist, denn um so ungerechter wäre er auch. Was kann also Gott an denen, die Gerechtigkeit üben, mißfallen? Offenbar nur die Heuchelei derer, die ungläubig und daher auch nicht wahrhaft fromm sind. Denn mögen auch viele ihrer Werke gerecht gewesen sein, sie selbst sind es nicht, wenn sie Werke der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit nur getan haben, um Ruhm oder Macht zu erlangen oder um nicht der Strafe zu verfallen. Daher heißt es, Gott habe die Opfer seines Volkes gehaßt, obschon sie an sich keine Sünden sein konnten, da sie von Gott befohlen waren. Aber Gott sind, ebenso wie gerechte Werke ohne Glauben, so auch Opfer und alle Verehrung ohne Gerechtigkeit und Liebe ein Greuel.

8. Kult treiben, d.h. pflegen und verehren, besagt im eigentlichen Sinne, daß wir, was immer, durch Pflichterfüllung und Anstrengung, so gut wir können, zu unserem Besten beeinflussen. So pflegen wir die Erde, damit sie uns reichere Frucht trägt; einflußreiche Menschen verehren wir, um uns zu Einfluß oder zu irgendwelchem Schutze zu verhelfen; so nahen wir uns Gott im Kult, damit er uns gnädig ist. Gotteskult heißt also die Werke verrichten, die Zeichen der Frömmigkeit zu Gott sind. Diese sind Gott[50] angenehm und durch sie allein können wir uns Gott gnädig stimmen. Es sind aber diese Werke meistens von derselben Art wie die, durch die wir anderen Menschen unsere Verehrung bezeugen, nur daß wir für Gott das Beste wählen. Andere Zeichen der Frömmigkeit können wir naturgemäß nicht geben.

Der Kult ist nun entweder privat oder öffentlich. Privat ist der Kult, den die einzelnen Menschen nach eigenem Gutdünken ausüben; öffentlich der, den sie auf Geheiß des Staates ausüben. Der private wiederum wird entweder von einem einzelnen im geheimen ausgeübt oder von mehreren gemeinsam. Jener ist ein Zeichen aufrichtiger Frömmigkeit; denn wozu dient Heuchelei dem, den niemand sieht als nur der Eine, der auch die Heuchelei durchschaut? Der gemeinschaftliche Kult dagegen kann erheuchelt sein und auf eigennützigen Nebenabsichten beruhen. Beim geheimen Kulte gibt es keine Zeremonien. Zeremonien nenne ich die Zeichen der Frömmigkeit, die nicht in der Natur der Sache liegen, sondern willkürlich verordnet und vorgeschrieben sind. Daß wir beim Beten und Anrufen uns niederwerfen oder die Kniee als Zeichen der Demut und Unterwerfung vor Gott beugen, das hat die Natur allen eingepflanzt, denen sie den Glauben an Gott gegeben hat. Im Privatkult mehrerer kann es zugleich Zeremonien geben, weil sie untereinander über das Schickliche der gemeinschaftlichen Handlung gemeinschaftlich beschließen können; wobei es sich versteht, daß dabei nicht gegen die Staatsgesetze verstoßen wird. Leicht aber bietet sich eine Gelegenheit und Anlaß zur Heuchelei, auch wenn diese nicht gewollt wird. Wenn nämlich viele Menschen sich zusammenfinden, fordern sie, wie es in der Natur einer Menge liegt, daß jeder sie mit achtungsvoller Scheu behandele und weder zu ihnen noch vor ihnen läppisch, unüberlegt, bäurisch, unklar, unverständlich und unschön spreche, vielmehr eine würdevolle Haltung, wie man sie zu Hause niemals hat, bewahre. Darum muß, wer zu einer Menge oder vor einer schweigenden Menge redet, sich ein gewichtigeres und heiligeres Wesen als sonst geben. Dieser Schein ist Schauspielerei, aber ohne Schuld, da es die Menge so verlangt, die viel mächtiger als der einzelne ist.[51]

9. Öffentlicher Kult kann nicht ohne Zeremonien sein; denn öffentlicher Kult ist der, welcher auf Befehl des Staates als Zeichen der Verehrung, die man Gott entgegenbringt, von allen Bürgern, und zwar an bestimmten Stellen und zu bestimmten Zeiten, ausgeübt wird. Das Recht zu entscheiden, was angenehm ist, was nicht, steht beim öffentlichen Gotteskult nur dem Staate zu. Zeremonien als Zeichen der frommen Verehrung fließen nicht nur, wie bei dem rein vernünftigen Kult, aus der Natur der Sache selber, sondern können auch vom Staate willkürlich festgesetzt werden. Daher manches sich im Gotteskult bei einem Volke findet, was bei einem anderen nicht ist, so daß bisweilen der Kult der einen von den anderen verlacht wird. Einen von Gott unmittelbar angeordneten Kult hat es niemals gegeben außer bei den Juden, da er selbst ihr König war. Bei den anderen Völkern waren die Zeremonien zwar bei einigen vernünftiger als bei anderen, bei allen indessen gebot die Vernunft, die durch das staatliche Gesetz angeordneten Zeremonien auszuüben.

10. Die Bestandteile des Kults sind teils vernünftig, teils abergläubisch, teils phantastisch. Vernünftig sind zunächst Gebete; durch sie nämlich bekunden wir unseren Glauben, daß alles Gute von Gott sein werde und von ihm allein zu erhoffen sei. Sodann sind Danksagungen vernünftig; durch sie bekunden wir den Glauben, daß wir von Gott, und von seiner Gnade allein, alle Güter erhalten haben. Man sagt, daß fromme Menschen bisweilen durch ihre Gebete Gottes Willen ändern oder gar besiegen. Aber das heißt nicht, daß sie jemals Gott gezwungen hätten, seine Meinung oder seine ewigen Beschlüsse zu ändern; sondern Gott, der Ordner aller Dinge, hat nur gewollt, daß seine Gaben den Gebeten der Menschen einmal vorangehen, ein andermal ihnen folgen; nicht unzutreffend hat man daher sowohl Gebete wie Danksagungen mit einem Worte als »Supplikation« bezeichnet. Vernünftig ferner sind auch allgemeine Fasten und andere Handlungen, durch die wir unsere Trauer über unsere Sünden ausdrücken. Als Zeichen der Reue, d.h. als Zeichen dafür, daß man sich seiner Sünden schämt, bekunden sie, daß wir im Bewußtsein der früheren Fehltritte unseren eigenen Kräften weniger vertrauen und[52] uns in Zukunft davor bewahren wollen, wiederum in Sünden zu verfallen. Demut aber und Trauer pflegen wir durch Sack und Asche und Niederwerfen kund zu tun; nicht als ob Scham und Demut ohne sie nicht aufrichtig wären, sondern weil die Natur selbst lehrt, Gott, obwohl er unsere Herzen sieht, in derselben Weise wie Menschen zu verehren, die nur auf Grund solcher Zeichen über die wahre Reue urteilen können. Wer die Gewißheit der Sündenvergebung erhalten und nun wiederum neuen Mut geschöpft hat, ist nicht länger betrübt, sofern nicht die Scham auch eine Art von Betrübnis ist. Denn wer dann noch wehklagt, bekundet eben hierdurch, daß er zu dem bisherigen Elend sich wieder zurückgeführt fühlt und fürchtet, daß er und seine Sünden, die er nicht lassen kann, der Verwerfung anheimfallen; so wie auf dem Meere der Kaufmann schmerzlich klagt, wenn er sieht, daß er oder seine Ware zugrunde gehen wird. Daher ist beim Gotteskulte Ernst und Trauer ob unsrer Sünden angemessen und natürlich; aber es muß die Trauer nicht eines sich aufbäumenden, sondern eines sich schämenden und demütigen Sinnes sein.

Endlich gehören vernunftgemäß zum öffentlichen Gotteskult Geschenke, d.h. Opfer und Weihungen. Es wäre unvernünftig, wenn wir dem, von dem wir alles empfangen haben, nichts auch unsererseits gäben; so bringen wir Gott Weihgeschenke dar und geben einen Teil zum Unterhalt der Diener des öffentlichen Gotteskultes, entsprechend der Würde dieses Dienstes. Denn wie in der Kirche die Diener Christi von den Evangelien, d.h. von dem, was wegen der frohen Botschaft von dankbaren Menschen gespendet worden war, und wie bei den Juden und den meisten übrigen Völkerschaften die Priester von Geschenken und Opfern erhalten wurden, so erfordert es auch die Billigkeit, daß in jedem Staate die Diener des Gotteskultes von dem erhalten werden, was Gott dargebracht wird, und dieses muß deshalb in jeder Hinsicht das Beste sein.

11. Der abergläubische Kult ist wegen der verschiedenen religiösen Vorstellungen der Menschen, zumal wenn sie an mehrere Götter glaubten (indem sie sich gewissermaßen[53] ein Geschlecht der Himmelsbewohner, gleichsam eine Gemeinde von überirdischen Menschen erdachten) zu mannigfaltig, als daß man ihn beschreiben könnte. Sie glaubten sogar, daß jene Götter eine eigene Sprache im Himmel hätten und dieselben Dinge anders als die Menschen benennen. Der König, auf Erden Romulus geheißen, soll im Himmel Quirinus genannt werden, und so fort, wie man aus den griechischen Dichtern, den Vätern der heidnischen Kirche, ersehen kann; etwa in derselben Weise wie die Kleriker Kirche nennen, was wir als Staat bezeichnen, wie in der Kirche Kanon heißt, was im Staate Gesetz, in der Kirche Heiligkeit, was in der Monarchie Majestät. Und nicht zufrieden mit einer Göttergemeinde, setzten sie eine zweite von Meergottheiten unter der Herrschaft Neptuns und eine dritte in der Unterwelt unter Pluto an. Außerdem gab es kaum einen Gegenstand der Schöpfung, den sie nicht als Gott oder Göttin anriefen; keine Tugend, die nicht verehrt wurde; nur Arbeit und Fleiß, zwei Gottheiten, die an sich gnädig sind, blieben ohne Altar oder Tempel. Kurz, alles was benannt werden konnte, konnte auch zur Gottheit werden. Wie wenig das mit der natürlichen Vernunft im Einklang steht, sieht jeder. Daß man aber diesen Aberglauben Religion nannte, konnte nur ein Gesetz daselbst verordnen, wie es auch nur sonstigen Aberglauben zum Kult erhöhen konnte.

12. Der Zweck, den alle Staaten dem Gotteskult setzen, ist, daß ihr Gott oder ihre Götter sowohl dem Staate selbst als auch den einzelnen Bürgern gnädig sind. Indessen genügt den meisten die göttliche Gnade schlechthin noch nicht; sie denken nämlich so: »Gott wird mir zwar Gutes erweisen, vielleicht aber anderes als ich will; er wird Unglück abwenden, aber vorsichtig muß ich doch sein. Möchte ich doch also wissen, welches die Güter sind, die er mir geben will, und welches das Unglück, das mir so nahekommen soll, daß man es abwehren muß.« Daher scheinen sie bei all ihrer Verehrung dennoch an der göttlichen Weisheit und Geduld immer wieder zu zweifeln. Und so kommt es, daß fast alle Menschen, aus Angst vor der Zukunft, sich Vorzeichen zuwenden, deren Zahl zu groß ist, als daß man sie aufzählen könnte. Sämtliche Vorzeichen sind[54] trügerisch mit einziger Ausnahme der Offenbarungen von Propheten, vorausgesetzt, daß diese durch Wunder als solche sich beglaubigt haben. Was die Astrologie auf Grund der Gestirnbeobachtung über zukünftige Dinge vorauszusagen oder sonst an Horoskopen zu stellen sich vermißt, hat mit Wissenschaft nichts zu tun, sondern ist nur ein Kniff, um reich zu werden und der törichten Menge das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ebenso muß man über die Leute urteilen, die vorgeben, Propheten zu sein, ohne aber ein wirkliches Wunder getan zu haben. Hält also jemand, der sonst keiner Wunder fähig ist, seine Träume für Vorzeichen zukünftiger Ereignisse, so ist das Torheit; verlangt er, daß man ihm glaubt, so ist das Wahnsinn; verkündet er leichtfertig dem Staate Verderben, so ist das ein Verbrechen. Der Glaube vieler, daß Hexen denen schaden, welchen sie übel wollen, ist unrichtig. Wenn aber das Unglück, das sie herabwünschen, eintritt, wie sie wollen, dann meinen sie selbst, das Unglück sei auf ihre Bitten hin von dem Teufel, den sie sich einbilden gesehen zu haben und dessen Hilfe sie sich dienstbar gemacht zu haben glauben, verursacht worden, und bekennen gelegentlich auch die Taten als ihre eigenen. Die Zukunft kennen sie natürlich auch nicht, sie hoffen nur, daß das eintritt, was sie wünschen. Trotzdem werden sie sowohl wegen der Absicht zu schaden als auch wegen des verbrecherischen Kultes nicht mit Unrecht bestraft. Auch bloßen Vorahnungen, d.h. Furcht und Hoffnung, ja den eigenen Träumen hat man prophetische Bedeutung beigelegt. Desgleichen diente der zufällige Flug der Vögel zum Weissagen. Die Eingeweide der Tiere haben die Menschen, in der Meinung, sie verkündeten die Zukunft, begierig beschaut. Die Worte eines absichtslos Sprechenden galten als Vorzeichen von Zukünftigem. Alles Ungewöhnliche wurde als Wunder und Vorzeichen bezeichnet, weil die Götter dadurch die kommenden Ereignisse anzuzeigen schienen. Auch Lose verschiedener Art waren in Gebrauch, d.h. mit allem Zufälligen versuchte man sein Glück. Im übrigen übergehe ich unzählige andere Arten der Vorhersagung, um nicht allzu lange bei der Torheit der Menschen zu verweilen.[55]

13. Zwei Umstände sind es, welche Religionsänderungen herbeizuführen pflegen, beide liegen bei den Priestern: widersinnige Dogmen und ein Lebenswandel, welcher mit der bekannten Religion nicht im Einklang steht. Es war ein Irrtum von sonst so klugen Männern der römischen Kirche, wenn sie meinten, die Unwissenheit der Menge so weit mißbrauchen zu können, daß sie von ihr auch Glauben an einander widersprechende Sätze nicht nur damals, sondern immer forderten. Allmählich wird die Menge gebildeter und versteht endlich einmal die Bedeutung der Worte, die sie gebraucht. Wenn sie dann sieht, daß die Lehrer der Religion Sätze, die nicht zueinander passen, nicht nur selbst aussprechen, sondern auch streng fordern, daß andere so sprechen, so sind sie geneigt, zunächst jene selbst als unwissend zu verachten, dann die Lehre selbst für falsch zu halten und sie entweder zu verbessern oder aus dem Staate zu entfernen. Die Kirchenlehrer müssen sich daher vor allem hüten, in den Gotteskult irgend etwas aus der Lehre der Naturwissenschaft hineinzubringen. Da sie nämlich keine Kenntnis der Naturwissenschaften besitzen, ist es kaum zu vermeiden, daß sie irgendwann einmal auf widersinnige Sätze verfallen. Wenn diese dann auch von Ungelehrten entdeckt werden, ist die Folge, daß die ganze Lehre verachtet wird. So hat die Aufdeckung der Unwissenheit der römischen Kirchenlehrer durch Luther nicht nur die Religion bei uns und bei anderen Völkern zu einem großen Teil zerstört, sondern auch die Völker selbst aus der Abhängigkeit von Rom herausgerissen. Hätten jene über die Transsubstantiation, d.h. über die Natur von Körper und Raum, über die Willensfreiheit, d.h. über das Wesen von Wille und Verstand, und über andere Fragen, die ich der Kürze halber übergehe, geschwiegen, so hätten sie sich erhalten können, was sie gewonnen hatten.

Was die andere Ursache der Religionsänderungen angeht, den Lebenswandel, so ist offenbar keiner aus der Menge so dumm, daß er nicht einen Geistlichen, der an sich schon schwer glaubliche Dinge lehrt, für einen Betrüger hält, wenn er ihn so leben sieht, als ob er selbst nicht an all das glaube; man meint dann, man brauche[56] nicht zu glauben, was jener zu glauben befiehlt; zumal wenn es für den, der den Glauben fordert, nützlich ist, daß die anderen glauben. Wird also, wie stets und überall, gelehrt, der Gläubige solle weniger habsüchtig sein als andere, weniger ehrgeizig, weniger hochmütig, weniger sich den Sinnen ergeben, weniger sich in weltliche, d.h. in politische Angelegenheiten mischen, weniger schelten, weniger neidisch sein, schlichter, d.h. offenherziger als andere und mitleidiger, wahrhaftiger sein, ohne daß doch die, die all dies fordern, selbst so sind, so können sie sich nicht beklagen, wenn ihnen späterhin nicht mehr geglaubt wird. Ich wenigstens bin überzeugt, daß die Ursache für das bedeutende Aufblühen der christlichen Religion zur Zeit der heiligen Apostel zum großen Teil das unheilige Leben der heidnischen Priester war. Natürlich kamen zu den Fehlern, die sie mit der Menge gemein hatten, Streitigkeiten der Staaten untereinander; sie bewachten die Götter, wie die Ammen die kleinen Kinder zu bewachen pflegen; offenbar damit niemand an sie herankäme, von dem sie es nicht wollten, oder sie niemanden liebten, als wen sie selbst empfohlen hatten. Es empfahlen aber die habgierigen Menschen nur die, von welchen sie Wohltaten empfingen.[57]

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 47-58.
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