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CIII

Uebereinstimmung des besondren Charakters des Gedichts mit dem allgemeinen der Gattung, zu der es gehört

[355] Wir haben nunmehr die zwiefache Beurtheilung beendigt, welcher wir dieses Gedicht unterwerfen wollten.

Wenn wir unsern Blick noch einmal auf dieselbe zurückwenden, so finden wir den subjectiven Charakter des Dichters mit den objectiven Gesetzen der Gattung, die er behandelt hat, in durchgängiger Uebereinstimmung.

In ihm fanden wir vorzugsweise rein dichterische Darstellungsgabe, Natur und Wahrheit, Ruhe und Einfachheit, Kraft und diejenige Fülle des Gehalts, welche alle Kräfte des Gemüths, den ganzen Menschen befriedigt. Eben diese Eigenschaften fordert aber auch das epische Gedicht und gerade in eben der Mischung und Stimmung diejenige besondre Art desselben, der wir Herrmann und Dorothea beigezählt haben.

Durch diese Uebereinstimmung nun musste nothwendig das entstehen, wovon wir, als der Totalwirkung des ganzen Gedichts, im Anfange (I.) ausgingen: die strenge und rein poetische Objectivität, die Verbindung vollkommener Individualität mit ächter Idealität. Es musste die Erscheinung hervorkommen, dass wir uns von einem einfachen und schlichten Gegenstande aus in eine Welt idealischer Gestalten versetzt, von einem einzigen Bilde aus zu den höchsten Ansichten erhoben, von den tiefsten Empfindungen durchdrungen fühlen.

Wenn uns die Auseinandersetzung unsrer Gedanken gelungen ist, so muss der Leser nicht nur jetzt einsehen, wie diess zugegangen ist, sondern auch auf das deutlichste verstehen, wie es bloss dadurch möglich war, dass sich der Dichter ausschliesslich unsrer Einbildungskraft bemeisterte.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 355.
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