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Wirkung des Gedichts im Ganzen – Es lässt einen rein dichterischen Eindruck in dem Gemüthe zurück

[133] Die schlichte Einfachheit des geschilderten Gegenstandes und die Grösse und Tiefe der dadurch hervorgebrachten Wirkung, diese beiden Stücke sind es, welche in Göthes[133] Herrmann und Dorothea die Bewunderung des Lesers am stärksten und unwillkührlichsten an sich reissen. Was sich am meisten entgegensteht, was nur dem Genie des Künstlers und auch diesem allein in seinen glücklichsten Stimmungen zu verknüpfen gelingt, finden wir auf einmal vor unsrer Seele gegenwärtig – Gestalten, so wahr und individuell, als nur die Natur und die lebendige Gegenwart sie zu geben, und zugleich so rein und idealisch, als die Wirklichkeit sie niemals darzustellen vermag. In der blossen Schilderung einer einfachen Handlung erkennen wir das treue und vollständige Bild der Welt und der Menschheit.

Der Dichter erzählt die Verbindung eines Sohns aus einer wohlhabenden Bürgerfamilie mit einer Ausgewanderten; er thut nichts, als die einzelnen Momente dieser Handlung, die einzelnen Theile dieses Stoffs auseinanderlegen, die Reihe der Umstände entwickeln, wie sie natürlich und nothwendig aus einander entspringen; er ist nie mit etwas andrem, als mit seinem Gegenstande beschäftigt; alle Hindernisse, durch die er den Knoten der Handlung schürzt, alle Mittel, durch die er ihn wieder löst, sind allein aus diesem und aus den Charakteren der handelnden Personen genommen; alles, wodurch er die Theilnahme des Lesers gewinnt, ist allein in diesem Kreise enthalten, und nie tritt er in seiner eignen Individualität hervor, nie schweift er in eine eigne Betrachtung oder eine eigne Empfindung aus. Und auf welchen Standpunkt sieht sich dadurch der Leser versetzt! Das Leben in seinen grössesten und wichtigsten Verhältnissen und der Mensch in allen bedeutenden Momenten seines Daseyns stehen auf einmal vor ihm da, und er durchschaut sie mit lebendiger Klarheit.

Was seinem Herzen das Wichtigste ist, sein Nachdenken und seine Beobachtung am anhaltendsten beschäftigt, sieht er mit wenigen, aber meisterhaften Zügen in überraschender Wahrheit geschildert – den Wechsel der Alter und Zeiten, die fortschreitende Umänderung in Sitten und Denkungsart, die Hauptstufen menschlicher Cultur und vor allem das Verhältniss häuslicher Bürgertugend und stillen Familienglücks zu dem Schicksal von Nationen und[134] dem Strome ausserordentlicher Ereignisse. Indem er nur den Begebenheiten einer einzelnen Familie zuzuhören glaubt, fühlt er seinen Geist in ernste und allgemeine Betrachtungen versenkt, sein Herz zu wehmuthsvoller Rührung hingerissen, sein ganzes Gemüth hingegen zuletzt wieder durch einfache, aber gediegene Weisheit beruhigt. Denn die wichtige Frage, die sich in unsrer Zeit überall jedem aufdrängen muss: wie soll bei dem allgemeinen Wechsel, in welchem Meynungen, Sitten, Verfassungen und Nationen fortgerissen werden, der Einzelne sich verhalten? findet er nicht allein in den mannigfaltigsten Gestalten aufgeworfen, sondern auch so beantwortet, dass die Antwort ihm mit der Belehrung zugleich Kraft zum Handeln und Muth zum Ausharren in die Seele haucht.

Aus der Mitte aller Verhältnisse seiner Zeit und seines Vaterlandes sieht er sich in eine Welt versetzt, in die er sonst nur, von der Erinnerung an die einfachsten und frühesten Menschenalter erfüllt, an der Hand der Alten einzugehen pflegt. Denn indem ihn der Dichter bei der ganzen Individualität seines Wesens ergreift, führt er ihn zu den reinen und ursprünglichen Naturformen zurück; und indem er in der Wirklichkeit alles vertilgt, was sie zur blossen Wirklichkeit und untauglich zum Gebrauch für die Phantasie macht, benutzt er noch bis auf den kleinsten Zug ihre Individualität.

So rein dichterisch hat er seinen Stoff erfunden und ausgeführt.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 133-135.
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