III

Einfachster Begriff der Kunst

[136] Das Feld, das der Dichter als sein Eigenthum bearbeitet, ist das Gebiet der Einbildungskraft; nur dadurch, dass er diese beschäftigt, und nur in so fern, als er diess stark und[136] ausschliessend thut, verdient er Dichter zu heissen. Die Natur, die sonst nur einen Gegenstand für die sinnliche Anschauung abgiebt, muss er in einen Stoff für die Phantasie umschaffen. Das Wirkliche in ein Bild zu verwandeln, ist die allgemeinste Aufgabe aller Kunst, auf die sich jede andre, mehr oder weniger unmittelbar, zurückbringen lässt.

Um hierin glücklich zu seyn, hat der Künstler nur Einen Weg einzuschlagen. Er muss in unsrer Seele jede Erinnerung an die Wirklichkeit vertilgen und nur die Phantasie allein rege und lebendig erhalten. An seinem Objecte darf er dem Gehalt und selbst der Form nach nur wenig ändern; wenn man die Natur in seinem Bilde wiedererkennen soll, so muss er sie streng und treu nachahmen; es bleibt ihm also nichts übrig, als sich an das Subject zu wenden, auf das er wirken will. Liesse er auch den Gegenstand selbst, bis auf seine kleinsten Flecken, gerade so, wie er in der Natur ist, so hätte er denselben nichts desto weniger zu etwas durchaus Verschiedenem gemacht; denn er hätte ihn in eine andre Sphäre versetzt. In der Wirklichkeit schliesst immer eine Bestimmung jede andere aus; was sie also dem Gegenstande durch ihre Beschaffenheit giebt, das nimmt sie ihm wieder durch ihr ausschliessendes Daseyn; vor der Phantasie hingegen fällt diese Beschränkung, die nur aus der Natur der Wirklichkeit herfliesst, von selbst hinweg, da die Seele, von der Phantasie begeistert, sich über die Wirklichkeit erhebt.

Diese allgemeinste und einfachste Wirkung aller Kunst beweisen am besten diejenigen Gemählde, die sich begnügen, leblose Naturgegenstände darzustellen. Eine Pflanze, eine Frucht ist gerade so gemahlt, wie sie in der Natur vor uns daliegt, es ist nichts ausgelassen, nichts hinzugesetzt; warum macht sie dennoch einen anderen Eindruck, als der wirkliche Gegenstand? warum ist ein solches Stück in Rücksicht auf den allgemeinen Begriff der Kunst durchaus von demselben Werth in seiner Gattung wie jede andere Vorstellung in der ihrigen? Bloss darum, weil es gerade und rein zur Phantasie des Zuschauers geht und eben so rein aus der Phantasie des Künstlers entsprungen ist.

Bis so weit ist die Kunst mehr beschrieben, als definirt;[137] ihr Wesen mehr empirisch erläutert, als philosophisch entwickelt worden. Eine wahre Definition muss sich, wenn sie nicht willkührlich scheinen soll, auf eine Ableitung aus Begriffen gründen. Eine solche kann für die Kunst nur aus der allgemeinen Natur des Gemüths Statt finden.

Wir unterscheiden drei allgemeine Zustände unserer Seele, in denen allen ihre sämmtlichen Kräfte gleich thätig, aber in jedem Einer besondern, als der herrschenden, untergeordnet sind. Wir sind entweder mit dem Sammeln, Ordnen und Anwenden blosser Erfahrungskenntnisse oder mit der Aufsuchung von Begriffen, die von aller Erfahrung unabhängig sind, beschäftigt; oder wir leben mitten in der beschränkten und endlichen Wirklichkeit, aber so, als wäre sie für uns unbeschränkt und unendlich.

Der letztere Zustand kann, das begreift man leicht, nur der Einbildungskraft angehören, der einzigen unter unsern Fähigkeiten, welche widersprechende Eigenschaften zu verbinden im Stande ist. Was in demselben vorgeht, muss eine zwiefache Eigenschaft in sich vereinigen. Es muss 1., ein reines Erzeugniss der Einbildungskraft seyn; und 2., immer eine gewisse, äussere oder innere Realität besitzen. Ohne das erstere wäre die Einbildungskraft nicht herrschend; ohne das andere wären die übrigen Kräfte unsrer Seele nicht zugleich thätig. Da aber die Realität, von der hier die Rede ist, sich nicht auf ein Daseyn in der Wirklichkeit beziehen darf, so kann dieselbe nur auf Gesetzmässigkeit beruhen.

Aus diesem Zustande nun entspringt das Bedürfniss der Kunst.

Daher ist die Kunst die Fertigkeit, die Einbildungskraft nach Gesetzen productiv zu machen; und dieser ihr einfachster Begriff ist zugleich auch ihr höchster.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 136-138.
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