LIV

Allgemeiner Charakter der Epopee – Aus welcher Stimmung der Seele das Bedürfnis zur epischen Dichtung herfliesst?

[251] Wenden wir diese eben beschriebene Methode auf unsern Gegenstand an, so sind die Hauptbestandtheile der Wirkung, welche der epische Dichter hervorbringt, lebendige sinnliche Thätigkeit, fortreissendes Interesse an der Entwicklung der dargestellten Begebenheit, uneigennützige Ruhe und ein weiter und grosser Ueberblick über die Natur und die Menschheit und ihr gegenseitiges Verhältniss gegen einander.

Daher verlangt man objectiv eine wichtige und merkwürdige Handlung, welche eine Masse von Individuen in grosse Bewegung setzt, heroische Personen und Theilnahme höherer Naturen, wodurch der Einbildungskraft der nöthige Schwung ertheilt wird, und einen gewissen Umfang des Plans, innerhalb dessen man durch eine gewisse Menge von Objecten geführt wird. Das Charakteristische der epischen Dichtung scheint also darin zu liegen, dass sie uns ihren Gegenstand auf das lebendigste und sinnlichste darstellt, dass sie durch denselben unserm Blick grosse und weite Aussichten eröfnet und uns in einer solchen Höhe über demselben erhält, in der wir nur theilnehmende Beobachter sind, ihn selbst aber immer als etwas Fremdes ausser uns ansehen.

Alles diess nun trift in derjenigen Stimmung zusammen, in welcher sich unser Gemüth in dem Zustande ruhiger, aber lebendiger Beschauung befindet; dieser Zustand ist es daher, der in dem epischen Gedicht seine Befriedigung sucht, und wir dürfen folglich mit Recht hoffen, durch die genauere Untersuchung desselben unserm Ziele näher zu kommen.[251]

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 251-252.
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