LXIX

Unterschied zwischen der Epopee und andern erzählenden, aber nicht epischen Gedichten

[282] Je mehr wir die Epopee von denjenigen Dichtungsarten absondern, welche mit ihr in gewissen Punkten übereinkommen, desto reiner erhalten wir ihren eignen Begriff, desto klarer springt ihre Bestimmung ins Auge, das Gemüth in dem Zustande sinnlicher Betrachtung und zwar in einem solchen zu befriedigen, in welchem diese Betrachtung sich das weiteste Feld gewählt hat und die dichterische Einbildungskraft ihren Gegenstand auf das sinnlichste darstellt.

Die Tragödie und Idylle unterscheiden sich von ihr der Gattung nach, indem sie auf eine bestimmte Empfindung hinarbeiten; andre gleichfalls erzählende Dichtungsarten theils eben dadurch, theils nur gleichsam dem Grade nach durch ihren geringeren Umfang und ihre geringere dichterische Individualität. Bei diesen letzteren müssen wir um so mehr noch einen Augenblick stehen bleiben, als wir selbst von einem Gedichte zu reden haben, das sich von der grossen und heroischen Epopee zu sichtbar entfernt, um nicht von Vielen dieser eben genannten Gattung blosser Erzählungen beigeschrieben zu werden.

Diese Gattung nun ist ihrer Natur nach so gross und umfasst so verschiedene Arten von Gedichten, dass es schwer ist, dieselben unter Einen allgemeinen Begriff zu[282] bringen. Allein da die meisten derselben, wie z.B. die Ballade, Romanze, Legende, die blosse Erzählung u.s.f. so himmelweit von der Epopee verschieden sind, dass sie auf keine Weise damit verwechselt werden können; so brauchen wir hier nur bei Einer Art derselben stehen zu bleiben, von der uns die Alten vorzüglich einige Muster hinterlassen haben und die man bald Fragmente aus grösseren epischen Gedichten, bald kleine Epopeen selbst nennt, wie z.B. einige Theokritische Stücke, Hero und Leander und andre mehr. Diese kommen in der Versart, in dem Ton der Erzählung, in der Behandlung überhaupt so sehr mit einzelnen Stellen der eigentlich epischen Gedichte überein, dass sie sich, wenn nicht einige unter ihnen wirklich Bruchstücke verloren gegangener Epopeen sind, nur, wie wir eben sagten, durch ihren geringeren Umfang davon zu unterscheiden scheinen. Da sich indess auch für die eigentliche Epopee kein absolutes Maass der Länge oder der Grösse überhaupt bestimmen lässt, so muss diesem Unterschiede noch etwas Wesentlicheres zum Grunde liegen.

Wir haben im Vorigen das epische Gedicht mit der Geschichte verglichen; wir haben zu finden geglaubt, dass der Zustand des Gemüths, in welchem es ein Bedürfniss der Geschichte (im eigentlichsten und höchsten Sinne dieses Worts) empfindet, demjenigen ähnlich ist, in welchem mit Hülfe der Einbildungskraft und der Kunst die Epopee entsteht. Wie sich nun die Geschichte (welche ihren Stoff immer als ein Ganzes behandelt) von der blossen historischen Erzählung (welche sich begnügt, die Begebenheiten als eine blosse Reihe darzustellen) unterscheidet, so unterscheidet sich die Epopee von dem bloss historischen Gedicht. Diess letztere, das der ersten und höchsten Bedingung jedes Kunstwerks, ein in sich vollendetes, unabhängiges Ganzes zu seyn, widerspricht, konnte sich nicht über die Kindheit der Poesie hinaus erhalten und hat nachher immer nur in den Zeiten des Verfalls des Geschmacks einige seltne Anhänger gefunden. Es steht ungefähr auf der gleichen Stufe mit denjenigen Gedichten,[283] die man philosophische oder wissenschaftliche nennen kann, wie wir z.B. noch einige Fragmente aus den Werken alter Philosophen besitzen, und die sich eben so wesentlich von der didaktischen, einer Gattung, deren Wesen bis jetzt noch fast gar nicht erörtert ist, unterscheiden.

So lange jene historischen Gedichte noch das reine Werk der Natur, nicht das Product eines ausgearteten Geschmacks waren, so lange besassen sie einen eignen Reiz und eine eigne Schönheit. Diess sehen wir noch jetzt an Hesiodus Theogonie und seinem Schild des Herkules, die man, obgleich ihr Inhalt eigentlich mythisch ist, schwerlich zu einer andern Gattung rechnen kann, da sie sich weder der allgemeinen noch der dichterischen Behandlung des Stoffs nach zu dem Range der Epopee erheben. Von gleicher Art waren vermuthlich eine nicht geringe Anzahl verloren gegangener Gedichte und namentlich dasjenige, welches die Rückkunft der griechischen Helden aus Troja beschrieb.

Um von dem historischen Gedichte zur Epopee überzugehen, bedurfte es vielleicht nur eines freundlicheren Himmels, einer glücklicheren Organisation, eines helleren Blicks, eines mehr durch die Natur begünstigten Dichtergenies, und vielleicht war nur diess der Unterschied zwischen dem glücklichen Sohne Ioniens und dem Bewohner des traurigen Askra, das, »im Winter beschwerlich und beschwerlich im Sommer,« dem Genius der Kunst keinen gleich freien Aufflug verstattete. Nur das epische Gedicht stellt sich auf eine Höhe, von welcher herab es seinen Gegenstand zugleich übersieht und beherrscht; nur der epische Dichter fasst alles, was die Welt und die Menschheit enthält, mit Einem Blicke zusammen; nur er beschäftigt nicht bloss die Wissbegierde, sondern die nachdenkende Betrachtung; nur er weckt daher die Thätigkeit der Kräfte, durch die wir über den Kreis der Wirklichkeit hinausgehen. Eben darum aber, weil er, auch schon ohne auf seine künstlerische Bestimmung zu sehen, eine weitere Sphäre wählt, erfüllt er auch jene Bestimmung besser und[284] stellt auch in künstlerischer Hinsicht ein grösseres und mehr vollendetes Ganzes auf.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 282-285.
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