LXV

Worin beide Dichtungsarten mit einander übereinkommen? und worin sie von einander abweichen?

[274] Will man nunmehr den Unterschied beider Dichtungsarten, nachdem man sich desselben im Allgemeinen nach der Erfahrung und dem wirklichen Eindruck versichert hat, auf durchaus bestimmte Begriffe zurückführen, so muss man zuerst auf die Entstehung jeder Dichtungsart, darauf nemlich, dass die dichterische Einbildungskraft einen Zustand bearbeitet, den sie in dem Gemüthe schon vorfindet, zurückgehn und hernach genau dasjenige absondern, was beide, sowohl in der ihnen zum Grunde liegenden Stimmung, als in ihren letzten Resultaten mit einander gemein haben. Denn nicht darauf, dass die eine einseitiger oder weniger vermögend wäre, sondern nur[274] darauf, dass bei beiden in dem gleichen Umfang und der gleichen Wirkung dieselben Bestandtheile anders gemischt sind, beruhet ihr Unterschied.

Mit einander gemein nun haben beide:

1., dass, wenn die Stimmung, aus der sie hervorgehn, vollkommen seyn soll, in derselben der ganze Mensch, sein empfindendes Wesen eben so wohl, als sein betrachtendes thätig seyn muss;

2., dass es dieselbe Einbildungskraft, dieselbe Kunst ist, welche beide bildet und deren Gepräge sie gleich stark an sich tragen sollen.

Verschieden aber sind sie hingegen dadurch:

1., dass, obgleich beide alle unsre Kräfte in Bewegung setzen, diese doch bei jeder in andrem Verhältniss und auf andre Weise gemischt sind, jeder also ein verschiedner Gemüthszustand, der Epopee der der Beschauung, in dem das Object, der Tragödie ein zu einer bestimmten Empfindung determinirter, in dem das Subject herrscht, zum Grunde liegt;

2., dass diese beiden, so wie sie an sich verschieden sind, eben so sich auch verschieden zu der Natur der Kunst verhalten und daher, von ihr bearbeitet, wieder verschiedene Resultate geben.

Der Zustand der blossen Betrachtung führt nothwendig Ruhe und (in so fern als unser Verstand darin eine bedeutende Rolle spielt) ein Streben nach Totalität mit sich; aber er lässt unser Gefühl sehr unbeschäftigt, unsre Sinne selbst wirken nicht lebendig, unter ihnen vorzüglich nur der kälteste, das Auge, mit.

In dem Zustande der Empfindung haben wir unmittelbar Einen Gegenstand im Auge und befinden uns nothwendig in einer gewissen Spannung und Unruhe; aber der ganze sinnliche Theil unsres Wesens ist in starker und lebendiger Mitwirkung.

Wenn nun die Einbildungskraft diese beiden Zustände in dichterische Stimmungen umwandeln will, so hat sie dem ersteren ihre Sinnlichkeit, dem letzteren ihre Idealität zu leihen.[275]

Denn der erstere ist ihr der Form nach ähnlich, der Materie nach aber unähnlich; sie muss ihn daher mit neuer Kraft ausrüsten; aber die Ruhe und Totalität, die sie immer mit sich führt, gehen doppelt stark und fühlbar daraus hervor.

Beide aber soll sie auch in dem andern, der, gerade umgekehrt, in der Materie ihr ähnlich, aber in der Form ihr entgegengesetzt ist, geltend machen. Hier braucht sie also eine andre Art der Kraft, eine solche, welche aus widersprechenden Elementen selbst etwas Neues zu schaffen vermag.

Hierbei müssen also auch durchaus andre Resultate entstehen.

Um neben der unabänderlichen Einseitigkeit der Empfindung nicht ihre Anforderungen an Totalität aufzugeben, muss sie, statt eine unendliche Fläche vor uns auszubreiten, einen einzelnen Punkt so gleichsam schwängern, dass in ihm allein alles enthalten sey; statt den Menschen und die Welt eigentlich darzustellen, einen solchen Zustand der Empfindung hervorbringen, in welchen der volle Eindruck von beiden übergegangen ist und aus dem das innige Gefühl für beide gleich leicht und voll ausströmen kann.

Um bei der unruhigen Anspannung, die mit der Empfindung immer verbunden ist, noch die ihr eigenthümliche Ruhe zu behaupten, muss sie den verwegnen Schritt wagen, den Menschen und die Welt, die sie nicht mehr zu schlichten und zu versöhnen im Stande ist, durch einen kühnen Streich auf einmal von einander zu trennen und dem ersteren dadurch seine Ruhe wiederzugeben, dass sie ihn, alle seine Kraft in ihm selbst versammelnd, unabhängig und selbstthätig macht.

Da nemlich hier in dem ursprünglichen Zustande des Gemüths und in dem, welchen die Kunst herrschend machen will, nicht, wie bei dem epischen Dichter, von selbst Harmonie vorhanden ist, so können beide nur durch die Lösung des Widerspruchs verbunden werden, in dem sie stehen, und in der Stimmung, die hierdurch bewirkt wird, bleibt immer etwas Gewaltsames und Heftiges übrig.[276] Diess aber wird in dem Grade gemildert werden, in welchem der Dichter mehr seine Natur, als jenen ursprünglichen Zustand, die Heftigkeit der Leidenschaft, heraushebt; und wie sehr es ihm hierin gelingen kann, lehrt uns das Beispiel der Alten.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 274-277.
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