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Zweiter und höherer Begriff des Idealischen, als eines Etwas, das alle Wirklichkeit übertrift

[140] Dadurch, dass der Dichter seinen Gegenstand, selbst wenn er ihn unmittelbar aus der Natur entlehnt, doch immer von neuem durch seine Einbildungskraft erzeugt, wird die Gestalt bestimmt, die er demselben über seine wirkliche Beschaffenheit oder auch ausser derselben giebt. Denn er tilgt nun jeden Zug in ihm aus, der nur in Zufälligkeiten seinen Grund hat, macht jeden von dem andern und das Ganze nur von sich selbst abhängig; und die Einheit, die dadurch in ihm herrschend wird, ist dennoch keine Einheit des Begriffs, sondern durchaus nur eine Einheit der Form. Denn nur unter der doppelten Bedingung völliger Selbstbestimmung und völliger Formalität ist die Einbildungskraft im Stande, ihn sich selbst zu bilden. Gelingt ihm diese Arbeit so stellt er zuletzt lauter reine Charakterformen[140] auf, blosse Gestalten, welche die lautre, nicht durch einzelne wechselnde Umstände entstellte Natur an sich tragen; so ist jede mit dem Gepräge ihrer Eigenthümlichkeit gestempelt, und diese Eigenthümlichkeit liegt bloss in der Form, kann nie anders, als durch Anschauen gefasst, nie aber in einem Begriff ausgedrückt werden.

Nun erst wird die Natur durch die Kunst verschönt und veredelt, nun erst erhält der Begriff des Idealischen seine höhere Bedeutung dessen, was keine Wirklichkeit erreichen und kein Ausdruck erschöpfen kann.

Auch hier muss man sich indess sorgfältig in Acht nehmen, weder die Art, wie der Künstler hierbei verfährt, zu verkennen, noch etwa gar in den Irrthum zu verfallen, als dürfe er nur grosse, nur fehlerfreie Charaktere schildern. Welches auch die Eigenthümlichkeit sey, die sie an sich tragen, wenn sie nur ganz und allein in ihnen erscheint, wenn sie nur als ein reines Object der Einbildungskraft behandelt ist – diess ist die einzige Forderung, der ihm Genüge zu leisten obliegt. Um aber diese zu erfüllen, hat er nicht eben Züge wegzulassen oder hinzuzufügen; wenigstens wird nur selten gerade darauf das Wesentliche seiner Wirkung beruhen. Selbst bei der sklavischsten Anhänglichkeit an die Natur kann er diese noch in ihrem ganzen Umfang erreichen. Denn sie hängt nicht von einzelnen Zügen, einzelnen Umänderungen, nur von der Farbe, von dem Glanze ab, den er seinem Werke überhaupt leiht, nur davon, dass er ihm eine Einheit und eine Formalität giebt, die unmittelbar zu unsrer Phantasie spricht, ihn uns unmittelbar als ein reines Werk der Einbildungskraft und als vollkommen real, durchaus übereinstimmend mit den Gesetzen der Natur und unsers Gemüths, also idealisch zeigt. Wodurch er indess eigentlich diese Uebereinstimmung der Form unsrer Einbildungskraft mit der Form der Natur bewirkt, vermöchte er selbst nicht zu sagen; und so wie man es zu beschreiben versucht, geräth man immer in die Gefahr, es in eine bloss mechanische Arbeit zu verwandeln.

Der Ausdruck, dass der Dichter die Natur erhöht, muss daher immer mit Behutsamkeit gebraucht werden. Denn[141] genau genommen ist er schlechterdings uneigentlich. Das Werk des Künstlers und das Werk der Natur stehen nicht mehr in demselben Gebiet und erlauben daher auch nicht mehr denselben Maassstab.

Der Gebrauch, den man vom Idealischen im Intellectuellen und Moralischen macht, verleitet sehr leicht, sich darunter immer etwas durch den Verstand Gedachtes oder durch das Herz Empfundenes vorzustellen. Aber dieser Begriff ist ebensowohl auf bloss sinnliche Gegenstände anwendbar, und man darf sich nur an das vorhin gegebene Beispiel, den einfachsten Fall der Kunst, die blosse Nachahmung der Natur erinnern, um sich hiervon zu überzeugen.

An einer schön gemahlten Frucht bemerkt man ein Schwellen der Contoure, eine Zartheit des Fleisches, eine flaumartige Weichheit der Haut, ein Glühen der Farben, das – so sehr ist es bloss idealisch – die Natur nie zu erreichen vermag. Man kann darum nicht sagen, dass die gemahlte Frucht schöner sey, als die natürliche; die Natur ist überhaupt nie schön, als insofern die Phantasie sie sich vorstellt. Man kann nicht sagen, dass die Umrisse in der Natur weniger vollendet, die Farben minder lebhaft wären; der Unterschied ist allein der, dass die Wirklichkeit zu den Sinnen, die Kunst zu der Phantasie spricht, dass jene harte und schneidende Umrisse, diese zwar immer bestimmte, aber immer auch unendliche giebt.

Selbst der unläugbare Widerspruch, der in diesen beiden Eigenschaften enthalten ist, beweist, dass alle Wirkung der Kunst nur durch die Stimmung des Empfindenden hervorgebracht wird. Denn sonst ist es offenbar klar, dass der Umriss, der bestimmt, zugleich begränzt, dass, indem er angiebt, wie weit eine Linie, eine Fläche gehen soll, er zugleich alles Fernere ausschliesst; aber die Phantasie begränzt nie, sie geht immer ins Unendliche fort, und sobald also das Genie des Künstlers sie begeistert, verbindet sie ihre Unendlichkeit mit den Formen, die er ihr vorlegt, ohne sich um einen Widerspruch zu bekümmern, der zwar den Verstand und die blosse sinnliche Anschauung, nicht aber sie angeht.[142]

Eben daher kommt es auch, dass die Kunst uns immer in uns zurück versenkt, da die Wirklichkeit uns aus uns herausführt, unsre Begierde zum Genuss, unsre Thätigkeit zum Handeln weckt. Das Werk der Kunst ist zu edel für den Genuss und erregt zu sehr die innersten Kräfte des Menschen, um sie plötzlich in Bewegung zu setzen; es flösst die höchste und schönste Begeisterung zu grossen Thaten ein, aber erst indem es den Menschen sich selbst giebt, schenkt es ihn der Welt. Es spricht gar nicht zu demjenigen Theile seines Wesens, mit dem er der Wirklichkeit angehört.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 140-143.
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