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Einfluss des Idealischen in der Darstellung auf die Totalität

[150] Ist die Seele einmal künstlerisch gestimmt, hat ihr der Dichter einmal jene zarte Empfänglichkeit, jene leise Erregbarkeit mitgetheilt, so hängt es allein von seiner Willkühr ab, wie viele einzelne Objecte er ihr wirklich vorführen, wie viele einzelne Empfindungen er in ihr rege machen will. Diess bestimmt die Natur seiner Gattung, die Wahl seines Stoffs, endlich seine Individualität. Dass es ihm nicht schwer werden kann, aus jeglichem Stoff eine grosse Mannigfaltigkeit von Figuren zu entwickeln, ist schon im Vorigen gezeigt worden; aber es ist auch noch mehr. Die Art, wie er auch nur eine einzige dichterisch aufstellen muss, bereitet die Phantasie von selbst zu, nicht bloss mehrere, sondern gerade so viele andre an dieselbe anzuknüpfen, als mit dieser einen geschlossenen Kreis bilden.

Dadurch, dass die Einbildungskraft das Aehnliche mit dem Aehnlichen verknüpft und selbst zwischen das Unähnliche noch verbindende Mittelglieder einschiebt, bringt sie nur Mannigfaltigkeit, nicht Totalität hervor. Zu dieser letzteren muss sie und ihr Object dichterisch gestimmt und zubereitet seyn, und diess ist der Fall, wenn der Dichter idealische Figuren aufstellt.

Zu beidem, zu dem Idealischen und zur Totalität erhebt er sich nur in dem Gebiete der Einbildungskraft, nur nachdem er das beschränkte und getrennte Daseyn der Wirklichkeit, wie durch einen Machtspruch, aufgehoben hat. Beides muss daher in genauer Verbindung mit einander stehen. Auch beruht das Idealische offenbar auf der Möglichkeit der Totalität; denn das Unterscheidende des Ideals besteht gerade darin, dass es sich alles, aber alles nur auf seine Weise aneignet. Und wiederum begränzt das Idealische die Totalität, da es die Menge der einzelnen Bestandtheile immer[150] in Massen zusammenschliesst, die, aus Einem Punkt betrachtet, ein Ganzes für den Verstand oder die Anschauung bilden.

Wir nennen ein Ideal die Darstellung einer Idee in einem Individuum. Wir fordern daher von demselben eine Eigenthümlichkeit ohne Einseitigkeit. Eine solche aber erhalten wir nicht anders, als indem wir alles, was einem gewissen Charakter (der jeder idealischen Figur immer zum Grunde liegen muss) wesentlich ist, zusammennehmen, alles hingegen, was er nur zufällig an sich trägt, davon absondern. Alle Ideale erscheinen daher vollkommen als das und nur als das, was sie wirklich sind. Dadurch fällt bei mehreren unmittelbar der Punkt ihrer gemeinsamen Berührung und der Punkt ihres individuellen Contrastes ins Auge. Aber es kann auch nicht leicht eine Lücke unausgefüllt bleiben. Wo zwischen zweien ein Mittelglied fehlt, da muss man es unmittelbar auch gewahr werden.

Durch diese Aehnlichkeit, die nie zur Einerleiheit, und diese Verschiedenheit, die nie zur Unverträglichkeit ausartet, sondert sich nun die ganze Welt vor dem idealisirenden Blick in eine unendliche Zahl einzelner Massen ab. Die Individuen treten in Gruppen, kleinere unter diesen in grössere, alle in ein Ganzes zusammen. Nicht anders ergeht es dem Dichter. Auch er zeigt nichts als Massen. Sein ganzer Stoff verbindet eine solche Beweglichkeit mit solchem Streben nach Form, dass er, wo man nur einschneidet, überall in organische Massen auseinanderflieht, wo man verbindet, sich wieder zu solchen zusammenrollt.

An demselben Faden nun, an dem das Genie des Dichters diese mannigfaltigen Gruppen aus einander entwickelt, an demselben geht die Phantasie seines Lesers von der einen zur andern über; und sobald einmal eine einzige idealisch gezeichnete Figur da steht, nöthigt sie von selbst, andre und wieder andre und so viele hervorzurufen, bis sie einen Kreis vollendet hat, der für den jedesmaligen Grad der künstlerischen Stimmung hinlänglich gross und umfassend ist.

Alle Gestalten nun, die der Dichter aufführen kann, haben einen gemeinsamen Verbindungspunkt, ihre Beziehung[151] auf die menschliche Natur. Von diesem Mittelpunkt aus kann er schlechterdings alle bewegen und beherrschen. Viele aber sind noch bei weitem näher mit einander verwandt und bilden eine noch viel enger geschlossene Sphäre.

Wenn nun beides, die Einbildungskraft so gestimmt und der Gegenstand so bearbeitet ist, dass die erstere bei keinem einzelnen Punkt stehen bleiben und der letztere sie auf keinen einzelnen heften will; so kann nicht anders, als erst mit der Vollendung des ganzen Kreises, mit vollkommner Totalität Stillstand und Ruhe eintreten.

Wie ist es z.B. möglich, das Alter des Jünglings lebendig zu schildern, ohne dass der Phantasie zugleich das Kind, aus dem er hervorgeht, der Mann, dem seine Kraft entgegenreift, und der Greis, in dem die letzten Funken seines auflodernden Feuers verglimmen, gegenwärtig wären? Wie den Helden zu mahlen, der auf dem Schlachtfelde, mitten unter Leichnamen, dem Tod gebeut und das Verderben planmässig anordnet, ohne den ruhigen Denker, der zwischen seinen einsamen Wänden, fern von aller ausübenden Thätigkeit und den Ereignissen des Tages fremd, nur Wahrheiten nachspäht, die vielleicht erst kommenden Jahrhunderten segenvolle Früchte versprechen, oder den ruhigen Pflüger, der, nur für das Bedürfniss des Tages besorgt, nur auf den Wechsel der sich immer von neuem abrollenden Jahrszeiten beschränkt, bloss der künftigen Ernte gedenkt, zugleich vor die Seele zu rufen?

Ein Zustand führt immer von selbst die übrigen herbei, durch welche nur gemeinschaftlich der einzelne Mensch oder die ganze Menschheit bestehen kann; und diess ist eben der grosse Gewinnst, den die künstlerisch gestimmte Einbildungskraft auch dem moralischen Menschen gewährt, dass sie ihn gewissermassen alle Epochen des Lebens zu vereinigen, die verflossene noch fortzusetzen und die nächstfolgende schon anzufangen lehrt, ohne dass er darum doch der gegenwärtigen weniger eigenthümlich angehört.[152]

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 150-153.
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