XCIV

Charaktere des Gedichts – Allgemeine Gattung, zu der dieselben gehören – Ihre Aehnlichkeit mit den Homerischen

[336] Die wahre und natürliche und zugleich feste und bestimmte Zeichnung der Charaktere fällt zu sehr ins Auge,[336] als dass sie besonders herausgehoben werden dürfte. Aber die Behandlung derselben ist auch durchaus episch; sie ist es in der allgemeinen Verwandtschaft aller mit einander, in der besondern Verschiedenheit der Einzelnen, in dem Verhältniss dieser letztern zu einander und zu dem Ganzen.

Alle Charaktere unsres Gedichts gehören sämmtlich zu Einer Gattung; denn alle Personen sind aus derselben Classe, aus dem wohlhabenden Theil des Bürgerstandes genommen. Was wir in allen schon auf den ersten Anblick bemerken, ist ein Uebergewicht der ursprünglichen Natur über die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten, der natürlichen Kräfte über die Cultur. Der Geistliche und der Apotheker besitzen zwar auch einen höheren Grad von dieser; aber in dem letzteren ist es eine schiefe und halbe, die ihm, ohne übrigens seiner natürlichen Gutmüthigkeit zu schaden, einen gewissen komischen Anstrich giebt; in dem Geistlichen ist sie vorzugsweise auf die moralische Bildung und das Glück des Menschen, also wieder auf das Einfachste und Natürlichste bezogen, was gedacht werden kann. In allen finden wir daher einen schlichten und geraden Sinn, reine und natürliche Empfindungen, menschliche und billige Gesinnungen; in allen mit Einem Wort einen sehr gesunden Menschenverstand und eine gewisse wackre Gutmüthigkeit. Im Apotheker allein kann man gegen beide einige Einwürfe erheben; in ihm ist der erstere hie und da durch Halbcultur verschroben und die letztere mehr Schwäche, als Verdienst. In dem Geistlichen sind beide durch mehr Nachdenken und Kenntnisse zugleich erhöht und verändert. Aber am reinsten herrscht dieser Charakter in Herrmann, in seinen Eltern und Dorotheen.

Bei allen andern findet sich ferner ein Zusatz, der sie in den Kreis gewöhnlicher Menschen herabzieht und sie manchmal näher an das Gemeine, Platte und Rohe bringt. Der Vater wird bisweilen einseitig und hart; der Geistliche ist oft pedantisch, der Apotheker lächerlich. Nur Herrmann, seine Mutter und Dorothea bleiben durchaus[337] gut und edel; sie sind eigentlich durchaus von gleichem absoluten Werthe, nur sind auch unter ihnen wieder die Nüancen fein und schön angegeben. Die Mutter ist von der thätigsten Bravheit, der reinsten Güte, der zartesten Feinheit; aber sie ist es gleichsam ohne ihr eignes Verdienst und ohne es selbst zu wissen. Alles liegt allein in ihrer Weiblichkeit und ihrem Muttergefühl; immer stellt sie sich nur hinter ihren Herrmann zurück; immer sieht sie sich allein nur in ihm. Herrmann hat die schönste Anlage zu allem Besten und Höchsten, aber sie ist mehr stark angedeutet, als schon hinlänglich ausgebildet. Dorothea allein zeigt einen gewissen idealischen Schwung, nur sie erhebt sich zu einer Höhe, auf der sie, wie uns die letzten Gespräche zwischen ihr und Herrmann deutlich beweisen, nur halb von den übrigen verstanden, allein dasteht. Mit Herrmann würden wir gern einzelne Tage verleben, ihn gern mitten in seiner Geschäftigkeit, in seinem Familienkreise erblicken; die zärtliche Sorgfalt der Mutter würde uns herzliche Thränen ablocken, die gutmüthige Lebhaftigkeit des Vaters uns ergötzen und freuen; aber nur mit Dorotheen möchten wir umgehen, nur sie könnten wir zur Vertrauten unsres Herzens wählen.

Im Ganzen, sehen wir an dieser allgemeinen Uebersicht, kommen die Charaktere unsres Dichters sehr mit den Homerischen überein. Auch in Homers Helden finden wir vor allem ein Herz in der Brust, »das Unrecht hasset und Unbill,« einen geraden Sinn, der alles Verworrene kurz und einfach schlichtet, und einen Muth, der das einmal Beschlossene kraftvoll ausführt. Auch in der äussern Lebensart ist eine auf fallende Aehnlichkeit. Auch Homers Helden hat »Arbeit den Arm und die Füsse mächtig gestärket«; auch sie sind selbst Ackersleute, schirren, wie Herrmann, ihre Pferde selbst an und spannen sie selbst an den Wagen. Ja, was noch mehr ist, in dem Richter der ausgewanderten Gemeine erkennen wir an der Weisheit, mit der er den unbesonnenen Haufen zur Ordnung und zum Frieden ermahnt, an dem Ansehen, mit dem er durch wenige Worte ihre Streitigkeiten schlichtet und die Ruhe[338] wiederherstellt, den Führer der Völker wieder, wie ihn uns Homer, und noch mehr, wie ihn uns Hesiodus schildert. Von dieser Seite hat daher die eigentlich heroische Epopee nur sehr wenig vor der unsrigen voraus.

Kein epischer Dichter nemlich kann das Heldenmässige in den Charakteren entbehren. Denn wenn der lyrische und der tragische nur einzelne Empfindungen und Leidenschaften brauchen, so braucht er hingegen das ganze Wesen des Menschen. Dieses ganze Wesen also muss auch nothwendig etwas Dichterisches besitzen, ausser seiner innern und eigentlichen Treflichkeit zugleich ein taugliches Object für die Einbildungskraft abgeben. Diess aber, wozu vor allem andern Selbstständigkeit und Natur gehört, ist es gerade, was wir heldenmässig nennen. Wer also in der Epopee mit Glück aufgeführt werden soll, muss selbst und aus eigner und aus lebendiger Kraft handeln.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 336-339.
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