XCIX

Diction

[348] Die Schönheit der Diction kann nur an einzelnen Beispielen gezeigt, nur empfunden werden; wir schränken uns daher hier bloss auf eine einzige Bemerkung und auf wenige Worte ein.

In keiner Stelle dieses ganzen Gedichts wird man einen überflüssigen Schmuck, eine müssige Metapher, überhaupt einen Ausdruck antreffen, der stärker oder prächtiger wäre, als der Gegenstand ihn verlangt. Nichts kann dem oratorischen Styl in der Poesie, den wir vorzüglich in den Werken der Ausländer so oft bemerken, mehr entgegengesetzt seyn, als der Vortrag unseres Dichters. Ueberall schildert er nur die Sache, aber überall auch diese in ihrem ganzen und vollen Gehalt.

Wo er grosse Naturscenen beschreibt, ist sein Ausdruck. sinnlich, prächtig und kühn. Herrmann und Dorothea gehen am Abend, da eben die Sonne sich zum Untergange neigt, nach Hause. Wie gross mahlt er uns dieses Schauspiel!


Also gingen die zwei entgegen der sinkenden Sonne,

Die in Wolken sich tief, gewitterdrohend, verhüllte,

Aus dem Schleier, bald hier, bald dort, mit glühenden Blicken

Stralend über das Feld die ahndungsvolle Beleuchtung.


Es wird Nacht.


Herrlich glänzte der Mond, der volle, vom Himmel herunter;

Nacht war's, völlig bedeckt das letzte Schimmern der Sonne;

Und so lagen vor ihnen in Massen gegen einander

Lichter, hell wie der Tag, und Schatten dunkeler Nächte.


Ein reifes Kornfeld wogt, von der Luft bewegt, hin und wieder. Er nennt es eine goldene Kraft, die sich im ganzen[348] Felde bewegt. Aber selbst bei diesen Schilderungen sieht man schon, dass er auch sinnliche Gegenstände nicht bloss den Sinnen mahlt, dass er immer die Einbildungskraft zugleich tiefer stimmt, alles charakteristisch, alles in Beziehung auf die ganze Wirkung zeichnet, die es auf uns ausübt.

Denn dies ist die grosse und schöne Eigenthümlichkeit seines Vertrags. So wie er, wie wir im ersten Theil dieses Aufsatzes sahen, überhaupt immer zugleich und in Eins verbunden die Gestalt mit der Gesinnung darstellt, eben so wählt er auch immer einen Ausdruck, der zugleich beides, die erstere in aller ihrer Individualität, die letztere in aller ihrer Wahrheit zeigt. Daher besitzt er eine so eigenthümliche Kunst, viel durch einzelne Beiwörter auszurichten, am meisten durch die, welche auf den ersten Anblick und aus dem Zusammenhang herausgerissen äusserst einfach scheinen, wie der wohlgebildete Sohn, der menschliche Hauswirth, die zuverlässige Gattin.

Wo er Empfindungen mahlt oder Wahrheiten ausführt, da vermeidet er jedes Wort, das übertrieben oder künstlich scheinen oder mit dem nur überhaupt das einfachste und schlichteste Gefühl nicht sympathisiren könnte; dagegen knüpft er immer alles das auf einmal zusammen, was mit dieser Einfachheit verträglich ist. Dadurch bekommt jeder seiner Aussprüche ein gewisses gediegnes und antikes Ansehn und die Begriffe von Tugend, von Glück, von Leben gewinnen bei ihm einen Gehalt und eine Fülle, die wir vergebens bei einem andern Dichter suchen. Es scheinen nicht mehr Worte und Schilderungen; es scheinen diese Gefühle selbst, wie sie aus dem Herzen hervorströmen. Man lese die Rede des Geistlichen über das Bild des Todes (S. 203.) noch einmal nach und fühle selbst, welch ein Leben aus diesen Versen hervorquillt.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 348-349.
Lizenz:
Kategorien: