Achter Teil

[90] Was Ihr der Fruchtbarkeit meiner Erfindung zuschreibt, erwiderte Philo, liegt vielmehr durchaus in der Natur der Sache. In Sachen, die dem engen Bereich menschlicher Vernunft angehören, ist gewöhnlich bloß eine Entscheidung, welche Wahrscheinlichkeit oder Überzeugung mit sich bringt, und alle andere Annahmen erscheinen[90] einem Manne von gesundem Urteil durchaus unmöglich und widersprechend. Aber in Fragen, wie die vorliegenden, mögen hundert widersprechende Ansichten eine Art von unvollkommener Analogie für sich haben und Erfindung hat hier offenes Feld der Ausführung. Ohne große Anstrengung des Denkens könnte ich, wie ich glaube, in einem Augenblick andere Systeme von Kosmogonie vorlegen, welche einigen schwachen Schimmer von Wahrheit hätten, obgleich Tausend und eine Million gegen eins steht, daß Eures oder eines von den meinigen das wahre System seien.

Wie wenn ich z.B. die alte Epikureische Hypothese wieder auferwecken würde? Gewöhnlich und ich glaube mit Recht wird dafür gehalten, daß es das absurdeste System ist, das je aufgestellt wurde; dennoch weiß ich nicht, ob es nicht mit wenigen Änderungen zu einem schwachen Anschein von Wahrscheinlichkeit gebracht werden könnte. Statt, wie Epikur tat, die Materie als unendlich anzunehmen, wollen wir sie endlich setzen. Eine endliche Anzahl von Teilen ist bloß einer endlichen Umstellung fähig; und, bei ewiger Dauer, müßte es eintreten, daß jede mögliche Ordnung oder Stellung unendlich viele Male hergestellt wird. Diese Welt also mit allen ihren Ereignissen, bis auf die kleinsten, ist früher hervorgebracht und zerstört und wird wieder hervorgebracht und zerstört ohne Grenze und Aufhören. Niemand der von der Bedeutung des Unendlichen im Verhältnis zum Endlichen einen Begriff hat, wird an dieser Aufstellung zweifeln.

Doch das setzt voraus, sagte Demea, daß die Materie Bewegung erlangen kann, ohne ein willkürliches Agens oder ohne ersten Beweger.

Und wo ist die Schwierigkeit dieser Annahme, erwiderte Philo? Vor der Erfahrung ist jedes Ereignis gleich schwierig und unfaßbar, nach der Erfahrung ist es gleich leicht und verständlich. Bewegung entsteht in vielen Fällen, durch Schwere, durch Elastizität, durch Elektrizität, in der Materie ohne irgendein bekanntes willkürliches Agens, und in allen diesen Fällen eine unbekannte willkürliche Ursache annehmen, ist reine Hypothese,[91] die keine Vorteile bietet. Die Entstehung von Bewegung in der Materie selbst ist a priori ebenso faßlich als ihre Mitteilung von einem Geiste oder Denken.

Ferner, warum sollte nicht Bewegung durch alle Ewigkeit durch Stoß mitgeteilt werden, und dasselbe oder nahezu dasselbe Quantum noch im Universum vorhanden sein? So viel durch Zusammensetzung verloren wurde, so viel wurde durch Auflösung gewonnen. Und was immer die Ursachen sein mögen, es ist eine sichere Tatsache, daß die Materie, soweit menschliche Erfahrung und Überlieferung reicht, in beständiger Bewegung ist und war. Es ist wahrscheinlich in dem ganzen Universum gegenwärtig kein Teil der Materie in absoluter Ruhe.

Und eben diese Erwägung, fuhr Philo fort, auf welche wir in dem Laufe der Erörterung gestoßen sind, gibt eine neue kosmogonische Hypothese an die Hand, die nicht absolut absurd oder unannehmbar ist. Gibt es ein System, eine Ordnung, einen Haushalt der Dinge, bei welchem die Materie die beständige Bewegung, die ihr wesentlich zu sein scheint, erhalten, und dabei in den Formen, die sie hervorbringt, Beständigkeit bewahren kann? Sicher gibt es einen solchen Haushalt; denn er hat in der vorliegenden Welt tatsächlich Wirklichkeit. Die beständige Bewegung der Materie mußte also in weniger als unendlichen Umstellungen diesen Haushalt oder diese Ordnung hervorbringen, und diese Ordnung erhält sich selbst, nachdem sie einmal errichtet ist, durch ihre eigene Natur für lange Zeiten, wenn nicht für alle Ewigkeit.

Wo immer aber Materie so abgewogen, angeordnet und zusammengepaßt ist, daß sie in beständiger Bewegung verharrt und dennoch Beständigkeit in den Formen bewahrt, da muß notwendig ihre Zusammenstellung ganz den Anschein von Kunst und planvoller Anlage gewähren, die wir gegenwärtig beobachten. Alle Teile jeder Form müssen eine Beziehung aufeinander und auf das Ganze haben; und das Ganze selbst muß eine Beziehung zu den andern Teilen des Universums haben, zu dem Element, worin die Form subsistiert, zu dem Material,[92] womit es seinen Verlust und Abgang ersetzt, und zu jeder andern Form, welche feindlich oder freundlich ist. Ein Mangel in einem dieser Stücke zerstört die Form, und die Materie, woraus sie gebildet wurde, ist wieder in Freiheit und kehrt zurück in unregelmäßige Bewegungen und Gärungen, bis sie sich wieder zu einer andern regelmäßigen Form verbindet. Sind keine Formen vorhanden sie aufzunehmen und gibt es eine große Menge solcher aufgelösten Materie in dem Universum, so ist das Universum selbst ganz aus der Ordnung, mag es nun der schwache Embryo einer Welt in ihrer ersten Entstehung sein, die so zerstört ist, oder der verrottete Leichnam einer in Alter und Schwachheit erlöschenden. In jedem Fall folgt ein Chaos, bis endliche, wenn auch unzählige Umwälzungen zuletzt Formen hervor bringen, deren Teile und Glieder so angepaßt sind, daß sie unter beständigem Wechsel der Materie die Formen erhalten.

Nehmen wir an (wir wollen die Darstellung variieren), daß Materie durch eine blinde ungeleitete Kraft in irgendeine Anordnung gebracht sei, so ist offenbar, daß diese erste Anordnung wahrscheinlich so verwirrt und ungeordnet als möglich sein wird, ohne irgendeine Ähnlichkeit mit den Werken menschlicher Erfindung, welche außer der Symmetrie der Teile eine Anpassung von Mitteln zu Zielen und eine Neigung zur Selbsterhaltung an sich tragen. Wenn die wirkende Kraft nach dieser Betätigung aufhört, muß die Materie für immer in dieser Unordnung bleiben und als unermeßliches Chaos ohne Proportion und Betätigung fortdauern. Aber nehmen wir an, daß die wirkende Kraft, was immer sie sei, in der Materie beharrt, so wird diese erste Anordnung alsbald einer zweiten Platz machen, welche wahrscheinlich ebenso ungeordnet sein wird als die erste, und so fort durch eine lange Reihe von Veränderungen und Umwälzungen. Keine einzige Ordnung oder Lagerung bleibt jemals einen Augenblick unverändert. Die ursprüngliche Kraft gibt in Wirksamkeit bleibend der Materie eine beständige Ruhelosigkeit. Jede mögliche Lagerung wird hervorgebracht und sogleich zerstört. Wenn ein Strahl oder Schimmer von Ordnung erscheint, wird er durch die[93] unaufhörlich wirksame Kraft, welche jeden Teil der Materie bewegt, sogleich verscheucht und verwirrt.

So bleibt das Universum lange Zeiträume hindurch in beständiger Folge von Chaos und Unordnung. Aber ist es nicht möglich, daß es zuletzt zu einem Beharrungszustand kommt, ohne seine Bewegung und Kraft zu verlieren (denn diese haben wir als ihm wesentlich zugehörig angenommen), aber eine Gleichförmigkeit der Erscheinung bei der beständigen Bewegung und dem Fluß seiner Teile bewahrend? Dies, finden wir, ist in der vorliegenden Welt der Fall. Dürfen wir nicht auf solche Lagerung hoffen, oder vielmehr sie sicher erwarten von den ewigen Umwälzungen ungeleiteter Materie? und können nicht diese für alle die anscheinende Weisheit und Erfindung als Grund ausreichen? Überlegen wir die Sache ein wenig, so werden wir finden, daß diese Anordnung einer scheinbaren Stabilität in den Formen bei wirklicher und beständiger Umwälzung oder Bewegung der Teile, wenn sie von der Materie erreicht wird, eine annehmbare, wenn nicht die wahre Lösung der Schwierigkeit an die Hand gibt.

Es ist daher umsonst, auf die Nützlichkeit der Teile an Tieren und Pflanzen und ihre wunderbare Anpassung aneinander Gewicht zu legen. Ich möchte wohl wissen, wie ein Tier bestehen könnte, wenn nicht seine Teile so angepaßt wären. Finden wir nicht, daß es sogleich untergeht, sobald diese Anpassung aufhört, und daß seine aufgelöste Materie neue Formen sucht? In der Tat trifft es sich, daß die Teile der Welt so wohl zusammengepaßt sind, daß sogleich gewisse regelmäßige Formen diese aufgelöste Materie in Anspruch nehmen; und wenn es nicht so wäre, könnte die Welt bestehen? Müßte sie sich nicht, so gut wie das Tier, auflösen und durch neue Anordnungen und Lagerungen hindurchgehen, bis sie in langer aber endlicher Wandlung zuletzt in die gegenwärtig vorliegende oder eine andere derartige Ordnung hineinkäme?

Es ist gut, erwiderte Cleanthes, daß Ihr uns sagtet, diese Hypothese sei Euch im Laufe der Erörterung plötzlich gekommen. Hättet ihr Muße gehabt, sie zu prüfen,[94] so würdet Ihr bald auf die unüberwindlichen Einwendungen, denen sie ausgesetzt ist, aufmerksam geworden sein. Keine Form, sagtet Ihr, kann bestehen, ohne die Kräfte und Organe zu haben, welche zu ihrer Erhaltung erforderlich sind: eine neue Ordnung oder Einrichtung würde immer wieder und ohne Aufhören versucht werden, bis endlich eine Ordnung zustande kommt, welche sich selbst aufrecht erhalten kann. Woher aber kommen bei dieser Hypothese die vielen bequemen und vorteilhaften Einrichtungen, welche Menschen und alle Tiere besitzen? Zwei Augen, zwei Ohren sind nicht unumgänglich notwendig für die Erhaltung der Art. Das Menschengeschlecht könnte sich fortgepflanzt und erhalten haben ohne Pferde, Hunde, Kühe, Schafe und die unzähligen Früchte und Erzeugnisse, welche zu unserer Befriedigung und unserm Genuß dienen. Wenn keine Kamele zum Gebrauch des Menschen in den sandigen Wüsten von Afrika und Asien erschaffen worden wären, wäre die Welt untergegangen? Wenn kein Magnetstein gebildet worden wäre, der Nadel diese wunderbare und nützliche Richtung zu geben, würde die menschliche Gesellschaft und die menschliche Art deshalb sogleich umgekommen sein? Obgleich die Verfahrungsweise der Natur im allgemeinen sehr sparsam ist, sind dennoch Fälle dieser Art keineswegs selten und ein einziger ist ein hinreichender Beweis von Absicht und zwar wohlwollender Absicht, welche der Ordnung und Einrichtung der Welt den Ursprung gab.

Wenigstens, sagte Philo, könnt Ihr so viel mit Sicherheit folgern, daß die vorgelegte Hypothese insofern unvollständig und unvollkommen ist, was ich nicht anstehe, einzuräumen. Aber können wir vernünftigerweise größeren Erfolg in Unternehmungen dieser Art erwarten? Können wir jemals hoffen, ein kosmogonisches System zu errichten, welches keinen Ausnahmen unterliegt und keinen Umstand enthält, der unserer begrenzten und unvollkommenen Erfahrung von der Analogie der Natur widerspricht? Sicherlich kann Eure eigene Theorie solchen Anspruch nicht erheben, obwohl Ihr selbst bis zum Anthropomorphismus fortgegangen seid, um Euch[95] mit der gewöhnlichen Erfahrung im Einverständnis zu erhalten. Unterziehen wir sie nochmals einer Prüfung. In allen Fällen, die uns je vorkamen, sind Vorstellungen von wirklichen Dingen kopiert, sie sind ectypa, nicht archetypa, um mich in gelehrten Worten auszudrücken: Ihr kehrt die Ordnung um und gebt dem Denken den Vorrang. In allen Fällen, die uns je vorkamen, hatte Denken auf Materie keinen Einfluß, ohne daß Materie so mit ihm verbunden war, daß sie einen gleichen wechselseitigen Einfluß auf jenes ausübte. Kein Tier kann außer den Gliedern seines Körpers etwas unmittelbar bewegen, und die Gleichheit von Wirkung und Rückwirkung scheint in der Tat ein allgemeines Gesetz der Natur zu sein: Eure Theorie steht in Widerspruch mit dieser Erfahrung. Diese Fälle und viele andere, welche zu sammeln leicht wäre (besonders die Annahme eines Geistes oder Systems von Gedanken, welcher ewig ist, oder mit anderen Worten, eines ungeschaffenen und unsterblichen Tieres), diese Fälle, sage ich, mögen uns alle Vorsicht in gegenseitiger Verurteilung lehren und uns zeigen, daß, wie kein System dieser Art je auf eine ungefähre Analogie hin angenommen, so auch keines auf Grund kleiner Unzuträglichkeiten verworfen werden sollte. Denn es ist dies ein Mangel, von dem wir keines mit Recht ganz frei erklären können.

Alle religiösen Systeme unterliegen eingestandenermaßen großen und unüberwindlichen Schwierigkeiten. An jeden der Teilnehmer an einem Streit kommt die Reihe zu triumphieren, sobald er die Offensive ergreift und die unmöglichen, barbarischen und verderblichen Sätze des Gegners angreift. Aber alle zusammengenommen bereiten den vollständigen Triumph des Skeptikers vor, der behauptet, daß in diesen Dingen kein System überhaupt angenommen werden dürfe, aus dem klaren Grunde, daß eine Absurdität in keiner Sache jemals Zustimmung erhalten darf. Eine vollständige Zurückhaltung des Urteils ist hier unsere einzige Zuflucht. Und wenn, wie bemerkt worden ist, jeder Angriff, und keine Verteidigung bei Theologen siegreich ist, wie vollständig muß der Sieg dessen sein, der stets und unter allen Menschen[96] in der Offensive bleibt und selbst keine feste Position, keine bleibende Statt hat, die zu verteidigen er bei irgendeiner Gelegenheit genötigt wäre?

Quelle:
David Hume: Dialoge über natürliche Religion. Über Selbstmord und Unsterblichkeit der Seele. Leipzig 31905, S. 90-97.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Dialoge über die natürliche Religion
Universal-Bibliothek Nr. 7692: Dialoge über natürliche Religion
Dialog über natürliche Religion
Philosophische Bibliothek, Bd.36, Dialoge über natürliche Religion
Dialoge über natürliche Religion

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