[Kommentare]

[406] 1. Einige sagen, das Seiende entstände aus dem Nicht-Seienden. Ihre Ansicht ist, wie folgt: Der Saame u.s.w. bringt nicht die Wirkung, den Schössling u.s.w. hervor. Wäre dies der Fall, so müsste der Schössling auch aus dem in der Scheune liegenden Saamen u.s.w. entstehen. Vielmehr, weil durch die Trennung der Theile des Samens, wenn er im Acker sich befindet, nach der Zerstörung (des Samens) der Schössling entsteht, so ist die Zerstörung des Saamens die Ursache des Schösslings. So wird in Gautama's Sûtra (IV. 4, 15) gesagt: »Von dem Nicht-Seienden entsteht das Seiende; denn es giebt kein Offenbarwerden, wenn nicht Zerstörung (vorangeht).« Um die obige Ansicht zu widerlegen, werden nun die Atome u.s.w. auseinander gesetzt.

»Das Seiende«, irgend etwas, welches das Merkmal des Wirklichen hat; »unverursacht«, nicht entstanden; »das Ewige«, das Ding, welches das Gegentheil der Zerstörung ist. Der Sinn ist, die Grundursache von zusammengesetzten Dingen ist nicht-seiend. Wäre die Zerstörung die Ursache, so müsste auch aus zermalmtem Saamen ein Schössling entstehen. V.

Man kann dieses Sûtra auf Alles, was ewig ist, beziehen, und dann wäre der Sinn, das Ewige ist seiend und zugleich ohne Ursache, indem es ja einiges Seiende giebt, welches eine Wirkung ist, oder auf die Atome, und die Uebersetzung wäre dann, »(das Atom) ist seiend, ohne Ursach, und ewig«, d.h. wie es die Vivriti erklärt, ohne Aufhören des Seins.

2. Was für einen Beweis giebt es nun für eine solche Grundursache? Die Antwort ist, »die Wirkung«, die Substanz als eine Wirkung, bestehend in einer Zusammensetzung von drei Atomen u.s.w., »desselben«, der Grundursache, »ist sein Beweisgrund«. Dies verhält sieht so. Wäre die Reihe von Theilen und zusammengesetzten [401] Dingen unendlich, so hätten der Berg Meru und ein Senfkorn das gleiche Verhältniss, weil kein Unterschied im Begriffe des Entstehens aus unendlich vielen Theilen Statt fände. Deshalb nmss ein Stillstand (in der Theilung) angenommen werden. In einem zusammengesetzten Dinge von drei Atomen giebt es jedoch keinen Stillstand; es hat Theile, weil es eine sichtbare Substanz ist, gleich dem Topfe u.s.w. Durch diesen Schluss ist es bewiesen, dass seine Theile aus zwei-atomischen Substanzen bestehen. Eben so wenig giebt es jedoch einen Stillstand in einem zwei-atomischen Ganzen; denn durch den Schluss, die Theile eines drei-atomischen Ganzen haben Theile, weil seine Theile Grösse haben, gleich einer Scherbe, ist die Grundursache eines aus zwei Atomen zusammengesetzten Theiles in der Form von Grundatomen bewiesen.

3. Der Upaskâra und die Vivriti erklären dies Sûtra verschieden. Der Upaskâra sagt: Durch dies Sûtra wird der Beweis gegeben, dass in dem Grundatome Farbe und andere Eigenschaften vorhanden sind. Nämlich, weil in der Ursache die Existenz der

Farbe u.s.w. Statt findet, so findet die Existenz derselben auch in der Wirkung Statt; denn den Eigenschaften der Wirkungen gehn die Eigenschaften der Ursachen voran, weil es so bei einem Topfe, einem Gewebe u.s.w. wahrgenommen wird.

Dagegen die Vivriti: Das Sûtra zeigt die Unmöglichkeit, dass Nicht-Existenz die Grundursache ist, wie folgt: »Aus der Existenz«, dem Sein, »der Ursache«, der Grundursache, folgt »die Existenz der Wirkungen«, der zusammengesetzten Dinge; sonst würde wegen der nicht-seienden Ursache der Erd-Atome, gleich dem, was aus Erde bestände, die Nicht-Existenz der Wirkungen, der zusammengesetzten Dinge erfolgen.

4. Wenn eine Verneinung Statt findet, wie »nicht ewig«, so geschieht sie mit Rücksicht auf ein besonderes Ding, wie: eine zusammengesetzte Substanz ist nicht ewig, nicht aber ist eine Verneinung vom Allgemeinen aus angemessen, wie: alle Gegenstände sind nicht-ewig. V.

5. Das Grundatom ist nicht ewig, weil es räumliche Form hat, wie ein Topf. Ebenso ist das Haben von Eigenschaften, wie der Farbe, des Geschmacks u.s.w., der Reihe nach als Grund gegen die Ewigkeit des Atoms anzuführen. Auf dieselbe Weise kommen dem Grundatome durch seine gleichzeitige Verbindung mit sechs (anderen Atomen) sechs Theile zu; demnach von seinem Haben-von-Theilen, d.h. von seinem Substrat-Sein für eine Verbindung, [402] welche Statt findet in einem Nicht-Einschliessenden (folgt die Nicht-Ewigkeit des Atoms). Weiter, wenn innerhalb des Grundatoms der Aether ist, so hat es auch Theile, weil es wirkliche Oeffnungen hat; ist aber der Aether nicht innerhalb desselben, so kommt auch dem Aether der Begriff der Gegenwart nicht zu ....

Ferner, Alles, was ist, hat eine augenblickliche Existenz. Von diesem und ähnlichen Schlüssen, welche eine augenblickliche Existenz beweisen, folgt die Nicht-Ewigkeit des Grundatoms. Wenn es nun eine solche Folge von Schlüssen giebt, wie kann denn behauptet werden, dass das Grundatom ewig sei? Darauf antwortet das Sûtra: Jeder Schluss, welcher die Nicht-Ewigkeit des Grundatoms zum Gegenstand hat, ist Unwissenheit, d.h. Irrthum, entsprungen aus einem Schein-Grunde, zunächst nämlich das Hinderniss des Beweises, welcher das Subjekt auffasst, überall aber der Nicht-Erweis des Eingeschlossen-Seins, weil es keinen Beweis giebt, welcher das Gegentheil aufhebt; zuweilen auch ist es das Nicht-Erwiesensein des Prädikats. Alles dies und anderes ist nachzusehen in dem Samâna-tantra. U.

»Unwissenheit«, Nicht-Beweis, d.h. der Schluss, dass das Grundatom nicht ewig ist, entsteht aus einem Scheingrunde, indem alle die erwähnten Gründe nach mehrern Seiten fehlgehen. V.

6. Wahrnehmung, nämlich Wahrnehmung durch das Auge oder durch den Tastsinn. Ein Grosses meint ein solches, welches eine grosse Ausdehnung hat. – Wenn dem so ist, warum ist denn die Luft u.s.w., welche ja eine grosse Ausdehnung besitzt, nicht wahrnehmbar? Die Antwort ist: Wegen der Farbe. Farbe meint hier hervortretende Farbe. Demnach wird die Farbe, obgleich sie im Auge u.s.w. ist, nicht wahrgenommen. Warum ist denn aber Grösse in einer drei-atomigen Zusammensetzung, und nicht im Grundatome? Die Antwort darauf ist, weil es viele Substanzen hat. Demnach, weil mit Rücksicht auf die Begriffe der entstandenen Grösse der Begriff des Viele-Substanzen-Habens nothwendig ist, in einem Grundatome dieser aber nicht vorhanden ist, so giebt es keine Grösse für das Grundatom. V.

7. Wenn dies sich so verhält, warum wird denn nicht die brennende Fackel am hellen Tage, oder das Licht des Auges, oder die Luft, welche durch die Inhärenz der Tastbarkeit der Farbe inhärirt, und zugleich gross ist, wahrgenommen? Die Antwort darauf ist: »Weil der Eindruck der Farbe fehlt.« Der Eindruck der Farbe [403] meint die Inhärenz der Farbe, das Hervortreten der Farbe und das Nicht-Unterdrücktsein derselben. Deshalb, obwohl die Inhärenz der Tastbarkeit, welche auch die Inhärenz der Farbe ist, in der Luft Statt findet, so ist sie doch nicht durch die Farbe bestimmt, weil hier die absolute Nicht-Existenz der Farbe vorhanden ist. In dem Lichte des Auges ist nicht der Eindruck der Farbe, d.h. nicht das Hervortreten der Farbe, in der am Mittage brennenden Fackel nicht der Eindruck der Farbe, d.h. nicht das Nicht-Unterdrücktsein derselben; deshalb wird beides nicht wahrgenommen. Ebenso verhält es sich mit dem Feuer im Warmen und Heissen, in Kochtöpfen, mit dem Golde u.s.w. Der Verfasser der Vritti aber erklärt das zusammengesetzte Wort rûpasanskâra (Farbeneindruck) durch rûpa (Farbe) und rûpasanskâra, so dass also der erste Theil desselben weggelassen; deshalb fände keine Wahrnehmung des Windes Statt wegen des Nicht-Daseins der Farbe.

8. Die Besonderheit der Farbe meint die Besonderheit, welche die Farbe hat; dies ist nun der Begriff des Hervortretenden, der Begriff des Nicht-Unterdrücktseins und der Begriff der Farbe. Daher die Auffassung der Farbe. Wird nun nicht auf diese Weise auch die Farbe eines Grundatoms oder eines zwei-atomigen Ganzen aufgefasst? Um dies auszuschliessen, wird gesagt: »durch (ihre) Inhärenz in vielen Substanzen«, ... d.h. in einem Ganzen von drei und mehreren Atomen. Auch der Topf und andere dergleichen Dinge, welche aus zwei Theilen (Hälften) ihren Ursprung haben, sind in einer steten Folge die Substrate von vielen Substanzen. Der Geschmack, die Tastbarkeit u.s.w. werden nicht wahrgenommen durch das Auge, weil ihnen der Begriff (die Gattung) der Farbe nicht zukommt, das Licht des Auges nicht, weil es nicht den Begriff des Hervortretenden hat. Das Hervortreten, welches in der Farbe und andern besondern Eigenschaften enthalten ist, ist eben eine besondere Klasse, welche den Begriff der Farbe u.s.w. einschliesst. U.

9. »Dadurch«, durch das Wissen hinsichtlich der Wahrnehmung der Farbe. Wie durch die Besonderheit der Farbe, d.h. durch den Begriff der Farbe, durch den Begriff des Nicht-Unterdrücktseins, und durch den Begriff des Hervortretens, die Farbe wahrgenommen wird, so wird auch der Geschmack durch die Begriffe des Geschmackes, des Nicht-Unterdrücktseins und des Hervortretens wahrgenommen. So verhält es sich auch mit den übrigen. Auch ist die Inhärenz in vielen Substanzen zu übertragen. U.

10. »Weil jenes«, die Gattung der »Farbe, des Geschmacks u.s.w. sowie das Hervortreten in der Schwere nicht da ist«, so [404] ist die Schwere nicht wahrnehmbar. Man könnte nun einwenden, dass, wenn gleich der Begriff der Farbe u.s.w. dort (in der Schwere) nicht vorhanden wäre, doch eine Wahrnehmung derselben (der Schwere) Statt finden möchte. Deshalb wird gesagt: »so findet kein Fehlgehen Statt«, kein Fehlgehen, die Regel der fünf Klassen, der Farbe u.s.w. mit Rücksicht auf die Auffassung durch je einen der respektiven Sinne. Wo eben irgend eine der fünf Klassen, der Farbe u.s.w. da ist, da findet auch ein Aufgefasstwerden durch irgend einen der äusseren Sinne Statt, weil es durch diesen (Sinn) ausgeschlossen wird (von anderen Gegenständen). Weil es aber nicht klar ist, dass der Gegenstand der Betrachtung in diesem Sûtra die Schwere ist, so wird sie, obwohl von Praśastadeva zu den übersinnlichen Gegenständen gerechnet, doch von Ballabhâchârya als ein Gegenstand des Tastsinns angegeben. U.

Diese ganze Erklärung ist in den Text hineingelegt; gewiss folgt sie nicht aus den Worten. Einen andern passenden Sinn vermag ich aber nicht zu finden. Eine wörtliche Erklärung scheint auf das Uebersinnliche überhaupt sich zu beziehen. Weil jenes, der Begriff der Farbe u.s.w. nicht da ist, nämlich in dem Uebersinnlichen, so kann derselbe da auch keine Anwendung finden. Vielleicht ist die richtige Leseart vyabhichârah statt avyabhichârah. Oder auch, es ist eine Einleitung zum nächstfolgenden Sûtra.

11. Es werden nun die durch zwei Sinne wahrnehmbaren Eigenschaften aufgezählt. »Durch das Auge wahrgenommen.« Hier muss das vorhergehende »und« supplirt werden, und der Sinn ist deshalb: Zahl und die übrigen Eigenschaften bis zur Bewegung, welche einer farbigen Substanz inhäriren, sind durch das Auge und durch das Getast wahrnehmbar. Das »und« vor Bewegung fasst die Zähigkeit, Schnelligkeit und Flüssigkeit, welche in Substanzen von hervortretender Farbe sich finden und die ihnen zukommende Angemessenheit haben, so wie die Klassen (derselben) zusammen. Farbige (Substanzen) meinen Angemessenheit, und es widerspricht sich selbst, dass jene (Eigenschaften nebst der Bewegung), wenn sie in den Grundatomen u.s.w. sich finden, nicht wahrgenommen werden. V.

12. Zahlen und die übrigen (im vorigen Sûtra genannten) Eigenschaften bis zur Bewegung, werden, wenn sie in nicht-farbigen Substanzen vorkommen, nicht durch das Auge wahrgenommen; auch nicht durch den Tastsinn, muss hinzugefügt werden. Es ist aber nicht damit gesagt, dass sie (überhaupt) nicht wahrnehmbar sind. [405] Wäre dies der Fall, so würde auch die Einheit der Seele nicht wahrgenommen werden.

13. »Existenz«, d.h. Sein. »Aller Sinne«, von allen Sinnen hervorgebracht. »Wissen«, d.h. Wahrnehmung. Demnach, weil dieselben (Eigenschaft und Sein) in dem allen Sinnen Angemessenen sich finden, so werden sie auch durch alle Sinne aufgefasst. V.

Quelle:
Die Lehrsprüche der Vaiçeshika-Philosophie von Kaṇâda. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Band 21, Leipzig 1867, S. 309–420, S. 401-407.
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