Achte Betrachtung.
Von der göttlichen Allgenugsamkeit

[723] Die Summe aller dieser Betrachtungen führet uns auf einen Begriff von dem höchsten Wesen, der alles in sich faßt,[723] was man nur zu gedenken vermag, wenn Menschen aus Staube gemacht es wagen, ausspähende Blicke hinter den Vorhang zu werfen, der die Geheimnisse des Unerforschlichen vor erschaffene Augen verbirgt. Gott ist allgenugsam. Was da ist, es sei möglich oder wirklich, das ist nur etwas, in so ferne es durch ihn gegeben ist. Eine menschliche Sprache kann den Unendlichen so zu sich selbst reden lassen: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne in so ferne es durch mich etwas ist. Dieser Gedanke, der erhabenste unter allen, ist noch sehr vernachlässigt, oder mehrenteils gar nicht berührt worden. Das, was sich in den Möglichkeiten der Dinge zu Vollkommenheit und Schönheit in vortrefflichen Planen darbietet, ist als ein vor sich notwendiger Gegenstand der göttlichen Weisheit, aber nicht selbst als eine Folge von diesem unbegreiflichen Wesen angesehen worden. Man hat die Abhängigkeit anderer Dinge bloß auf ihr Dasein eingeschränkt, wodurch ein großer Anteil an dem Grunde von so viel Vollkommenheit jener obersten Natur entzogen, und ich weiß nicht welchem ewigen Undinge beigemessen wird.

Fruchtbarkeit eines einzigen Grundes an viel Folgen, Zusammenstimmung und Schicklichkeit der Naturen, nach allgemeinen Gesetzen ohne öftern Widerstreit in einem regelmäßigen Plane zusammen zu passen, müssen zuvörderst in den Möglichkeiten der Dinge angetroffen werden, und nur alsdenn kann Weisheit tätig sein, sie zu wählen. Welche Schranken, die dem Unabhängigen aus einem fremden Grunde gesetzt sein würden, wenn selbst diese Möglichkeiten nicht in ihm gegründet wären? Und was vor ein unverständliches Ohngefähr, daß sich in diesem Felde der Möglichkeit, ohne Voraussetzung irgend eines Existierenden, Einheit und fruchtbare Zusammenpassung findet, dadurch das Wesen von den höchsten Graden der Macht und Weisheit, wenn jene äußere Verhältnisse mit seinen innern Vermögen verglichen werden, sich im Stande sieht, große Vollkommenheit zuwege zu bringen? Gewiß eine solche Vorstellung überliefert nimmermehr den Ursprung des Guten ohne allen Abbruch in die Hand eines einzigen Wesens. Als Huygens die[724] Pendeluhr erfand, so konnte er, wenn er daran dachte, sich diese Gleichförmigkeit, welche ihre Vollkommenheit ausmacht, nimmer gänzlich beimessen; die Natur der Zykloide, die es möglich macht, daß kleine und große Bogen durch freien Fall in derselben in gleicher Zeit beschrieben werden, konnte diese Ausführung lediglich in seine Gewalt setzen. Daß aus dem einfachen Grunde der Schwere so ein großer Umfang von schönen Folgen auch nur möglich ist, würde, wenn es nicht von dem, der durch wirkliche Ausübung allen diesen Zusammenhang hervor gebracht hat, selbst abhinge, seinen Anteil an der reizenden Einheit und dem großen Umfange so vieler auf einem einzigen Grunde berührender Ordnung offenbar schmälern und teilen.

Die Bewunderung über die Abfolge einer Wirkung aus einer Ursache hört auf, so bald ich die Zulänglichkeit der Ursache zu ihr deutlich und leicht einsehe. Auf diesen Fuß kann keine Bewunderung mehr statt finden, wenn ich den mechanischen Bau des menschlichen Körpers, oder welcher künstlichen Anordnung ich auch will, als ein Werk des Allmächtigen betrachte, und bloß auf die Wirklichkeit sehe; denn es ist leicht und deutlich zu verstehen: daß der, so alles kann, auch eine solche Maschine, wenn sie möglich ist, hervorbringen könne. Allein es bleibt gleichwohl Bewunderung übrig, man mag gleich dieses zur leichteren Begreifung angeführt haben wie man will. Denn es ist erstaunlich, daß auch nur so etwas wie ein tierischer Körper möglich war. Und wenn ich gleich alle Federn und Röhren, alle Nervengefäße, Hebel und mechanische Einrichtung desselben völlig einsehen könnte, so bliebe doch immer Bewunderung übrig: wie es möglich sei, daß so vielfältige Verrichtungen in einem Bau vereiniget worden, wie sich die Geschäfte zu einem Zwecke mit denen wodurch ein anderer erreicht wird sowohl paaren lassen, wie eben dieselbe Zusammenfügung außerdem noch dazu dient, die Maschine zu erhalten, und die Folgen aus zufälligen Verletzungen wieder zu verbessern, und wie es möglich war, daß ein Mensch konnte ein so feines Gewebe sein, und ohnerachtet so vieler Gründe des Verderbens[725] noch so lange dauren. Nachdem ich auch endlich mich belehrt habe, daß so viel Einheit und Harmonie darum möglich sei, weil ein Wesen da ist, welches nebst den Gründen der Wirklichkeit auch die von aller Möglichkeit enthält, so hebt dieses noch nicht den Grund der Bewunderung auf. Denn man kann sich zwar durch die Analogie dessen was Menschen ausüben einigen Begriff davon machen, wie ein Wesen die Ursache von etwas Wirklichen sein könne, nimmermehr aber, wie es den Grund der innern Möglichkeit von andern Dingen enthalte, und es scheint, als wenn dieser Gedanke viel zu hoch steigt, als daß ihn ein erschaffenes Wesen erreichen könnte.

Dieser hohe Begriff der göttlichen Natur, wenn wir sie nach ihrer Allgenugsamkeit gedenken, kann selbst in dem Urteil über die Beschaffenheit möglicher Dinge, wo uns unmittelbar Gründe der Entscheidung fehlen, zu einem Hülfsmittel dienen, aus ihr als einem Grunde auf fremde Möglichkeit als eine Folge zu schließen. Es ist die Frage: ob nicht unter allen möglichen Welten eine Steigerung ohne Ende in den Graden der Vollkommenheit anzutreffen sei, da gar keine natürliche Ordnung möglich ist, über die nicht noch eine vortrefflichere könne gedacht werden; ferner, wenn ich auch hierin eine höchste Stufe zugäbe, ob nicht wenigstens selbst verschiedene Welten, die von keiner übertroffen werden, einander an Vollkommenheit gänzlich gleich wären. Bei dergleichen Fragen ist es schwer und vielleicht unmöglich, aus der Betrachtung möglicher Dinge allein etwas zu entscheiden. Allein wenn ich beide Aufgaben in Verknüpfung mit dem göttlichen Wesen erwäge, und erkenne, daß der Vorzug der Wahl, der einer Welt vor der andern zu Teil wird, ohne den Vorzug in dem Urteile eben desselben Wesens welches wählt, oder gar wider dieses Urteil ein Mangel in der Übereinstimmung seiner verschiedenen tätigen Kräfte und eine verschiedene Beziehung seiner Wirksamkeit, ohne eine proportionierte Verschiedenheit in den Gründen, mithin einen Übelstand in dem vollkommensten Wesen abnehmen lasse, so schließe ich mit großer Überzeugung: daß die[726] vorgelegten Fälle erdichtet und unmöglich sein müssen. Denn ich begreife nach den gesamten Vorbereitungen die man gesehen hat: daß man viel weniger Grund habe, aus vorausgesetzten Möglichkeiten, die man gleichwohl nicht genug bewähren kann, auf ein notwendiges Betragen des vollkommensten Wesens zu schließen (welches so beschaffen ist, daß es den Begriff der größten Harmonie in ihm zu schmälern scheinet), als aus der erkannten Harmonie, die die Möglichkeiten der Dinge mit der göttlichen Natur haben müssen, von demjenigen, was diesem Wesen am anständigsten zu sein erkannt wird, auf die Möglichkeit zu schließen. Ich werde also vermuten, daß in den Möglichkeiten aller Welten keine solche Verhältnisse sein können, die einen Grund der Verlegenheit in der vernünftigen Wahl des höchsten Wesens enthalten müßten; denn eben dieses oberste Wesen enthält den letzten Grund aller dieser Möglichkeit, in welcher also niemalen etwas anders, als was mit ihrem Ursprunge harmoniert, kann anzutreffen sein.

Es ist auch dieser über alles Mögliche und Wirkliche erweiterte Begriff der göttlichen Allgenugsamkeit ein viel richtigerer Ausdruck, die größte Vollkommenheit dieses Wesens zu bezeichnen, als der des Unendlichen, dessen man sich gemeiniglich bedient. Denn ob man diesen letztern zwar auslegen kann wie man will, so ist er seiner eigentlichen Bedeutung nach doch offenbar mathematisch. Er bezeichnet das Verhältnis einer Größe zu einer andern als dem Maße, welche Verhältnis größer ist als alle Zahl. Daher in dem eigentlichen Wortverstande die göttliche Erkenntnis unendlich heißen würde, in so ferne sie, vergleichungsweise gegen irgend eine angebliche andere Erkenntnis, ein Verhältnis hat, welches alle mögliche Zahl übersteigt. Da nun eine solche Vergleichung göttliche Bestimmungen mit denen der erschaffenen Dinge in eine Gleichartigkeit, die man nicht wohl behaupten kann, versetzet, und überdem das, was man dadurch will, nämlich den unverringerten Besitz von aller Vollkommenheit, nicht gerade zu verstehen gibt, so findet sich dagegen alles, was man hiebei zu denken vermag, in[727] dem Ausdrucke der Allgenugsamkeit beisammen. Die Benennung der Unendlichkeit ist gleichwohl schön und eigentlich ästhetisch. Die Erweiterung über alle Zahlbegriffe rührt, und setzet die Seele durch eine gewisse Verlegenheit in Erstaunen. Dagegen ist der Ausdruck den wir empfehlender logischen Richtigkeit mehr angemessen.[728]

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 2, Frankfurt am Main 1977, S. 723-729.
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