VIII. Exposition der Tugendpflichten als weiter Pflichten
1. Eigene Vollkommenheit als Zweck, der zugleich Pflicht ist

[522] a) Physische, d.i. Kultur aller Vermögen überhaupt, zu Beförderung der durch die Vernunft vorgelegten Zwecke. Daß dieses Pflicht, mithin an sich selbst Zweck sei, und jener Bearbeitung, auch ohne Rücksicht auf den Vorteil, den sie uns gewährt, nicht ein bedingter (pragmatischer), sondern unbedingter (moralischer) Imperativ zum Grunde liege, ist hieraus zu ersehen. Das Vermögen, sich überhaupt irgend einen Zweck zu setzen, ist das Charakteristische der Menschheit (zum Unterschiede von der Tierheit). Mit dem Zwecke der Menschheit in unserer eigenen Person ist also auch der Vernunftwille, mithin die Pflicht verbunden, sich um die Menschheit durch Kultur überhaupt verdient zu machen, sich das Vermögen zu Ausführung allerlei möglichen Zwecke, so fern dieses in dem Menschen selbst anzutreffen ist, zu verschaffen oder es zu fördern, d.i. eine Pflicht zur Kultur der rohen Anlagen seiner Natur, als wodurch das Tier sich allererst zum Menschen erhebt: mithin Pflicht an sich selbst.

Allein diese Pflicht ist bloß ethisch, d.i. von weiter Verbindlichkeit. Wie weit man in Bearbeitung (Erweiterung oder Berichtigung seines Verstandesvermögens, d.i. in Kenntnissen oder in Kunstfähigkeit) gehen solle, schreibt kein Vernunftprinzip bestimmt vor, auch macht die Verschiedenheit der Lagen, worein Menschen kommen können, die Wahl der Art der Beschäftigung, dazu er sein Talent anbauen soll, sehr willkürlich. – Es ist also hier kein Gesetz der Vernunft für die Handlungen, sondern bloß für die Maxime der Handlungen,[522] welche so lautet: »baue deine Gemüts- und Leibeskräfte zur Tauglichkeit für alle Zwecke an, die dir aufstoßen können«, ungewiß, welche davon einmal die deinigen werden könnten.

b) Kultur der Moralität in uns. Die größte moralische Vollkommenheit des Menschen ist: seine Pflicht zu tun und zwar aus Pflicht (daß das Gesetz nicht bloß die Regel sondern auch die Triebfeder der Handlungen sei). – Nun scheint dieses zwar beim ersten Anblick eine enge Verbindlichkeit zu sein und das Pflichtprinzip zu jeder Handlung nicht bloß die Legalität, sondern auch die Moralität, d.i. Gesinnung, mit der Pünktlichkeit und Strenge eines Gesetzes zu gebieten; aber in der Tat gebietet das Gesetz auch hier nur, die Maxime der Handlung, nämlich den Grund der Verpflichtung nicht in den sinnlichen Antrieben (Vorteil oder Nachteil), sondern ganz und gar im Gesetz zu suchen – mithin nicht die Handlung selbst. – – Denn es ist dem Menschen nicht möglich, so in die Tiefe seines eigenen Herzens einzuschauen, daß er jemals von der Reinigkeit seiner moralischen Absicht und der Lauterkeit seiner Gesinnung auch nur in einer Handlung völlig gewiß sein könnte; wenn er gleich über die Legalität derselben gar nicht zweifelhaft ist. Vielmals wird Schwäche, welche das Wagstück eines Verbrechens abrät, von demselben Menschen für Tugend (die den Begriff von Stärke gibt) gehalten, und wie viele mögen ein langes schuldloses Leben geführt haben, die nur Glückliche sind, so vielen Versuchungen entgangen zu sein; wie viel reiner moralischer Gehalt bei jeder Tat in der Gesinnung gelegen habe, das bleibt ihnen selbst verborgen.

Also ist auch diese Pflicht, den Wert seiner Handlungen nicht bloß nach der Legalität, sondern auch der Moralität (Gesinnung) zu schätzen, nur von weiter Verbindlichkeit, das Gesetz gebietet nicht diese innere Handlung im menschlichen Gemüt selbst, sondern bloß die Maxime der Handlung, darauf nach allem Vermögen auszugehen: daß zu allen pflichtmäßigen Handlungen der Gedanke der Pflicht für sich selbst hinreichende Triebfeder sei.
[523]



2. Fremde Glückseligkeit, als Zweck, der zugleich Pflicht ist

a) Physische Wohlfahrt. Das Wohlwollen kann unbegrenzt sein; denn es darf hiebei nichts getan werden. Aber mit dem Wohltun, vornehmlich wenn es nicht aus Zuneigung (Liebe) zu anderen, sondern aus Pflicht, mit Aufopferung und Kränkung mancher Konkupiszenz geschehen soll, geht es schwieriger zu. – Daß diese Wohltätigkeit Pflicht sei, ergibt sich daraus: daß, weil unsere Selbstliebe von dem Bedürfnis, von anderen auch geliebet (in Notfällen geholfen) zu werden, nicht getrennt werden kann, wir also uns zum Zweck für andere machen und diese Maxime niemals anders als bloß durch ihre Qualifikation zu einem allgemeinen Gesetz, folglich durch einen Willen, andere auch für uns zu Zwecken zu machen, verbinden kann, fremde Glückseligkeit ein Zweck sei, der zugleich Pflicht ist.

Allein ich soll mit einem Teil meiner Wohlfahrt ein Opfer an andere, ohne Hoffnung der Wiedervergeltung machen, weil es Pflicht ist, und nun ist unmöglich, bestimmte Grenzen anzugeben: wie weit das gehen könne. Es kommt sehr darauf an, was für jeden nach seiner Empfindungsart wahres Bedürfnis sein werde, welches zu bestimmen jedem selbst überlassen bleiben muß. Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) anderer ihre zu befördern, würde an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte. – Also ist diese Pflicht nur eine weite; sie hat einen Spielraum, mehr oder weniger hierin zu tun, ohne daß sich die Grenzen davon bestimmt angeben lassen. – Das Gesetz gilt nur für die Maximen, nicht für bestimmte Handlungen.

b) Moralisches Wohlsein anderer (salubritas moralis) gehört auch zu der Glückseligkeit anderer, die zu befördern für uns Pflicht, aber nur negative Pflicht ist. Der Schmerz, den ein Mensch von Gewissensbissen fühlt, obzwar sein Ursprung moralisch ist, ist doch, der Wirkung nach, physisch, wie der Gram, die Furcht und jeder andere krankhafte Zustand.[524] Zu verhüten, daß jenen dieser innere Vorwurf nicht verdienterweise treffe, ist nun zwar eben nicht meine Pflicht, sondern seine Sache; wohl aber, nichts zu tun, was, nach der Natur des Menschen, Verleitung sein könnte zu dem, worüber ihn sein Gewissen nachher peinigen kann, welches man Skandal nennt. – Aber es sind keine bestimmte Grenzen, innerhalb welcher sich diese Sorgfalt für die moralische Zufriedenheit anderer halten ließe; daher ruht auf ihr nur eine weite Verbindlichkeit.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 522-525.
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