Zweiter Abschnitt. Von den Tugendpflichten gegen andere Menschen aus der ihnen gebührenden Achtung
§ 37

[600] Mäßigung in Ansprüchen überhaupt, d.i. freiwillige Einschränkung der Selbstliebe eines Menschen durch die Selbstliebe anderer heißt Bescheidenheit. Der Mangel dieser Mäßigung (Unbescheidenheit) in Ansehung der Würdigkeit, von anderen geliebt zu werden, die Eigenliebe (philautia). Die Unbescheidenheit der Forderung aber, von anderen geachtet zu werden, ist der Eigendünkel (arrogantia). Achtung, die ich für andere trage, oder die ein anderer von mir fordern kann (observantia aliis praestanda), ist also die Anerkennung einer Würde (dignitas) an anderen Menschen, d.i. eines Werts, der keinen Preis hat, kein Äquivalent, wogegen das Objekt der Wertschätzung (aestimii) ausgetauscht werden könnte. – Die Beurteilung eines Dinges, als eines solchen, das keinen Wert hat, ist die Verachtung.




§ 38

Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden.

Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch so gar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle[600] andere Weltwesen, die nicht Menschen sind, und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt. Gleichwie er also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der eben so notwendigen Selbstschätzung anderer, als Menschen, entgegen handeln, d.i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht.




§ 39

Andere verachten (contemnere), d.i. ihnen die dem Menschen überhaupt schuldige Achtung weigern, ist auf alle Fälle pflichtwidrig; denn es sind Menschen. Sie vergleichungsweise mit anderen innerlich geringschätzen (despicatui habere) ist zwar bisweilen unvermeidlich, aber die äußere Bezeigung der Geringschätzung ist doch Beleidigung. – Was gefährlich ist, ist kein Gegenstand der Verachtung und so ist es auch nicht der Lasterhafte; und, wenn die Überlegenheit über die Angriffe desselben mich berechtigt zu sagen: ich verachte jenen, so bedeutet das nur so viel, als: es ist keine Gefahr dabei, wenn ich gleich gar keine Verteidigung gegen ihn veranstaltete, weil er sich in seiner Verworfenheit selbst darstellt. Nichts desto weniger kann ich selbst dem Lasterhaften als Menschen nicht alle Achtung versagen, die ihm wenigstens in der Qualität eines Menschen nicht entzogen werden kann; ob er zwar durch seine Tat sich derselben unwürdig macht. So kann es schimpfliche, die Menschheit selbst entehrende Strafen geben (wie das Vierteilen, von Hunden zerreißen lassen, Nasen und Ohren abschneiden), die nicht bloß dem Ehrliebenden (der auf Achtung anderer Anspruch macht, was ein jeder tun muß) schmerzhafter sind, als der Verlust der Güter und des Lebens, sondern auch dem Zuschauer Schamröte abjagen, zu einer Gattung zu gehören, mit der man so verfahren darf.


Anmerkung

[601] Hierauf gründet sich eine Pflicht der Achtung für den Menschen selbst im logischen Gebrauch seiner Vernunft: die Fehltritte derselben nicht unter dem Namen der Ungereimtheit, des abgeschmackten Urteils u. dg. zu rügen, sondern vielmehr voraus zu setzen, daß in demselben doch etwas Wahres sein müsse, und dieses heraus zu suchen; dabei aber auch zugleich den trüglichen Schein (das Subjektive der Bestimmungsgründe des Urteils, was durch ein Versehen für objektiv gehalten wurde) aufzudecken, und so, indem man die Möglichkeit zu irren erklärt, ihm noch die Achtung für seinen Verstand zu erhalten. Denn spricht man seinem Gegner in einem gewissen Urteile durch jene Ausdrücke allen Verstand ab, wie will man ihn dann darüber verständigen, daß er geirrt habe? – Eben so ist es auch mit dem Vorwurf des Lasters bewandt, welcher nie zur völligen Verachtung und Absprechung alles moralischen Werts des Lasterhaften ausschlagen muß: weil er, nach dieser Hypothese, auch nie gebessert werden könnte; welches mit der Idee eines Menschen, der, als solcher (als moralisches Wesen), nie alle Anlage zum Guten einbüßen kann, unvereinbar ist.


§ 40

Die Achtung vor dem Gesetze, welche subjektiv als moralisches Gefühl bezeichnet wird, ist mit dem Bewußtsein seiner Pflicht einerlei. Eben darum ist auch die Bezeigung der Achtung vor dem Menschen als moralischen (seine Pflicht höchstschätzenden) Wesen selbst eine Pflicht, die andere gegen ihn haben, und ein Recht, worauf er den Anspruch nicht aufgeben kann. – Man nennt diesen Anspruch Ehrliebe, deren Phänomen im äußeren Betragen Ehrbarkeit (honestas externa), der Verstoß dawider aber Skandal heißt: ein Beispiel der Nichtachtung derselben, das Nachfolge bewirken dürfte; welches zu geben zwar höchstpflichtwidrig, aber am bloß Widersinnischen (paradoxon),[602] sonst an sich Guten, zu nehmen, ein Wahn (da man das Nichtgebräuchliche auch für nicht erlaubt hält), ein der Tugend gefährlicher und verderblicher Fehler ist. – Denn die schuldige Achtung, für andere ein Beispiel gebende Menschen, kann nicht bis zur blinden Nachahmung (da der Gebrauch, mos, zur Würde eines Gesetzes erhoben wird) ausarten; als welche Tyrannei der Volkssitte der Pflicht des Menschen gegen sich selbst zuwider sein würde.


§ 41

Die Unterlassung der bloßen Liebespflichten ist Untugend (peccatum). Aber die Unterlassung der Pflicht, die aus der schuldigen Achtung für jeden Menschen überhaupt hervorgeht, ist Laster (vitium). Denn durch die Verabsäumung der ersteren wird kein Mensch beleidigt; durch die Unterlassung aber der zweiten geschieht dem Menschen Abbruch in Ansehung seines gesetzmäßigen Anspruchs. – Die erstere Übertretung ist das Pflichtwidrige des Widerspiels (contrarie oppositum virtutis). Was aber nicht allein keine moralische Zutat ist, sondern so gar den Wert derjenigen, die sonst dem Subjekt zu Gute kommen würde, aufhebt, ist Laster.

Eben darum werden auch die Pflichten gegen den Nebenmenschen aus der ihm gebührenden Achtung nur negativ ausgedrückt, d.i. diese Tugendpflicht wird nur indirekt (durch das Verbot des Widerspiels) ausgedruckt werden.


Von den die Pflicht der Achtung für andere Menschen verletzenden Lastern

Diese Laster sind: A) der Hochmut, B) das Afterreden und C) die Verhöhnung.


A. Der Hochmut

§ 42

Der Hochmut (superbia und, wie dieses Wort es ausdrückt, die Neigung, immer oben zu schwimmen) ist eine[603] Art von Ehrbegierde (ambitio), nach welcher wir anderen Menschen ansinnen, sich selbst in Vergleichung mit uns gering zu schätzen, und ist also ein der Achtung, worauf jeder Mensch gesetzmäßigen Anspruch machen kann, widerstreitendes Laster.

Er ist vom Stolz (animus elatus), als Ehrliebe, d.i. Sorgfalt, seiner Menschenwürde in Vergleichung mit anderen nichts zu vergeben (der daher auch mit dem Beiwort des edlen belegt zu werden pflegt), unterschieden; denn der Hochmut verlangt von anderen eine Achtung, die er ihnen doch verweigert. – Aber dieser Stolz selbst wird doch zum Fehler und Beleidigung, wenn er auch bloß ein Ansinnen an andere ist, sich mit seiner Wichtigkeit zu beschäftigen.

Daß der Hochmut, welcher gleichsam eine Bewerbung des Ehrsüchtigen um Nachtreter ist, und denen verächtlich zu begegnen er sich berechtigt glaubt, ungerecht und der schuldigen Achtung für Menschen überhaupt widerstreitend sei; daß er Torheit, d.i. Eitelkeit im Gebrauch der Mittel zu etwas, was in einem gewissen Verhältnisse gar nicht den Wert hat, um Zweck zu sein, ja daß er so gar Narrheit, d.i. ein beleidigender Unverstand sei, sich solcher Mittel, die an anderen gerade das Widerspiel seines Zwecks hervorbringen müssen, zu bedienen (denn dem Hochmütigen weigert ein jeder um desto mehr seine Achtung, je bestrebter er sich darnach bezeigt) – dies alles ist für sich klar. Weniger möchte doch angemerkt worden sein: daß der Hochmütige jederzeit im Grunde seiner Seele niederträchtig ist. Denn er würde anderen nicht ansinnen, sich selbst in Vergleichung mit ihm gering zu halten, fände er nicht bei sich, daß, wenn ihm das Glück umschlüge, er es gar nicht hart finden würde, nun seinerseits auch zu kriechen und auf alle Achtung anderer Verzicht zu tun.




B. Das Afterreden

§ 43

Die übele Nachrede (obtrectatio) oder das Afterreden, worunter ich nicht die Verleumdung (contumelia), eine [604] falsche, vor Recht zu ziehende Nachrede, sondern bloß die unmittelbare, auf keine besondere Absicht angelegte, Neigung verstehe, etwas der Achtung für andere Nachteiliges ins Gerücht zu bringen, ist der schuldigen Achtung gegen die Menschheit überhaupt zuwider; weil jedes gegebene Skandal diese Achtung, auf welcher doch der Antrieb zum Sittlichguten beruht, schwächt, und, so viel möglich, gegen sie ungläubig macht.

Die geflissentliche Verbreitung (propalatio) desjenigen, die Ehre eines andern Schmälernden, was auch nicht zur öffentlichen Gerichtsbarkeit gehört, es mag übrigens auch wahr sein, ist Verringerung der Achtung für die Menschheit überhaupt, um endlich auf unsere Gattung selbst den Schatten der Nichtswürdigkeit zu werfen, und Misanthropie (Menschenscheu) oder Verachtung zur herrschenden Denkungsart zu machen, oder sein moralisches Gefühl durch den öfteren Anblick derselben abzustumpfen und sich daran zu gewöhnen. Es ist also Tugendpflicht, statt einer hämischen Lust an der Bloßstellung der Fehler anderer, um sich dadurch die Meinung, gut, wenigstens nicht schlechter als alle andere Menschen zu sein, zu sichern, den Schleier der Menschenliebe, nicht bloß durch Milderung unserer Urteile, sondern auch durch Verschweigung derselben, über die Fehler anderer zu werfen; weil Beispiele der Achtung, welche uns andere geben, auch die Bestrebung rege machen können, sie gleichmäßig zu verdienen. – Um deswillen ist die Ausspähungssucht der Sitten anderer (allotrio-episcopia) auch für sich selbst schon ein beleidigender Vorwitz der Menschenkunde, welchem jedermann sich mit Recht als Verletzung der ihm schuldigen Achtung widersetzen kann.


C. Die Verhöhnung

§ 44

Die leichtfertige Tadelsucht und der Hang, andere zum Gelächter bloß zu stellen, die Spottsucht, um die Fehler eines anderen zum unmittelbaren Gegenstande seiner Belustigung zu machen, ist Bosheit, und von dem [605] Scherz, der Vertraulichkeit unter Freunden, sie nur zum Schein als Fehler, in der Tat aber als Vorzüge des Muts, bisweilen auch außer der Regel der Mode zu sein, zu belachen (welches dann kein Hohnlachen ist), gänzlich unterschieden. Wirkliche Fehler aber, oder, gleich als ob sie wirklich wären, angedichtete, welche die Person ihrer verdienten Achtung zu berauben abgezweckt sind, dem Gelächter bloß zu stellen, und der Hang dazu, die bittere Spottsucht (spiritus causticus), hat etwas von teuflischer Freude an sich und ist darum eben eine desto härtere Verletzung der Pflicht der Achtung gegen andere Menschen.

Hievon ist doch die scherzhafte, wenn gleich spottende Abweisung der beleidigenden Angriffe eines Gegners mit Verachtung (retorsio iocosa) unterschieden, wodurch der Spötter (oder überhaupt ein schadenfroher aber kraftloser Gegner) gleichmäßig verspottet wird, und rechtmäßige Verteidigung der Achtung, die er von jenem fordern kann. Wenn aber der Gegenstand eigentlich kein Gegenstand für den Witz, sondern ein solcher ist, an welchem die Vernunft notwendig ein moralisches Interesse nimmt, so ist es, der Gegner mag noch so viel Spötterei ausgestoßen, hiebei aber auch selbst zugleich noch so viel Blößen zum Belachen gegeben haben, der Würde des Gegenstandes und der Achtung für die Menschheit angemessener, dem Angriffe entweder gar keine oder eine mit Würde und Ernst geführte Verteidigung entgegen zu setzen.


Anmerkung

Man wird wahrnehmen, daß unter dem vorhergehenden Titel nicht so wohl Tugenden angepriesen, als vielmehr die ihnen entgegenstehende Laster getadelt werden; das liegt aber schon in dem Begriffe der Achtung, so wie wir sie gegen andere Menschen Zubeweisen verbunden sind, welche nur eine negative Pflicht ist. – Ich bin nicht verbunden, andere (bloß als Menschen betrachtet) zu verehren, d.i. ihnen positive Hochachtung zu beweisen. Alle Achtung, zu der ich von Natur verbunden bin, ist die vor[606] dem Gesetz überhaupt (reverere legem), und dieses, nicht aber andere Menschen überhaupt zu verehren (reverentia adversus hominem), oder hierin ihnen etwas zu leisten, ist allgemeine und unbedingte Menschenpflicht gegen andere, welche, als die ihnen ursprünglich schuldige Achtung (observantia debita), von jedem gefordert werden kann.

Die verschiedene andern zu beweisende Achtung nach Verschiedenheit der Beschaffenheit der Menschen, oder ihrer zufälligen Verhältnisse, nämlich der des Alters, des Geschlechts, der Abstammung, der Stärke oder Schwäche, oder gar des Standes und der Würde, welche zum Teil auf beliebigen Anordnungen beruhen, darf in metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre nicht ausführlich dargestellt und klassifiziert werden, da es hier nur um die reinen Vernunftprinzipien derselben zu tun ist.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 600-607.
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