I. Von dem ethischen Naturzustande

[753] Ein rechtlichbürgerlicher (politischer) Zustand ist das Verhältnis der Menschen untereinander, so fern sie gemeinschaftlich unter öffentlichen Rechtsgesetzen (die insgesamt Zwangsgesetze sind) stehen. Ein ethischbürgerlicher Zustand ist der, da sie unter dergleichen zwangsfreien, d.i. bloßen Tugendgesetzen vereinigt sind.

So wie nun dem ersteren der rechtliche (darum aber nicht immer rechtmäßige), d.i. der juridische Naturzustand entgegengesetzt wird, so wird von dem letzteren der ethische Naturzustand unterschieden. In beiden gibt ein jeder sich selbst das Gesetz, und es ist kein äußeres, dem er sich, samt allen andern, unterworfen erkennte. In beiden ist ein jeder sein eigner Richter, und es ist keine öffentliche machthabende Autorität da, die, nach Gesetzen, was in[753] vorkommenden Fällen eines jeden Pflicht sei, rechtskräftig bestimme, und jene in allgemeine Ausübung bringe.

In einem schon bestehenden politischen gemeinen Wesen befinden sich alle politische Bürger, als solche doch im ethischen Naturzustande, und sind berechtigt, auch darin zu bleiben; denn daß jenes seine Bürger zwingen sollte, in ein ethisches gemeines Wesen zu treten, wäre ein Widerspruch (in adiecto); weil das letztere schon in seinem Begriffe die Zwangsfreiheit bei sich führt. Wünschen kann es wohl jedes politische gemeine Wesen, daß in ihm auch eine Herrschaft über die Gemüter nach Tugendgesetzen angetroffen werde; denn, wo jener ihre Zwangsmittel nicht hinlangen, weil der menschliche Richter das Innere anderer Menschen nicht durchschauen kann, da würden die Tugendgesinnungen das Verlangte bewirken. Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen. – Der Bürger des politischen gemeinen Wesens bleibt also, was die gesetzgebende Befugnis des letztern betrifft, völlig frei: ob er mit andern Mitbürgern überdem auch in eine ethische Vereinigung treten, oder lieber im Naturzustande dieser Art bleiben wolle. Nur so fern ein ethisches gemeines Wesen doch auf öffentlichen Gesetzen beruhen, und eine darauf sich gründende Verfassung enthalten muß, werden diejenigen, die sich freiwillig verbinden, in diesen Zustand zu treten, sich von der politischen Macht nicht, wie sie solche innerlich einrichten, oder nicht einrichten sollen, befehlen, aber wohl Einschränkungen gefallen lassen müssen, nämlich auf die Bedingung, daß darin nichts sei, was der Pflicht ihrer Glieder als Staatsbürger widerstreite; wiewohl, wenn die erstere Verbindung echter Art ist, das letztere ohnedem nicht zu besorgen ist.

Übrigens, weil die Tugendpflichten das ganze menschliche Geschlecht angehen, so ist der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens immer auf das Ideal eines Ganzen aller[754] Menschen bezogen, und darin unterscheidet es sich von dem eines politischen. Daher kann eine Menge in jener Absicht vereinigter Menschen noch nicht das ethische gemeine Wesen selbst, sondern nur eine besondere Gesellschaft heißen, die zur Einhelligkeit mit allen Menschen (ja aller endlichen vernünftigen Wesen) hinstrebt, um ein absolutes ethisches Ganze zu errichten, wovon jede partiale Gesellschaft nur eine Vorstellung oder ein Schema ist, weil eine jede selbst wiederum im Verhältnis auf andere dieser Art als im ethischen Naturzustande, samt allen Unvollkommenheiten desselben, befindlich vorgestellt werden kann (wie es mit verschiedenen politischen Staaten, die in keiner Verbindung durch ein öffentliches Völkerrecht stehen, eben so bewandt ist).

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 753-755.
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