II. Der Mensch soll aus dem ethischen Naturzustande herausgehen, um ein Glied eines ethischen gemeinen Wesens zu werden

[755] So wie der juridische Naturzustand ein Zustand des Krieges von jedermann gegen jedermann ist, so ist auch der ethische Naturzustand ein Zustand der unaufhörlichen Befehdung durch das Böse, welches in ihm und zugleich in jedem andern angetroffen wird, die sich (wie oben bemerkt worden) einander wechselseitig ihre moralische Anlage verderben, und selbst bei dem guten Willen jenes einzelnen, durch den Mangel eines sie vereinigenden Prinzips sie, gleich als ob sie Werkzeuge des Bösen wären, durch ihre Mißhelligkeiten von dem gemeinschaftlichen Zweck des Guten entfernen, und einander in Gefahr bringen, seiner Herrschaft wiederum in die Hände zu fallen. So wie nun ferner der Zustand einer gesetzlosen äußeren (brutalen) Freiheit und Unabhängigkeit von Zwangsgesetzen ein Zustand der Ungerechtigkeit und des Krieges von jedermann gegen jedermann ist, aus welchem der Mensch herausgehen soll, um[755] in einen politischbürgerlichen zu treten:37 so ist der ethische Naturzustand eine öffentliche wechselseitige Befehdung der Tugendprinzipien und ein Zustand der innern Sittenlosigkeit, aus welchem der natürliche Mensch, so bald wie möglich, herauszukommen sich befleißigen soll.

Hier haben wir nun eine Pflicht von ihrer eignen Art, nicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst. Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objektiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt. Weil aber das höchste sittliche Gut durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt wird, sondern eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu eben demselben Zwecke, zu einem System wohlgesinnter Menschen erfordert, in welchem und durch dessen Einheit es allein zu Stande kommen kann, die Idee aber von einem solchen Ganzen, als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen, eine von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen,[756] wovon wir wissen, daß es in unserer Gewalt stehe) ganz unterschiedene Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe: so ist die Pflicht, der Art und dem Prinzip nach, von allen andern unterschieden. – Man wird schon zum voraus vermuten, daß diese Pflicht der Voraussetzung einer andern Idee, nämlich der eines höhern moralischen Wesens bedürfen werde, durch dessen allgemeine Veranstaltung die für sich unzulänglichen Kräfte der einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden. Allein wir müssen allererst dem Leitfaden jenes sittlichen Bedürfnisses überhaupt nachgehen, und sehen, worauf uns dieses führen werde.

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Hobbes' Satz: status hominum naturalis est bellum omnium in omnes, hat weiter keinen Fehler, als daß es heißen sollte: est status belli etc. Denn wenn man gleich nicht einräumet, daß zwischen Menschen, die nicht unter äußern und öffentlichen Gesetzen stehen, jederzeit wirkliche Feindseligkeiten herrschen: so ist doch der Zustand derselben (status iuridicus), d.i. das Verhältnis, in und durch welches sie der Rechte (des Erwerbs oder der Erhaltung derselben) fähig sind, ein solcher Zustand, in welchem ein jeder selbst Richter über das sein will, was ihm gegen andere recht sei, aber auch für dieses keine Sicherheit von andern hat, oder ihnen gibt, als jedes seine eigene Gewalt; welches ein Kriegszustand ist, in dem jedermann wider jedermann beständig gerüstet sein muß. Der zweite Satz desselben: exeundum esse e statu naturali, ist eine Folge aus dem erstern: denn dieser Zustand ist eine kontinuierliche Läsion der Rechte aller andern durch die Anmaßung, in seiner eigenen Sache Richter zu sein, und andern Menschen keine Sicherheit wegen des Ihrigen zu lassen, als bloß seine eigene Willkür.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 755-757.
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