[101] Der spekulative Gebrauch der Vernunft, in Ansehung der Natur, führt auf absolute Notwendigkeit irgend einer obersten Ursache der Welt; der praktische Gebrauch der Vernunft, in Absicht auf die Freiheit, führt auch auf absolute Notwendigkeit, aber nur der Gesetze der Handlungen eines vernünftigen Wesens, als eines solchen. Nun ist es ein wesentliches Prinzip alles Gebrauchs unserer Vernunft, ihr Erkenntnis bis zum Bewußtsein ihrer Notwendigkeit zu treiben (denn ohne diese wäre sie nicht Erkenntnis der Vernunft). Es ist aber auch eine eben so wesentliche Einschränkung eben derselben Vernunft, daß sie weder die Notwendigkeit dessen, was da ist, oder was geschieht, noch dessen, was geschehen soll, einsehen kann, wenn nicht eine Bedingung, unter der es da ist, oder geschieht, oder geschehen soll, zum Grunde gelegt wird. Auf diese Weise aber wird, durch die beständige Nachfrage nach der Bedingung, die Befriedigung der Vernunft nur immer weiter aufgeschoben. Daher sucht sie rastlos das Unbedingtnotwendige, und sieht sich genötigt, es anzunehmen, ohne irgend ein Mittel, es sich begreiflich zu machen; glücklich gnug, wenn sie nur den Begriff ausfindig machen kann, der sich mit dieser Voraussetzung verträgt. Es ist also kein Tadel für unsere Deduktion des obersten Prinzips der Moralität, sondern ein Vorwurf, den man der menschlichen Vernunft überhaupt machen müßte, daß sie ein unbedingtes praktisches Gesetz (dergleichen der kategorische Imperativ sein muß) seiner absoluten Notwendigkeit nach nicht begreiflich machen kann; denn, daß sie dieses nicht durch eine[101] Bedingung, nämlich vermittelst irgend eines zum Grunde gelegten Interesse, tun will, kann ihr nicht verdacht werden, weil es alsdenn kein moralisches, d.i. oberstes Gesetz der Freiheit, sein würde. Und so begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Prinzipien strebt, gefodert werden kann.[102]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
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