§ 45. Vorläufige Bemerkung zur Dialektik der reinen Vernunft

[203] Wir haben oben Paragraph 33, 34 gezeigt: daß die Reinigkeit der Kategorien von aller Beimischung sinnlicher Bestimmungen die Vernunft verleiten könne, ihren Gebrauch gänzlich, über alle Erfahrung hinaus, auf Dinge an sich selbst auszudehnen, wiewohl, da sie selbst keine Anschauung finden, welche ihnen Bedeutung und Sinn in concreto verschaffen könnte, sie als bloß logische Funktionen, zwar ein Ding überhaupt vorstellen, aber vor sich allein keinen bestimmten Begriff von irgend einem Dinge geben können. Dergleichen hyperbolische Objekte sind nun die, so man Noumena oder reine Verstandeswesen (besser Gedankenwesen) nennt, als z.B. Substanz, welche aber ohne Beharrlichkeit in der Zeit gedacht wird, oder eine Ursache, die aber nicht in der Zeit wirkte, u.s.w., da man ihnen denn Prädikate beilegt, die bloß dazu dienen, die Gesetzmäßigkeit der Erfahrung möglich zu machen, und gleichwohl alle Bedingungen der Anschauung, unter denen allein Erfahrung möglich ist, von ihnen wegnimmt, wodurch jene Begriffe wiederum alle Bedeutung verlieren.

Es hat aber keine Gefahr, daß der Verstand von selbst, ohne durch fremde Gesetze gedrungen zu sein, über seine Grenzen so ganz mutwillig in das Feld von bloßen Gedankenwesen ausschweifen werde. Wenn aber die Vernunft, die mit keinem Erfahrungsgebrauche der Verstandesregeln, als der immer noch bedingt ist, völlig befriedigt sein kann, Vollendung dieser Kette von Bedingungen fodert, so wird der Verstand aus seinem Kreise getrieben, um teils Gegenstände der Erfahrung in einer so weit erstreckten Reihe vorzustellen, dergleichen gar keine Erfahrung fassen kann, teils so[203] gar (um sie zu vollenden) gänzlich außerhalb derselben Noumena zu suchen, an welche sie jene Kette knüpfen und dadurch, von Erfahrungsbedingungen endlich einmal unabhängig, ihre Haltung gleichwohl vollständig machen könne. Das sind nun die transzendentalen Ideen, welche, sie mögen nun, nach dem wahren, aber verborgenen Zwecke der Naturbestimmung unserer Vernunft, nicht auf überschwengliche Begriffe, sondern bloß auf unbegrenzte Erweiterung des Erfahrungsgebrauchs angelegt sein, dennoch durch einen unvermeidlichen Schein dem Verstande einen transzendenten Gebrauch ablocken, der, obzwar betrüglich, dennoch durch keinen Vorsatz, innerhalb den Grenzen der Erfahrung zu bleiben, sondern nur durch wissenschaftliche Belehrung und mit Mühe in Schranken gebracht werden kann.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 5, Frankfurt am Main 1977, S. 203-204.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können
Philosophische Bibliothek, Bd.40, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können
Philosophische Bibliothek, Bd.540, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können
Prolegomena Zu Einer Jeden Künftigen Metaphysik Die Als Wissenschaft Wird Auftreten Können (German Edition)