Der Prolegomenen allgemeine Frage, ist überall Metaphysik möglich?
§ 4

[130] Wäre Metaphysik, die sich als Wissenschaft behaupten könnte, wirklich; könnte man sagen: hier ist Metaphysik, die dürft ihr nur lernen, und sie wird euch unwiderstehlich und unveränderlich von ihrer Wahrheit überzeugen: so wäre diese Frage unnötig, und es bliebe nur diejenige übrig, die mehr eine Prüfung unserer Scharfsinnigkeit, als den Beweis von der Existenz der Sache selbst beträfe, nämlich, wie sie möglich sei, und wie Vernunft es anfange, dazu zu gelangen. Nun ist es der menschlichen Vernunft in diesem Falle so gut nicht geworden. Man kann kein einziges Buch aufzeigen, so wie man etwa einen Euklid vorzeigt, und sagen, das ist Metaphysik, hier findet ihr den vornehmsten Zweck dieser Wissenschaft, das Erkenntnis eines höchsten[130] Wesens, und einer künftigen Welt, bewiesen aus Prinzipien der reinen Vernunft. Denn man kann uns zwar viele Sätze aufzeigen, die apodiktisch gewiß sind, und niemals gestritten worden; aber diese sind insgesamt analytisch, und betreffen mehr die Materialien und den Bauzeug zur Metaphysik, als die Erweiterung der Erkenntnis, die doch unsere eigentliche Absicht mit ihr sein soll. (§ 2, litt. c.) Ob ihr aber gleich auch synthetische Sätze (z.B. den Satz des zureichenden Grundes) vorzeigt, die ihr niemals aus bloßer Vernunft, mithin, wie doch eure Pflicht war, a priori bewiesen habt, die man euch aber doch gerne einräumet: so geratet ihr doch, wenn ihr euch derselben zu eurem Hauptzwecke bedienen wollt, in so unstatthafte und unsichere Behauptungen, daß zu aller Zeit eine Metaphysik der anderen entweder in Ansehung der Behauptungen selbst oder ihrer Beweise widersprochen, und dadurch ihren Anspruch auf daurenden Beifall selbst vernichtet hat. So gar sind die Versuche, eine solche Wissenschaft zu Stande zu bringen, ohne Zweifel die erste Ursache des so früh entstandenen Skeptizismus gewesen, einer Denkungsart, darin die Vernunft so gewalttätig gegen sich selbst verfährt, daß diese niemals, als in völliger Verzweiflung an Befriedigung in Ansehung ihrer wichtigsten Absichten hätte entstehen können. Denn lange vorher, ehe man die Natur methodisch zu befragen anfing, betrug man bloß seine abgesonderte Vernunft, die durch gemeine Erfahrung in gewisser Maße schon geübt war; weil Vernunft uns doch immer gegenwärtig ist, Naturgesetze aber gemeiniglich mühsam aufgesucht werden müssen: und so schwamm Metaphysik oben auf, wie Schaum, doch so, daß, so wie der, den man geschöpft hatte, zerging, sich so gleich ein anderer auf der Oberfläche zeigte, den immer einige begierig aufsammleten, wobei andere, anstatt in der Tiefe die Ursache dieser Erscheinung zu suchen, sich damit weise dünkten, daß sie die vergebliche Mühe der erstern belachten.[131]

Das Wesentliche und Unterscheidende der reinen mathematischen Erkenntnis von aller andern Erkenntnis a priori ist, daß sie durchaus nicht aus Begriffen, sondern jederzeit nur durch die Konstruktion der Begriffe (Kritik S.713) vor sich gehen muß. Da sie also in ihren Sätzen über den Begriff zu demjenigen, was die ihm korrespondierende Anschauung enthält, hinausgehen muß: so können und sollen ihre Sätze auch niemals durch Zergliederung der Begriffe, d.i. analytisch, entspringen, und sind daher insgesamt synthetisch.

Ich kann aber nicht umhin, den Nachteil zu bemerken, den die Vernachlässigung dieser sonst leichten und unbedeutend scheinenden Beobachtung der Philosophie zugezogen hat. Hume, als er den eines Philosophen würdigen Beruf fühlete, seine Blicke auf das ganze Feld der reinen Erkenntnis a priori zu werfen, in welchem sich der menschliche Verstand so große Besitzungen anmaßt, schnitte unbedachtsamer Weise eine ganze und zwar die erheblichste Provinz derselben, nämlich reine Mathematik, davon ab, in der Einbildung, ihre Natur, und so zu reden ihre Staatsverfassung, beruhe auf ganz andern Prinzipien, nämlich, lediglich auf dem Satze des Widerspruchs, und ob er zwar die Einteilung der Sätze nicht so förmlich und allgemein, oder unter der Benennung gemacht hatte, als es von mir hier geschieht, so war es doch gerade so viel, als ob er gesagt hätte: reine Mathematik enthält bloß analytische Sätze, Metaphysik aber synthetische a priori. Nun irrete er hierin gar sehr, und dieser Irrtum hatte auf seinen ganzen Begriff entscheidend nachteilige Folgen. Denn wäre das von ihm nicht geschehen, so hätte er seine Frage, wegen des Ursprungs unserer synthetischen Urteile, weit über seinen metaphysischen Begriff der Kausalität erweitert, und sie auch auf die Möglichkeit der Mathematik a priori ausgedehnt; denn diese mußte er eben sowohl vor synthetisch annehmen. Alsdenn aber hätte er seine metaphysische Sätze keinesweges auf bloße Erfahrung gründen können, weil er sonst die Axiomen der reinen Mathematik ebenfalls der Erfahrung unterworfen haben würde, welches zu tun er viel zu einsehend war. Die gute Gesellschaft, worin Metaphysik alsdenn[132] zu stehen gekommen wäre, hätte sie wider die Gefahr einer schnöden Mißhandlung gesichert, denn die Streiche, welche der letztern zugedacht waren, hätten die erstere auch treffen müssen, welches aber seine Meinung nicht war, auch nicht sein konnte: und so wäre der scharfsinnige Mann in Betrachtungen gezogen worden, die denjenigen hätten ähnlich werden müssen, womit wir uns jetzt beschäftigen, die aber durch seinen unnachahmlich schönen Vortrag unendlich würden gewonnen haben.

Eigentlich metaphysische Urteile sind insgesamt synthetisch. Man muß zur Metaphysik gehörige von eigentlich metaphysischen Urteilen unterscheiden. Unter jenen sind sehr viele analytisch, aber sie machen nur die Mittel zu metaphysischen Urteilen aus, auf die der Zweck der Wissenschaft ganz und gar gerichtet ist, und die allemal synthetisch sein. Denn wenn Begriffe zur Metaphysik gehören, z.B. der von Substanz, so gehören die Urteile, die aus der bloßen Zergliederung derselben entspringen, auch notwendig zur Metaphysik, z.B. Substanz ist dasjenige, was nur als Subjekt existiert etc., und vermittelst mehrerer dergleichen analytischen Urteile suchen wir der Definition der Begriffe nahe zu kommen. Da aber die Analysis eines reinen Verstandesbegriffs (dergleichen die Metaphysik enthält) nicht auf andere Art vor sich geht, als die Zergliederung jedes andern auch empirischen Begriffs, der nicht in die Metaphysik gehört (z.B. Luft ist eine elastische Flüssigkeit, deren Elastizität durch keinen bekannten Grad der Kälte aufgehoben wird), so ist zwar der Begriff, aber nicht das analytische Urteil eigentümlich metaphysisch: denn diese Wissenschaft hat etwas Besonderes und ihr Eigentümliches in der Erzeugung ihrer Erkenntnisse a priori; die also von dem, was sie mit allen andern Verstandeserkenntnissen gemein hat, muß unterschieden werden; so ist z.B. der Satz: alles, was in den Dingen Substanz ist, ist beharrlich, ein synthetischer und eigentümlich metaphysischer Satz.

Wenn man die Begriffe a priori, welche die Materie der Metaphysik und ihr Bauzeug ausmachen, zuvor nach gewissen[133] Prinzipien gesammlet hat, so ist die Zergliederung dieser Begriffe von großem Werte; auch kann dieselbe als ein besonderer Teil (gleichsam als philosophia definitiva), der lauter analytische zur Metaphysik gehörige Sätze enthält, von allen synthetischen Sätzen, die die Metaphysik selbst ausmachen, abgesondert vorgetragen werden. Denn in der Tat haben jene Zergliederungen nirgend anders einen beträchtlichen Nutzen, als in der Metaphysik, d.i. in Absicht auf die synthetischen Sätze, die aus jenen zuerst zergliederten Begriffen sollen erzeugt werden.

Der Schluß dieses Paragraphs ist also: daß Metaphysik es eigentlich mit synthetischen Sätzen a priori zu tun habe, und diese allein ihren Zweck ausmachen, zu welchem sie zwar allerdings mancher Zergliederungen ihrer Begriffe, mithin analytischer Urteile bedarf, wobei aber das Verfahren nicht anders ist, als in jeder andern Erkenntnisart, wo man seine Begriffe durch Zergliederung bloß deutlich zu machen sucht. Allein die Erzeugung der Erkenntnis a priori sowohl der Anschauung als Begriffen nach, endlich auch synthetischer Sätze a priori, und zwar im philosophischen Erkenntnisse, machen den wesentlichen Inhalt der Metaphysik aus.

Überdrüssig also des Dogmatismus, der uns nichts lehrt, und zugleich des Skeptizismus, der uns gar überall nichts verspricht, auch nicht einmal den Ruhestand einer erlaubten Unwissenheit, aufgefordert durch die Wichtigkeit der Erkenntnis, deren wir bedürfen, und mißtrauisch durch lange Erfahrung in Ansehung jeder, die wir zu besitzen glauben, oder die sich uns unter dem Titel der reinen Vernunft anbietet, bleibt uns nur noch eine kritische Frage übrig, nach deren Beantwortung wir unser künftiges Betragen einrichten können: Ist überall Metaphysik möglich? Aber diese Frage muß nicht durch skeptische Einwürfe gegen gewisse Behauptungen einer wirklichen Metaphysik (denn wir lassen jetzt noch keine gelten) sondern aus dem nur noch problematischen Begriffe einer solchen Wissenschaft beantwortet werden.

Inder Kritik der reinen Vernunft bin ich in Absicht auf diese Frage synthetisch zu Werke gegangen, nämlich[134] so, daß ich in der reinen Vernunft selbst forschte, und in dieser Quelle selbst die Elemente sowohl, als auch die Gesetze ihres reinen Gebrauchs nach Prinzipien zu bestimmen suchte. Diese Arbeit ist schwer, und erfordert einen entschlossenen Leser, sich nach und nach in ein System hinein zu denken, was noch nichts als gegeben zum Grunde legt, außer die Vernunft selbst, und also, ohne sich auf irgend ein Faktum zu stützen, die Erkenntnis aus ihren ursprünglichen Keimen zu entwickeln sucht. Prolegomena sollen dagegen Vorübungen sein; sie sollen mehr anzeigen, was man zu tun habe, um eine Wissenschaft, wo möglich, zur Wirklichkeit zu bringen, als sie selbst vortragen. Sie müssen sich also auf etwas stützen, was man schon als zuverlässig kennt, von da man mit Zutrauen ausgehen, und zu den Quellen aufsteigen kann, die man noch nicht kennt, und deren Entdeckung uns nicht allein das, was man wußte, erklären, sondern zugleich einen Umfang vieler Erkenntnisse, die insgesamt aus den nämlichen Quellen entspringen, darstellen wird. Das methodische Verfahren der Prolegomenen, vornehmlich derer, die zu einer künftigen Metaphysik vorbereiten sollen, wird also analytisch sein.

Es trifft sich aber glücklicher Weise, daß, ob wir gleich nicht annehmen können, daß Metaphysik als Wissenschaft wirklich sei, wir doch mit Zuversicht sagen können, daß gewisse reine synthetische Erkenntnis a priori wirklich und gegeben sein, nämlich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft; denn beide enthalten Sätze, die teils apodiktisch gewiß durch bloße Vernunft, teils durch die allgemeine Einstimmung aus der Erfahrung, und dennoch als von Erfahrung unabhängig durchgängig anerkannt werden. Wir haben also einige, wenigstens unbestrittene, synthetische Erkenntnis a priori, und dürfen nicht fragen, ob sie möglich sei (denn sie ist wirklich), sondern nur, wie sie möglich sei, um aus dem Prinzip der Möglichkeit der gegebenen auch die Möglichkeit aller übrigen ableiten zu können.[135]

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 5, Frankfurt am Main 1977, S. 130-136.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können
Philosophische Bibliothek, Bd.40, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können
Philosophische Bibliothek, Bd.540, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können
Prolegomena Zu Einer Jeden Künftigen Metaphysik Die Als Wissenschaft Wird Auftreten Können (German Edition)

Buchempfehlung

Wette, Adelheid

Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern

Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern

1858 in Siegburg geboren, schreibt Adelheit Wette 1890 zum Vergnügen das Märchenspiel »Hänsel und Gretel«. Daraus entsteht die Idee, ihr Bruder, der Komponist Engelbert Humperdinck, könne einige Textstellen zu einem Singspiel für Wettes Töchter vertonen. Stattdessen entsteht eine ganze Oper, die am 23. Dezember 1893 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt wird.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon