Viertes Kapitel (92. Gegenstand).

Verhalten des Untergebenen.[385] 1

Einer, der die Welt- und Staatsgeschäfte2 kennt, mag durch die Vermittlung von solchen, die dem Fürsten lieb und nützlich sind, bei einem König, der mit persönlichen Vorzügen und den in Material bestehenden Staatsfaktoren vollkommen ausgestattet ist, in Dienst treten. Oder von wem er denkt: »Wie ich einen Dienst begehre, so begehrt dieser nach Leitung (vinaya), und er ist ausgestattet mit Eigenschaften, die die Menschen zu ihm locken.«3 Sogar bei einem, der gering ist an Material-Staatsfaktoren, soll er in den Dienst treten, aber nicht bei einem, der nicht mit persönlichen Vorzügen ausgestattet ist.4 Denn ist er ohne persönliche Vorzüge (ohne Selbstkultur und Selbstbeherrschung), so geht er durch seine Feindschaft [385] gegen die Wissenschaft der Politik oder durch seinen Umgang mit Taugenichtsen zugrunde, selbst wenn er eine große Herrschermacht ererbt hat.5

Wenn er bei einem mit persönlichen Vorzügen eine gute Gelegenheit bekommen hat, soll er ihn in der Wissenschaft6 unterweisen. Denn dadurch, daß er (dem Fürsten) nicht widerspricht, erlangt er festen Stand in seiner Stellung. Bei den Beratungen befragt, soll er das, was in Gegenwart und Zukunft Recht und Religion und den irdischen Vorteil fördert und was zweckdienlich ist, in geschickter Art und ohne Furcht vor der Rätekammer darstellen.

Steht er in Gunst, dann möge er die Unterweisung des Fürsten im Guten und im Nützlichen wagen: »Ehe sie es zum Vorrang gebracht, ehe sie sich mit Mächtigen verbunden haben,7 müssen sie (d.h. die dem König Gefährlichen) gestraft werden. Nicht darfst du also denken: ›Wenn die Verbindung mit Mächtigen wirklich da ist und die Gegenwart es erfordert, will ich Strafe verhängen‹. Schädige nicht meine Partei, mein Verfahren und meine Geheimnisse. Und durch Zeichen und Wink werde ich dich abhalten, wenn du nach Zuneigung oder Zorn strafen willst«.

Ist ihm Weisung zugegangen, dann soll er mit des Königs Erlaubnis in die ihm zugewiesene Stellung eintreten. Und (in den Sitzungen) setze er sich in der Nähe (des Fürsten) zur Seite nieder, sich fern haltend vom Sitze eines anderen.8 Wortgefecht, unhöfliche, nicht auf eigener Wahrnehmung beruhende9, unglaubwürdige und unwahre Rede, schallendes Lachen und Lachen, wo kein Scherz ist, lautes Windfahrenlassen und Ausspucken unterlasse er.10 Geheime Beredung mit einem anderen, Zwiegespräch bei allgemeiner Unterhaltung, Kleider, wie der König und wie aufgeblasene und gauklerische Menschen sie tragen, öffentliches Bitten um etwas sehr Wertvolles und um einen Vorzug,11 Verziehen eines Auges und der Lippen, Brauenrunzeln, einem anderen das Wort wegzureißen, wenn dieser redet, einem mit einem Mächtigen Verbundenen feindlich in den Weg zu treten, Verkehr, Verfolgung des gleichen Ziels und Zusammenschluß mit Weibern, Weiberjägern, Gesandten von Nachbarfürsten, Menschen, die zur Partei der (dem König) [386] Verhaßten gehören, solchen, die aus Stellung und Gunst gestoßen sind und Tagedieben vermeide er.12

Zu allen Zeiten und ohne Verzug rede er, was dem Könige förderlich; im Verein mit solchen, die ihm lieb und nützlich sind, was ihm selber förderlich und zu richtiger Zeit und am rechten Orte, was anderen förderlich ist, (immer aber) das, was dem Guten und dem Nützlichen entspricht.13

Gefragt, sage er, was dem König angenehm und nützlich ist, nie sage er Angenehmes, das schädlich ist. Doch auch das unangenehme Heilsame rede er, wenn der Fürst ihm zuhört und er die Erlaubnis erhalten hat, ganz privatim.

Wird ihm aber widersprochen (vom Könige), dann schweige er still, und dem Fürsten Verhaßte und dergleichen Leute mehr rühme er nicht. Auch die Tüchtigen werden (dem Menschen) unlieb, wenn sie nicht auf seine Sinnesart eingehen.14

Und Taugenichtse, das hat man (oft) erlebt (dṛishṭāç), werden (einem) lieb, wenn sie sich nach der Kenntnis des Herzens richten. Bei Dingen, die zu belachen sind, lache er und vermeide das fürchterliche Lachen.

Vom anderen lenke er Schreckliches ab und rede selber nicht Schreckliches vom anderen. Wenn es ihn aber selber trifft, ertrage er es ruhig, reich an Geduld und der Erde vergleichbar.

[387] Sich selber schützen, das muß nämlich der Verständige immer zuerst besorgen; denn die Untergebenen (Höflinge) eines Königs, hat man erklärt, haben ein Leben wie im Feuer.

Eine Stelle mag das Feuer verbrennen oder den Leib (die eine Person), wenns aufs Höchste kommt. Samt Kind und Weib aber vernichtet oder fördert den Mann der König.

Fußnoten

1 Dem Sinn nach übersetzt Sham. ganz richtig: The Conduct of a Courtier. Vor allem, ist an den Minister gedacht.


2 Lokayātrā, das schon in der Anm. zu 6, 12 besprechen worden ist. Wörtl. »Gang des Weltwesens, Gang des Staatswesens, Regierung der Menschen«.A1


3 Ābhigāmikaguṇayukta gibt Kām. V, 1 mit abhigamyaguṇair yukta wieder: »ausgestattet mit den Tugenden des Zugänglichen (gut mit den Menschen Umgehenden, Leutseligen usw.)«. Die in Material bestehenden Staatsfaktoren (dravyaprakṛiti) sind: Minister, Bauernland, Stadt, Schatz und Heer.


4 Sehr viel stärker drückt das Kām. V, 3 aus: »Der Weise stehe sogar starr wie ein Baumstumpf da, verdorrend, gewürgt vom Hunger – nicht aber begehre er Lebensunterhalt von einem Fürsten, der nicht mit persönlichen Vorzügen ausgestattet ist«.A2


5 Vgl. 257, 5–10.


6 Oder: »gemäß der Wissenschaft«. Çāstra ist hier jedenfalls das arthaçāstra, die Staatslehre.


7 Zwar ist auch der Text verständlich, aber besser wird er und in Einklang mit dem folgenden kommt er, wenn man aviçishṭeshv abalavatsaṃyukteshu liest.A3


8 Vgl. Kām. V, 18: parasthānāsanaṃ tyajet. Wahrscheinlich aber muß man parasthānāt lesen. Solche Verwechslungen von -aṃ u. -āt kommen im Kauṭ. öfters vor.A4


9 Nach Kām. V, 29 muß man asabhyam apratyaksham lesen.A5


10 Vgl. MBh. IV, 4, 35; Kām. V, 23.A6


11 Wohl kaum: »das Streben nach übermäßigem Perlenglanz«, d.h. nach über prächtigem Schmuck.


12 So im Einklang mit Kām. V, 32 und der größern Wahrscheinlichkeit. Ein vollerer Sinn käme zustande, wenn man übersetzte: »Verkehr mit Weibern ... und Tagedieben, einseitige Verranntheit (ekārthacaryā Betreiben einer einzigen Sache) und Herdenhaftigkeit (saṃghāta Zusammenklumpung, Zusammenkleben) meide er.« Auch »Zusammenrottung« wie MBh. XII, 58, 10 gäbe mehr Mannigfaltigkeit als die ziemlich virgilisch anmutende, ganz unsūtrahafte Häufung oben im Text. Strīdarçin = Weiberbesucher, Weiberjäger MBh. K. IV, 5, 63. In Kām. V, 32 wird es von Çaṅk. mit kañcukin erklärt, was nach den ind. Lex. ja ebenfalls Wüstung bedeutet, aber auch in seiner gewöhnlichen Gebrauchsweise anginge. So ein Haremshüter erschiene dann als Liebesvermittler (Sham. »pimp«). Apaksha Feind ist Kauṭ. unbekannt. Also muß man wohl dveshyapakshā – lesen.


13 Kām. V, 30 hat parārthaṃ, eine Besserung, die sich von selber darbietet. »Im Verein mit solchen, die ihm lieb und nützlich sind« heißt nicht, daß er im stillen Kämmerlein mit diesen seinen eigenen Vorteil beraten solle, sondern daß besonders auch andere seine Sache vor dem Fürsten vertreten müssen. Vgl. den Eingangssatz des Kapitels. Grammatisch natürlicher wäre die Übersetzung: »und zur rechten Zeit u. am rechten Orte die Angelegenheit von anderen, wenn sie mit dem heiligen Rechte und mit dem irdischen Vorteil im Einklang steht«. Aber Dinge, die den beiden widerstreiten, soll er überhaupt nicht befürworten. Immerhin mag gemeint sein: Wenn das Begehren anderer nur dem Vergnügen (kāma) dient, d.h. wohl besonders ihrem eigenen, dann verwende er sich nicht dafür.


14 Vgl. Daçak. 198, 9ff.


A1 »Wer den Handel und Wandel (das alltägliche Leben) in der Welt lokavyavahāra) kennt, der kennt alles, und wäre er auch ein Dummkopf. Der andere aber, und sei er auch ein Weiser (prājña), wird nur verachtet.« Nītiv. 67, 5f. Vgl. auch Y. I, 100; Vish. LXIII, 1; G. IX, 63.


A2 S. auch Mudrār. VII, 15 (S. 196–97).


A3 In Anbetracht der sonstigen und so häufigen Verwendung von paṇate bei Kauṭ. besser so: »dann möge er sich die (Erlaubnis zur) Unterweisung im Guten und im Nützlichen ermarkten (durch Übereinkunft verschaffen)«. Gaṇ. bietet nun denselben Text wie Sham., nur liest er matsaṃyoge statt balavatsaṃyoge: »soll er mit ihm vereinbaren: ›Erkundigung nach dem Guten und dem Nützlichen bei Nichtvorzüglichen, Strafverhängung über solche, die mit Mächtigen verbunden sind, und Strafverhängung über jemand, der mit mir verbunden ist, und (nur) für die Gegenwart (ohne die Zukunft zu bedenken, nach Gaṇ. ›auf der Stelle‹, also: übereilt) – dergleichen sollst du nicht machen‹«. Dharmārthānuyoga kommt da besser zu seinem Rechte. Sonst aber läßt der Sinn viel zu wünschen übrig. Anuyoga Belehrung finde ich auch in 418, 1. Im vorhergehenden Satze wäre nach Gaṇ. statt »ohne Furcht vor der Rätekammer« zu setzen: »ohne Lampenfieber« (aparishadbhīru = sabhākamparahita). Vor einer sabhā oder Versammlung zu reden ist dem alten Inder eine fürchterliche Sache (bhīma); da verfliegen dem Manne Keckheit und sonstige vorzügliche Gabe, gleich auf Gedanken zu verfallen (Kirāt. XVI, 27; vgl. XIV, 4). Sehr hoch geschätzt wird von ihm naturgemäßerweise die Kraft, Geist und Herz der Versammelten mitzureißen. Kein Wunder da, daß vom Atharvaveda herab Zauber auch diesem Zwecke dient.


A4 Gaṇ. hat den besseren Text: Āyuktapradishṭāyāṃ bhūmāv anujñātaḥ praviçeta, Upaviçec ca pārçvataḥ saṃnikṛishtaviprakṛishṭaḥ. Varāsanam usw. »Er trete hinein an den Ort, der den Beamten zugewiesen ist. Und er setze sich nieder zur Seite, nicht gerade nahe und nicht gerade fern (vom Fürsten). Den besten Sitz, Wortgefecht., meide er«. Auch Kām. V, 18 könnte ja heißen: »den besten Platz oder Sitz«. Im übrigen aber kann ich Gaṇ.'s Text und Erklärung nicht billigen.


A5 Wie gefährlich es ist, vor einer Versammlung Dinge zu sagen, die man nicht selber wahrgenommen hat, darüber siehe N. Einl. III, 14; M. VIII, 95.


A6 In MBh. K. IV, 5 ziemlich viel mehr über das Verhalten am Hof und z. T. recht verschiedenes. Hierher gehören auch die 50 ckalāni (»Fallen«, des Verderbens) bei Jolly, Recht und Sitte 123; Çukran. IV, 5, 140–160.

Quelle:
Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthaçāstra des Kauṭilya. Leipzig 1926, S. 385-388.
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