Zweites Kapitel (100. Gegenstand).

Verhalten unter dem Schutz (eines Stärkeren).

[411] Wenn der Vorteil gleich ist bei Frieden oder Krieg, dann schließe man Frieden. Denn im Kriege gibt es die Widerwärtigkeiten, daß man Verluste erleidet,1 Ausgaben hat und von daheim weg sein muß.A1

Damit ist auch das Zuwarten im Lager (als das Vorzüglichere) dargelegt, wo es sich um Zuwarten oder Losmarschieren auf den Feind handelt (wenn nämlich da die Vorteile gleich sind).

Handelt es sich um Doppelspiel oder Zuflucht zu einem Stärkeren, dann mache man sich ans Doppelspiel. Denn der Doppelspieler kann ganz seinem Werke leben und sich selber dienen. Wer aber unter dem Schutz eines anderen steht, der dient dem anderen, nicht sich selber.A2

Er stelle sich unter den Schutz eines Fürsten, dessen Macht hervorragt über die Macht des (feindlichen) Nachbars. Ist keiner da, der stärker ist als dieser, dann begebe er sich unter seinen (des feindlichen Grenznachbarn) Schutz und bemühe sich dann, außer Sicht ihm durch irgendeines von den dreien: Schatz, Heer oder Land einen Dienst zu leisten.2 Denn ein großer Übelstand ist es für Könige mit einem, der an Stärke hervorragt, verbunden zu sein, außer wenn er selber von einem Feinde gepackt ist.

Gegen einen, dem so nicht beizukommen ist,3 verhalte er sich nach der Art dessen, der sich der Gewalt unterworfen hat.4 Und wenn er (der sich so völlig gebeugt hat) dann sieht, daß über jenen eine tötliche Krankheit, eine Empörung unter den ihm Zunächststehenden (antaḥkopa), eine Erstarkung [411] seiner Feinde oder ein Unglück seiner Bundesgenossen gekommen und daß dadurch für ihn selber eine Zunahme herbeigeführt worden ist, dann möge er unter einem annehmbaren Vorwand von Krankheit oder religiösen Obliegenheiten davonziehen (aus seines Unterdrückers Nähe). Oder wenn er in seinem eigenen Reiche weilt, möge er nicht (zur Hilfe) herbeikommen. Oder er möge sich in seiner nächsten Nähe halten und auf ihn einbauen, wo sich Blößen bieten.

Oder wenn er in die Mitte zwischen zwei Mächtige gestellt ist, möge er sich zu dem flüchten, der imstande ist, ihn zu retten. Oder zu dem, der ihn in der Zange hält. Oder zu beiden. Den Bettleranschluß möge er wählen.5 Dann spiegle er den einen dem anderen als einen Mann vor, der ihn mit Haut und Haar vernichten werde. Oder er entzweie die beiden, indem er beiden Böses voneinander vorspiegelt. Gegen die beiden Entzweiten übe er die »stille Strafgewalt«. Oder er stelle sich ganz auf die Seite und wende nur Gegenmittel an gegen die Gefahr von den beiden Mächtigen, die gerade vor ihm steht.6 Oder er halte sich im Schutze einer Burg als Doppelspieler. Oder er treibe es mit Mitteln, die zu Frieden oder zu Krieg hinüberführen können. Er unterstütze und gewinne die Verräter, Feinde und Waldstämme von beiden. Mit deren Hilfe haue er, indem er zu einem von den zweien geht, auf den anderen von den beiden ein, sowie er im Unglück ist.7 Oder mit beiden verbunden, erwerbe er sich Halt und Schutz in ihrem Staatenkreise selber.A3 Oder er schließe sich an den Mittelfürsten oder an den Abseitsstehenden an. Mit diesem zusammen gehe er, nachdem er den einen für sich, gewonnen hat, dem anderen ans Leben; oder auch beiden. Oder gehen ihm die beiden ans Leben, dann flüchte er sich zu einem durch kluge Politik Erstarkten,8 sei es nun Mittelfürst oder Abseitsstehender oder einer von den Königen ihrer Partei; oder auch unter einander Gleichstehenden zu einem, dessen Reichsfaktoren ihm (dem Bedrängten) Glück bringen könnten, oder dahin, wo er sich selber herauszureißen vermöchte, oder dahin, wo eine seinen Vorfahren gewohnte Zuflucht oder nahe Verwandtschaft oder wo die zahlreichern oder die überaus mächtigen Freunde sein mögen.

[412] Wer auch immer einem lieb ist und welcher von den beiden (in Betracht kommenden) auf das aus geht, was ihm lieb ist, und wem er selber lieb ist, zu dem begebe er sich. Das ist die beste Weise, Schutz zu suchen.9

Fußnoten

1 Kshaya definiert Kauṭ. 347, 8 als yugyapurushāpacaya, Kām. XVI, 23 als manushyayugyāpacaya. Beides kann heißen »Verlust an tüchtiger Mannschaft«. »Tüchtig, geeignet« scheint yugya 306, 12 bedeuten zu müssen. Unsicher sind 275, 4; 334, 9 (wo allerdings Kām. XIV, 77 auf »vorzüglich« weist); 347, 8. Yugya »Schirrtier« könnte nämlich besonders die im Kriege so wichtigen Pferde und Elefanten bezeichnen. Dann: Verlust an Schirrtieren und Mannschaft.A4


2 Er soll also dem Starken aus den Augen bleiben, sich fern von ihm halten. Sehr vernünftig klingt die Stelle nicht. Man möchte -āpakartuṃ statt -okapartum lesen: »er bemühe sich, unbemerkt ihm vermittels des Landes oder des Schatzes oder des Heeres (d.h. wohl: durch Schädigung an einem von diesen dreien) Übles zuzufügen«. Aber auch Çaṅk. kennt nur -opakartum (Kām. XI, 33).


3 Lies açakye.


4 Oder: »der um die Drangabe seiner Truppen den Frieden erkauft hat« (daṇḍopanata)? Vgl. 268, 6ff.A5


5 Siehe 269, 2 (in den Schlußstrophen des 3. Kap.).


6 Oder: »Oder als von der Seite einfallender Angreifer der beiden (vgl. 301, 5ff.) arbeite er, solange die zwei mächtig bleiben, der Gefahr entgegen, die ihm gerade zusetzt«. Wegen des Abl. bei pratikar, das Kauṭ. im Einklang mit anderen gewöhnlich mit dem Gen. oder dem Acc. gebraucht, vgl. 41, 1.


7 Das klingt hier etwas sonderbar. Ich möchte yacchaṃs statt gacchaṃs lesen: »Mit ihrer Hilfe halte er den einen von ihnen in Schach und falle dabei über den anderen her«.


8 Oder nach der anderen Lesart (nyāyavṛittim): »einen rechtlich handelnden«. In Zeile 9 lese ich: bhuyāṃsy atiçaktimanti vā.


9 Ich lese yataras. Aber auch so kommt die Strophe noch nicht recht in Ordnung.A6


A1 Wohl besser: »... gibt es Verluste, Ausgaben, Abwesenheit von Daheim und Widerwärtigkeiten« (Niederlagen usw.). Nicht aber darf man pratyavāya im Sinne von Sünde fassen, wie Sham. und dann auch Gaṇ., der da glaubt, z.B. die Vergiftung der Feinde sei gemeint. Solche Gedanken kommen einem Yudhishṭhira, nicht aber einem Arthaçāstraschriftsteller. Vgl. 284, 12.


A2 Siehe den schönen Çloka des Manu: »Alles von einem anderen Abhängige ist Unglück und Schmerz, alles von einem selber Abhängige Glück und Lust.« Das ist mit einem Worte das Kennzeichen von »Lust und Leid« (IV, 160). Oder Nītiv. 98, 3–4: »Nach eigenem Wunsch und Willen sich betätigen ist das höchste Lebenselixier des Menschen«. Vgl. ib. 117, 1–2.


A3 Besser schiene mir upahato statt upahito zu sein: »Oder wird er von beiden geschädigt (d.h. bedrängt, befehdet), dann erwerbe er« usw. Gaṇ. nun hat upahito, genau wie Sham. und Jolly, erklärt es aber durch pīḍito. Das geht kaum. Kauṭ. gebraucht upahita im Sinne von »angestellt, beauftragt« (25, 3–4; 394, 1–2) ... von »bedeckt« (51, 13).


A4 Auch nach Y. I, 347 muß wohl »Schirrtiere«, »Kriegstiere« angesetzt werden. Vgl. mit dieser Stelle M. VII, 171f.


A5 Vgl. Raghuv. XVII, 81: tasmin daṇḍopanatacaritaṃ bhejire lokapālāḥ.


A6 Auch die Lesarten von B (Jolly) und Gaṇ. bringen keine Hilfe. Die des Gaṇ. verstößt obendrein gegen die sonstige Versgepflogenheit des Kauṭ.

Quelle:
Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthaçāstra des Kauṭilya. Leipzig 1926, S. 411-413.
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