[16] Du Land des Spruchs, der Märchen und der Fragen,
Du Traum voll Reichtumsrausch und Hungergrauen,
Wie deiner Dichter, deiner Denker Schauen
Hat nichts im Leben mich emporgetragen.
Der Sinne Brand und trunkenes Entsagen
Durchlohn die Brust in deinen glühnden Gauen.
So sitzt der Mensch, am innern Ich zu bauen,
Bis Gott in ihm die Augen aufgeschlagen.
Des Seh'nden Auge hängt an Gottes Auge,
Damit es aus dem Urgeheimnis sauge
Die Stillung, die die große Stillung heißt.
Dann rauscht das Sittliche mit Adlerschwingen,
Die aus dem Wust in Lichtesmeere dringen.
Mir leuchte bis zum Tod dein edler Geist!
Was der Poet hier sagt, deckt sich so ungefähr mit der Vorstellung von Altindien, wie sie seit den Tagen unserer älteren Romantiker unter uns herrscht. Allein sie umfaßt nur einen Teil, wenn auch einen sehr wichtigen Teil Altindiens. Der alte Inder war nicht nur ein jenseitiger, sondern gar sehr auch ein diesseitiger Mensch. Schon ein längst bekanntes Werk, das in Europa bereits eine ganze Reihe von Jahrzehnten sich höchster Anerkennung erfreut und in verschiedenen Ländern, vor allem in Deutschland, auch öfters auf der Bühne dargeboten worden ist, eröffnet ganz andere Einblicke. Um Weihnachten 1924 ist es auch in New York aufgeführt und mehrere Male wiederholt worden, das altindische Drama Mṛicchakaṭikā, das Tonwägelchen oder Cārudatta und Vasantasenā. Der vorzügliche Literatur- und Kunstkritiker Joseph Wood Krutch schreibt darüber in der New Yorker Nation vom 24. Dez. 1924, S. 715, unter anderem: »Here, if anywhere, the spectator will be able to see a genuine example of that ›pure art theater‹ of which theorists talk, and here, too, he will be led to meditate upon that real wisdom of the East which lies not in esoteric doctrine but in a tenderness far deeper and truer than [17] that of the traditional Christianity which has been so thoroughly corrupted by the hard righteousness of Hebraism ... a play wholly artificial yet profoundly moving because it is not realistic but real ... Whoever the author may have been, and whether he lived in the fourth century or the eighth, he was a man good and wise with the goodness and wisdom which come not from the lips or the smoothly flowing pen of the moralist but from the heart. An exquisite sympathy with the fresh beauty of youth and love tempered his serenity, and he was old enough to understand that a light-hearted story of ingenious complication could be made the vehicle of tender humanity and confident goodness ... Such a play can be produced only by a civilization (Kultur) which has reached stability; when a civilization has thought its way through all the problems it faces it must come to rest upon something calm and naive like this. Macbeth and Othello, however great and stirring they may be, are barbarous heroes because the passionate tumult of Shakespeare is the tumult produced by the conflict between a newly awakened sensibility and a series of ethical concepts inherited from the savage age. The realistic drama of our own time is the product of a like confusion; but when problems are settled, and when passions are reconciled with the decisions of an intellect, then form alone remains ... Nowhere in our own European past do we find, this side the classics, a work more completely civilized« (ein Werk von vollkommenerer Kultur). Ein Emporstieg zu den Höhen reinerer Kultur ist nun natürlich überall auf Erden nur erlesenen Geistern vergönnt. Doch der geistige Pöbel, der am Fuße des Berges um seine eigenen Urbilder, um die goldenen Kälber, rast, während dieser oder jener Prophet hinaufklimmt, ewige Tafeln der Menschlichkeit herabzuholen, kommt bei der Geistesgeschichte eines Volkes ja nicht in Betracht. Die Hauptsache ist die, daß Berge da sind, auf die Auserwählte steigen können. Und Krutch hat recht: Altindien hatte eine Kultur, die den Boden abzugeben vermochte für solche Gebilde schönster Menschlichkeit, eine Kultur, die der unsrigen vielfach überlegen war. Und nicht ein blasses, blutloses Leben, sondern ein Leben voll Leidenschaft, Farbe, Glut, ja voll Laster und Verbrechen ist es, aus dem die Mṛicchakaṭikā erwächst. Gerade durch die ungemein bewegte, bunte Darstellung des altindischen Erdendaseins hat dieses Schauspiel für viele seinen Hauptreiz. Aber ähnlich dem Amerikaner Krutch, der einfach als empfänglicher Laie in altindischen Dingen hier richtig das Allerbedeutsamste herausgefühlt hat, sagt auch der ausgezeichnete Indologe M. Winternitz in seiner Geschichte der indischen Literatur: »Hingegen geht durch das Mṛicchakaṭika, trotzdem die Heldin eine Hetäre ist, und trotzdem Verfolgung, Diebstahl, Mordversuch und andere Gewalttätigkeiten auf offener Bühne vorkommen, ein tiefer Zug wahrer Sittlichkeit« (Bd. III, S. 209). Und wie im Drama vom Tonwägelchen, so erscheint uns altindisches Leben auch in seiner ungemein reichen Erzählungsliteratur, erscheint es uns auch in seinem gewaltigsten Spiegel: im Mahābhārata. In [18] der Einleitung zu meinem Daçakumāracaritam und in meinem »Weib im altindischen Epos« habe ich versucht, Umrisse dieses Bildes zu zeichnen.
Im Mahābhārata nun haben wir neben dem uns geläufigen »frauenhaften« Hindu auch den andern: jenen Mann, der die Sinne und die Seele des Weibes entflammt, den leidenschaftlich begehrenden, den rücksichtslos wirkenden Mann, der da erfüllt ist vom »Einzigen und seinem Eigentum«, vom »Willen zur Macht«, und bezeichnenderweise ist es gerade Frauenmund, der im Epos am hinreißendsten von diesem energievollen Herrenmann predigt. Vom Krieger und vom König ist da die Rede, alle Feinde, alles, was ihm im Weg steht, soll er niedertreten und sich selber zur Geltung bringen, seine eigene Herrschaft weiter ausdehnen. Völlig imperialistisch ist die Aufgabe, die sogar das Dharmaçāstra, die Wissenschaft von Religion und Tugend, dem altindischen Fürsten vor Augen stellt. Nicht nur gilt da Nār. XVIII, 17: »Der Könige Gewinn (artha) entspringt aus der Unterdrückung ihrer Widersacher,« sondern Yājñ. I, 341 erklärt sogar: »Genau dasselbe religiöse und Tugendverdienst (dharma), das dem Fürsten zufällt, wenn er sein eigenes Reich gut regiert, genau dasselbe erwirbt er, und zwar vollkommen, indem er das Reich des anderen in seine Gewalt bringt.« Ähnlich lautet Manu VII, 102, 106f. Dennoch stellt dergleichen im Grunde einen fremden Zweig dar, den die brahmanischen Smṛitiverfasser, wie eben ihre ganze Lehre vom »König«, anderswoher, nämlich aus dem Arthaçāstra, geholt, etwas zurechtgeschnitten und ihrem Dharmabaum eingepropft haben. Der Gedanke des Staats war diesen Schriftstellern eigentlich viel fremder als der »Mann im Mond«; nur insoweit der Fürst ihrem Standesvorteil dienen konnte und sollte, war er für sie vorhanden.
Anders steht die Sache beim Arthaçāstra oder dem Lehrbuch von der Staatskunst. Dieses bildet eine Wissenschaft für sich, selbstherrlich, aus eigenem Grund emporgewachsen, entgegengesetzt dem dharma oder dem Gesetze der Frömmigkeit, oft absichtlich auf die Spitze getrieben in schroffer Folgerichtigkeit des Denkens. Wohl kannten wir ihre kennzeichnenden Lehren zum Teil schon aus dem Volksepos und anderen Schriften, man hatte sogar seit nahezu einem halben Jahrhundert Ausgaben der politischen Lehrbücher des Kāmandaka, des Çukra und des Vaiçampāyana. Aber keines dieser Werke trägt wissenschaftliches Gepräge, und die zwei letztgenannten: die Çukranīti und die Nītiprakāçikā, sind sehr moderne Kompilationen. So wurde dieser Gattung des altindischen Schrifttums wenig Aufmerksamkeit zugewendet.
Mit einem Schlag aber änderte sich die Sache, als im Jahre 1909 der Inder Shamasastri aus einem von ihm entdeckten südindischen Manuskript das altberühmte, aber verschollene Arthaçāstra des Kauṭilya herausgab. Das gab eine Art Sensation unter den Indologen. Das Aufsehen war natürlich um so größer, als man zuerst keinen Zweifel hegte, der überlieferte Verfasser, Cāṇakya oder Vishṇugupta, nach indischer Tradition der Staatskanzler des Candragupta, [19] sei tatsächlich der Urheber. Also ein wirklich datierbares Werk, fester Boden unten den Füßen, und dabei aus so alter Zeit, aus dem 4. Jahrh. vor Christo! Nur Hillebrandt hatte schon vor dem großen Ereignis in seinem wichtigen, auf der Lektüre zweier Kauṭilyamanuskripte beruhenden Schriftchen: »Über das Kauṭilīyaçāstra und Verwandtes« (1908), S. 10 erklärt: »Wir dürfen nicht annehmen, daß Kauṭilya selbst durchweg der Verfasser des vorliegenden Textes ist. Er entstammt nur seiner Schule.« Aber auch so kämen wir wohl in die Zeit vor Christo zurück. Und dann der Inhalt! Hier haben wir einen Reichtum, eine Vielseitigkeit und eine Eigenart wie sonst nirgends. Solch ein besonnener Forscher wie Winternitz nennt das Arthaçāstra »ein einzigartiges Werk, das auf die Kulturverhältnisse und das wirkliche Leben im alten Indien mehr Licht wirft, als irgendein anderes Werk der indischen Literatur« (III, 517). »Das kostbarste Werk auf dem ganzen Gebiet der altindischen Literatur« haben es mehrere Sachkenner genannt.
Und nicht nur die Fülle des Lichtes ist so bedeutsam, sondern eigentlich mehr das neue Licht, dessen Strahlen ein ganz anderes Indien erhellen als das uns meist gewohnte, eben jenes schon erwähnte, rein diesseitige, weltliche, realistische, ja im Grunde materialistische Indien. Zwar daß auch der Materialismus als Philosophie, ja als sehr verbreitete Denkerlehre, auf jener altindischen Erde, die eine übergewaltige Fülle philosophischer Spekulation der verschiedensten Art aus ihrem glühend lebendigen Schoß hervorgetrieben hat, zu finden war, das können wir mehreren Quellen entnehmen, und wir sind auch einigermaßen über den Inhalt dieser materialistischen Anschauungen unterrichtet. Hier aber, im Arthaçāstra des Kauṭ., haben wir es nicht mit mehr oder minder abstrakten Denkgebilden zu tun, sondern die Welt dieses Werkes ist, wenigstens dem Anschein nach, in Fleisch und Blut verwandelte Diesseitsphilosophie. Die ganze Lehre vom Staat und Staatsleben erwächst hier aus dem Satz: »Nur der irdische Vorteil gilt. Gut ist alles, was diesen Vorteil fördert, schlecht alles, was ihn beeinträchtigt.« Nicht der Gedanke ist ja neu, aus der Spruchpoesie Altindiens kennen wir ihn schon lange, und besonders, wenn auch nicht allein auf die Politik angewendet, spricht ihn z.B. das MBh. (Mahābhārata) oft sehr kraftvoll aus. Aber sogar der zu einem gewissen Grade systematische Ausbau, wie wir ihn in MBh. XII, 56ff. vor uns sehen, trägt nur Balken, herausgerissen aus rein politischen Lehrgebäuden, in sich, untermischt mit manchem anderen. So fehlt im MBh. schon der Mittelpunkt der Staatslehre des Kauṭ., der vijigīshu oder »Eroberer der Erde«. Nicht daß diese Traumgestalt Altindiens, die unter verschiedenen Namen, wie z.B. als Cakravartin, die Einbildungskraft so vieler Dichter, Denker und Erzähler beschäftigt hat, der früheren Zeit fremd wäre. Der Gedanke des Allbeherrschers geht von der vedisch-brahmanischen Zeit herab. Ja, nach Kāmandaka VIII, 21 hätten sogar alte Lehrer schon den vijigīshu an die Spitze des maṇḍala oder Staatenkreises gestellt. Aber er mag den ihm [20] geläufigen Ausdruck an die Stelle älterer, wesentlich gleichbedeutender geschoben haben. Auch andere Erklärungen sind denkbar. Auf jeden Fall betrachtet Manu die Welt nicht vom Standpunkt des vijigīshu, sondern dieser ist in VII, 155 einfach ein Fürst mitten unter andern. Ebenso in MBh. I, 62, 20; XII, 131, 5 usw. Anderwärts, wie in MBh. XII, 80, 5; Rām. V, 36, 17 usw. hat das Wort noch weniger Inhalt. Bei Kauṭ. aber strahlt der ganze Staatenkreis vom vijigīshu oder »Eroberung Begehrenden« aus. Und in 428, 1–2 sagt er: »Ein Wort, in dessen Gebrauch andere nicht mit dem Autor übereinstimmen, ist sein eigener Kunstausdruck. Wie z.B.: ›Er (der Eroberer) ist der erste Faktor, sein unmittelbarer Nachbar der zweite, der durch ein Land getrennte der dritte‹« (Übers. 667, 5ff.). Sonderbarer weise entspricht unter den 32 yukti oder Kunstmitteln nur in diesem Fall das Beispiel wörtlich keiner einzigen Stelle im Buch selber. Dem Inhalt nach aber müssen wir es auf 258, 7ff. beziehen und müssen außerdem wohl den Ausfall eines vijigīshuḥ vor prathamā prakṛitis annehmen. Nun läge es am nächsten, die Sache so zu verstehen: Dies ist das Neue, daß Kauṭ. den Eroberer und die anderen Fürsten prakṛiti nennt. Aber Manu VII, 156 hat genau dieselbe Bezeichnung für die 12 Könige des Staatenkreises, und Kām. VIII, 24f. teilt uns mit, daß der Brauch, jedem dieser zwölf die in Manu VII, 157 wirklich genannten fünf Unterfaktoren: amātya, rāshṭra, durga, koça und daṇḍa beizugesellen (wohl statt der um das mitra vermehrten sechse) und so 72 Faktoren (prakṛiti) zu bekommen, den Mānava eigentümlich sei. Kauṭ. kennt dieselbe Lehre (Übers. 403, 18–404, 5). Nun bedeutet diese Neuerung des Kauṭ. freilich nur eine Umtaufe. Aber die Tatsache, daß schon im Wort für den Imperator sich der imperialistische Machtwille ankündigt, hat immerhin Bedeutung. Es ist doch wahrhaftig nicht gleichgültig, welchen Namen ein Ding hat.
Nimmt man nun noch die Anschauung hinzu, daß im Arthaçāstra nicht ein müßiger Träumer rede, sondern der kraftvoll tätige Leiter der Staatsgeschicke eines Weltreichs, der Kanzler des größten altindischen Königs, ja der Schöpfer dieses Fürsten selber, daß also in Kauṭ.s Buch eine geschichtliche Quelle für die Kenntnis altindischen Großstaatentums vor uns aufsprudle, so begreift sich leicht, daß dies Werk namentlich für unsere »Jung-Inder« und ihre Gedanken eine beispiellose Wichtigkeit erlangen mußte. Auf den geistvollsten unter ihnen, den in europäischer Lit. fabelhaft belesenen Professor Benoy Kumar Sarkar hat freilich besonders auch die von ihm bearbeitete und viel zu hoch gestellte Çukranīti stark eingewirkt. Wenn er aber sagt, aus ihr könne man ersehen, daß Altindien in Hinsicht auf alle materiellen Wissenschaften und Künste schon in alten Zeiten zu hoher Entwicklung gediehen sei, so wird das stimmen. Denn die Lehrabrisse über eine ganze Reihe praktischer Wissenschaften und Künste, die uns in Purāṇas und anderen Kompilationen vorliegen, die Zitate, die die Kommentatoren zu den Volks- und den Kunstepen und zu anderen Werken aus älteren Schriften über solche Gegenstände [21] mitteilen, sowie auch die betr. Teile der Çukranīti stellen ja nur kümmerliche Überreste einer reichen älteren, zum Teil wahrscheinlich sehr alten Literatur dieser Gattungen dar.
Ist nun aber Cāṇakya, der Staatskanzler Candraguptas, wirklich der Verfasser unseres Arthaçāstra wie die altindische Überlieferung einstimmig behauptet? Man hat eingewendet, nicht einmal gelebt habe solch ein Minister; denn hätte er gelebt, so wäre das Schweigen des Megasthenes über ihn unerklärlich. Aber zunächst einmal besitzen wir nur noch Bruchstücke aus dem Werke des griechischen Gesandten an Candraguptas Hof, und zweitens ließe sich aus verschiedenen Gründen denken, daß Megasthenes wirklich nichts von ihm berichtet habe. Er kam 20 Jahre nach Candraguptas Thronbesteigung an dessen Hof. Wer sagt uns, daß Cāṇakya da noch gelebt habe, oder auch, daß der kraftvolle Herrscher ihn nicht auf die Seite geschoben gehabt habe und nicht Cāṇakya wenigstens in diesem Punkte ein »altindischer Bismarck« gewesen sei? Davon später mehr. Sogar wenn Candragupta, unähnlich dem Hohenzollern Wilhelm II., ein Wunder an Weisheit und Dankbarkeit gewesen sein sollte, hätte er mit Cāṇakya einen schweren Stand gehabt. Denn der Cāṇakya der altindischen Überlieferung ist ein anmaßlicher, toller Zornnickel. Und wirkte er noch, dann mag seine Tätigkeit mehr im Verborgenen vor sich gegangen oder dem Griechen doch in ihrer Art als selbstverständlich, als nichts Besonderes erschienen sein. Bei der bekannten Richtung seiner Schriftstellerei über Indien hat diese letzte Annahme sogar sehr große Wahrscheinlichkeit für sich. Auf jeden Fall aber wohnt dem argumentum ex silentio keinerlei Kraft inne. Dasselbe gilt bei der Einwendung von Winternitz: »Patañjali erwähnt im Mahābhāshya die Mauryas und die Sabhā des Candragupta, von Kauṭ. aber sagt er nichts.« Allzu belanglos ist auch das Bedenken, daß sogar die Sage von Cāṇakya keiner Schriftstellerei erwähne. Etwas mehr Gewicht haben die übrigen Gründe des eben genannten Gelehrten. Sie sind: 1. »Nur in der Schlußstrophe lesen wir, daß der Mann, der die Nandas gestürzt habe, auch der Verfasser des Athaç. sei, und nur hier wird Vishṇugupta als Name des Autors genannt, während er im Buche selbst bloß Kauṭilya heißt. Kauṭilya aber bedeutet ›Falschheit‹ ›Tartüfferie‹, und es ist nicht wahrscheinlich, daß Candraguptas Minister sich selbst diesen Namen gegeben habe.« Natürlich nicht, wohl aber andere. Er war ein Brahmane, warum also nicht von Haus aus auch Lehrer wie noch als Staatskanzler im Mudrārākshasa? Schüler geben überall auf Erden ihren Lehrern Übernamen und gebrauchen dann einzig diese. Daß sie es auch in Altindien ebenso machten, beweisen die vielen Lehrer- und Autorenspitznamen auf allen Gebieten der altindischen Geistesgeschichte. In der politischen Wissenschaft vollends wimmelt es von ihnen. Ja, die Smṛiti verbietet sogar dem Schüler, daß er den wirklichen Namen des Lehrers in den Mund nehme (Ā. I, 2, 8, 15; G. II, 18; VI, 12). Die Wurzel dieser Vorschrift, wie ungezählter anderer in der Smṛiti, ist aber[22] nicht der Anstand, sondern der Zauberglaube. Da nun einzig der Gebrauch des wirklichen Namens zauberisch wirkungsvoll ist, Gewalt gibt über die betr. Person, nicht aber der Spitzname, so durften die Schüler diesen getrost benutzen. Und das haben sie redlich besorgt. Eine spätere Schicht der Entwicklung liegt in M. II, 199 und dessen Ausfluß Vish. XXVIII, 24 vor, wo das kevala nāman verboten wird, d.h. die Nennung des Namens ohne Ehrentitel, wie nicht minder in G. II, 23, wo ich den Ausfall eines na annehme: »Er spreche nicht dessen Vornamen und Geschlechtsnamen in allgemeiner, d.h. ununterschiedener Weise aus.« Nimmt man den Text, wie er dasteht, dann gehört die Stelle zu Ā. I, 2, 8, 15 und muß man Haradattas allerdings sprachlich anfechtbare Deutung annehmen. Warum nun aber sollte Kauṭ. nicht sich selber mit seinem Spitznamen bezeichnet haben? Der Dichter des Mudrār., der ihn richtig von kuṭila »krumm, hinterlistig« ableitet, hält ihn für eine Ehre (I, Str. 7; IV, Str. 2). Trügerische Verschlagenheit gilt bei allen Völkern als eine Tugend. Israel, der Erzvater der Israeliten, hieß eigentlich Jakob, d.h. der Betrüger, und wie die Geschichte seines Vaters und seines Großvaters zeigt, hat er nur eins nicht gestohlen – seine Verschmitztheit. Ein redlicher Politiker vollends ist für Kauṭ. sowohl wie für all seine Genossen ein Unding. Vishṇugupta kann jeder heißen, Kauṭilya ist ein Kronenorden aus den Händen der Natur und der Wissenschaft. Vishṇugupta Kauṭilya, zu deutsch etwa: Gottlieb Hinterlist – könnte man sich ein vorzüglicheres Namensgespann für die Lebens- und Ewigkeitsfahrt eines solchen Politikers denken1! Wenn besonders Gaṇapati Einspruch erhebt gegen die Form Kauṭilya und darlegt, nur Kauṭalya »vom Geschlechte des Kuṭala«, also Kuṭalasohn, sei richtig, so mag das stimmen. Schon Hillebrandt hat ja in seiner Schrift »Über das Kauṭilīyaçāstra« und zwar im ersten Satz, also vor beinahe 20 Jahren, ihn als »Kauṭalya, den Nachkommen des Kuṭala« vorgeführt. Kauṭalya bot dann eine bequeme Handhabe für Kauṭilya, eine viel bessere und rühmlichere Bezeichnung des Mannes.
Was die Behauptung von Winternitz anlangt: »Der Verfasser ist nicht ein praktischer Staatsmann, sondern ein pedantischer Gelehrter, und sein Werk hat es nicht mit einem gewaltigen Reiche zu tun, wie das des Candragupta war, sondern setzt die Kleinstaaterei voraus,« so hat niemand anders als der Urheber von Kauṭ. 4, 2–3 (Schlußstrophe des Inhaltsverzeichnisses) und von 75, 8–9 (Schlußstorphe des 28. Gegenstandes) diesen Beweisgrund von vorneherein entkräftet. Da heißt es, der Verfasser habe alle vorhandenen Lehrbücher der Politik durchstudiert und mit deren Hilfe dieses kurze Kompendium [23] zusammengestellt, und die Schlußverse des ganzen Werkes wiederholen dieselbe Erklärung durch ihr çāstram amarsheṇodd kṛitam und tena çāstram idam kṛitam, d.h. die Wissenschaft, selbstverständlich die der Politik, ist von ihm voll zorniger Ungeduld aus ihrem übeln Zustand herausgehoben oder gerettet worden, ebenso wie er die Erde von ihrem schlechten Beherrscher erlöst hat. Die zornige Ungeduld paßt vorzüglich zu der Tradition von Cāṇakyas Charakter und zu einer ganzen Anzahl Stellen im Arthaçāstrā, die den Verfasser deutlich als einen leidenschaftlichen, stolzen, zornmütigen Menschen erkennen lassen. Auf mehrere solche Stellen mache ich in der Übers. aufmerksam. Zugleich aber heißt uddhṛita untersucht, geprüft, kritisch gesichtet. Der Verfasser hat also nicht alles übernommen, sondern hat die Arthaçāstra-Lit., die er vorfand, ausgehoben, einen Auszug daraus gemacht. Dies ist ja ein dritter gewöhnlicher Sinn des Wortes. Wenn Jacobi in SBAW 1912, S. 847f. uddhṛita durch »wieder in sein Recht eingesetzt, reformiert« überträgt, so berührt sich das mit meiner ersten Widergabe. »Und so hat er dieses Lehrbuch gemacht,« und zwar āçu »ohne viel Bedenken, getrieben von zorniger Ungeduld« und zugleich »rasch vorwärts schreitend, ohne ein Langes und Breites zu machen, zusammenfassend,« also »kurzerhand und kurz«. Wer das Arthaç. aufmerksam gelesen hat, muß sagen, diese Strophe kennzeichnet die ganze Geistesart des Verfassers aufs Treueste und mag ganz wohl von ihm selber stammen. Sehr wichtig aber ist ihre Urheberschaft in keiner Hinsicht. In den genannten Strophen nun bloße Bescheidenheit oder eine leere captatio benevolentiae zu sehen, wie Jolly in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Textes (S. 33), scheint mir schon an sich vollkommen ungerechtfertigt zu sein. Daß solche Zweifel durch anderes unmöglich gemacht werden, davon dann später. Wir haben also einen Kompilator vor uns. Aber einen außergewöhnlichen, eigenartigen. Zunächst einmal ist es überhaupt bei halbwegs anständigen Ausschreibern in Altindien nicht Sitte, eine Vorlage wiederzugeben und weiter nichts. Sie ziehen mindestens noch andere Werke hinzu. Das nächstliegende Beispiel ist hier Kāmandaka. Er schreibt ein Lehrbuch der Politik, gegründet auf seinen von ihm selber genannten großen Meister Kauṭ. Aber gar manches bei ihm, auch abgesehen von den moralischen Partien, stammt anderswoher. Kauṭ. nun tritt uns im Verlaufe seines Werks ungezählte Male nicht als Bṛihaspatianer oder als Uçanasianer entgegen, sondern als Selberaner2. Schon das beständige iti Kauṭilyah ist ein stolzes Ego ipsissimus. Aber der Mann könnte ja gar kein indischer Schriftsteller sein, wenn seine Selbständigkeit nicht ziemlich enge Grenzen hätte. Er war sodann nicht der Schöpfer einer neuen Wissenschaft, sondern ein Enkel, ein Erbe. Eine reiche [24] Literatur mit vielen Namen und Meistern fand er vor. Er selber nennt sie immer und immer wieder. Jolly hat nun schon früher und jetzt aufs Neue zweimal in der Vorrede zu seiner Ausgabe behauptet: Kauṭ. hat aus dem MBh. oder aus der Tradition sich eine Reihe Namen von vorgeblichen Arthaçāstraverfassern geholt und dann, um seinen trockenen Gegenstand lebendig, ja dramatisch zu gestalten, diese verschiedenen Männer oder Schulen redend eingeführt, ihnen diese und diese Meinungen in den Mund gelegt und dann immer sie widerlegt oder doch zum Schweigen gebracht mit seiner eigenen abschließenden und entscheidenden Lehranschauung. Das ist kein glücklicher Einfall. Zwar halte ich viel von Kauṭ. als Schriftsteller. Jollys auch an sich ganz unwahrscheinliche Anschauung aber macht den Mann zum reinen Shakespeare. Sodann: andere indische Quellen, vor allem das MBh. und die Purāṇa, nennen uns ebenfalls eine stattliche Reihe von Bearbeitern des Arthaç., die wir zum größten Teil auch im Kauṭ. finden. »Gerade von daher kriegt sie ja Kauṭ.,« ruft Jolly. Woher hat sie denn nun aber das MBh. und die Tradition? Natürlicher wäre da noch die Annahme, daß das MBh. sie aus dem Arthaçāstra des Kauṭ. bezogen habe, da sie nach Jolly dieser doch so arg nötig hatte für sein Schulmeisterdrama, während das MBh. ihrer nicht so sehr bedurfte. In Wirklichkeit kommen natürlich die im Kauṭ., im MBh. und sonst erscheinenden Nachrichten aus einer gemeinsamen Quelle, nämlich aus der Wirklichkeit, aus dem tatsächlichen Vorhandensein alter Schulen und Einzellehrer der Staatsweisheit. Nun behauptet zwar Jolly, seine Erklärung von der Dramatisierung sei nicht eine bloße Vermutung, sondern Kauṭ. selber sage uns ja in seinem letzten Buch (Text 424, 18 und 428, 3ff.; Übers. 663,10; 667, 9–14; das nächste sūtra gehört nicht hierher), diese Gegenüberstellung der Lehren anderer und der eigenen sei ein Kunstmittel des Verfassers selber. Kauṭ. sagt aber nur: »Dies (d.h. das arthaçāstra) ist ausgestattet mit 32 Kunstmitteln.« Damit kann er einfach die politische Wissenschaft meinen und es könnten alle diese 32 »methodischen« oder »praktischen Kunstgriffe« (yukti) schon von Vorgängern Kauṭ.'s gebraucht worden sein. Wahrscheinlich ist das wohl kaum, aber ebenso unwahrscheinlich, daß Kauṭ. alle erfunden habe. Auch hier wird er zum Teil, ja vermutlich vorwiegend, Altes übernommen und das Alte nur vermehrt haben. Die 23. yukti ist die svasaṃjñā »des Autors eigene Bezeichnung«. Schon hieraus erhellt, daß die Terminologie und der Inhaltsbestand der politischen Wissenschaft zur Zeit des Kauṭ. in allem Wesentlichen festgelegt war. Und sodann: Will man aus dieser 23. yukti nun auch schließen: Folglich haben Kunstausdrücke einzelner Verfasser im Arthaçastra vor Kauṭ. gefehlt? Oder man sehe sich doch die an deren yukti an. Woher könnten diese alle Kauṭ.'s Erfindung sein! Auch beweist schon ein einziger Fall des pūrvapaksha, daß Jollys Annahme so gut wie unmöglich ist. In 328, 2 (Übers. 505, 7ff.) lesen wir: »Von den zweien: Weiberlaster und Trinklaster ist das Weiberlaster schlimmer.« So Vātavyādhi. »Die Torheit, [25] die mit den Weibern zusammengeht, ist nämlich vielfach, im Kapitel vom Frauengemach dargelegt worden.« Wir sehen also, Vātavyādhi verbreitet sich im Kapitel vom Harem über die Übel, die aus der Hingabe an die Weiber entspringen. Sogar der Name des Kapitels, niçāntapraṇidhi, ist der gleiche wie bei Kauṭ. (17. Gegenstand). Vermag nun jemand zu denken, Kauṭ. sei ein so abgefeimter Schlauberger gewesen, daß er wie ein raffiniert berechnender Schriftsteller unserer zweifelsüchtigen westlichen Neuzeit sich gesagt habe: »Die Leute werden mir meine Finte von den früheren Lehrern nicht glauben. Also muß ich schon, um sie zu überzeugen, diese genaue Stellenangabe noch hinzuerfinden?« Und hätten wir wirklich einen so ausgeklügelten Kniff, warum dann bloß hier? Alles aber sieht rein natürlich aus, sowie wir ein wirkliches Zitat annehmen. Auch sonst erklärt sich ein oder zweimal ein Wörtchen in solch einer Anführung am ungezwungensten, wenn wir ein Herausreißen aus dem Zusammenhang dafür verantwortlich halten. Also bleibt es dabei: Kauṭ. ist nur Bearbeiter, wenn auch ein in hohem Grade selbständiger und eigenwilliger Bearbeiter einer schon vor ihm viel angebauten und ausgebauten Wissenschaft, und wie er uns selber sagt, übernimmt er im Wesentlichen den Bestand, den er vorfindet. Diese Vorgänger aber waren keine Kanzler von großen Kaiserreichen gewesen, kannten nur die alte Kleinstaaterei. Auf die war ihre Weisheit zugeschnitten. Wollte Kauṭ. nicht diesen ganzen Rock auftrennen und neu machen, oder besser: wollte er nicht völlig anderes Zeug nehmen und einen ganz anderen Rock verfertigen, dann mußte er wohl oder übel die Kleinstaatenzwickel und die Provinzialschneidernähte beibehalten. Daß er aber auch gar manche Flicken aufgeheftet hat, die nicht auf den altindischen Kleinstaat passen, sondern nur auf ein mächtiges Reich, tritt an mehreren Stellen zutage. Mir käme sogar ein Arthaç., geschrieben von einem Kanzler Candraguptas, das nicht die geringste Spur der Bekanntschaft mit großen Verhältnissen verriete, weit natürlicher vor als ein Lehrbuch der Staatskunde von solch einem Manne, das einzig den wirklichen Zuständen im Reich des ersten Maurya so, wie wir es uns vorstellen müssen entspräche3. Übrigens wird ja auch Candraguptas Reich, wenigstens in gar vielen Dingen, kaum etwas anderes gewesen sein als ein ins Riesenhafte aufgeblähter altindischer Kleinstaat. Überhaupt führten die Beherrscher der großen indischen »Weltreiche« wenig Neuerungen in der Verwaltung ein. Siehe z.B. Mookerji, Loc. Gov. S. 9. Und wäre Candragupta wirklich ein Neuschöpfer und Umkrempler gewesen, so mag doch sein Staatskanzler entweder überhaupt oder doch zu der Zeit, wo er daran ging, sein Lehrbuch zu schreiben, vielleicht in höherem Alter, vielleicht als Abgedankter oder sonst Verärgerter, weit konservativer [26] gewesen sein. Auf jeden Fall hätte ein Lehrbuch, wie abendländische Gelehrte es eines Staatskanzlers in Candraguptas Reich würdig erachten, einen Bruch mit dem Hergebrachten bedeutet, wie ich wenigstens ihn mir bei einem alten Inder einfach nicht denken kann. Die Pedanterie, die Schematisierungs- und Klassifizierungssucht, die Winternitz dem Verfasser so bös ankreidet, scheint mir sogar für einen Mauryaminister das völlig Natürliche zu sein. Das Mudrārākshasa macht den Schöpfer und Meister des Candragupta zu einem regelrechten Paṇḍit, der nach Lehrerart leicht mit dem Schüler keift (ed. Hillebrandt 5, 15ff.), der als Vedagelehrter unleserlich schreibt (22, 5), und dessen Haus wie die Hütte eines armen brahmanischen Magisters aussieht, das Dach eingesunken und mit Holz bedeckt, das dort droben trocknen soll (77,12; III, Str. 16). So hat sich ihn jedenfalls nicht nur Viçākhadatta, sondern die Überlieferung der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechung vorgestellt. Warum sollte sie nicht ein besserer Maßstab sein als von uns spätgeborenen Fremdlingen aufgestellte Forderungen? Wenn also Winternitz ruft: »Gerade wie ein Paṇḍit,« dann hat er Recht – der Verfasser unseres Arthaç. war ein Paṇḍit. Woher aber wissen wir, daß der sagenberühmte Kanzler Candraguptas etwas anderes gewesen ist oder hätte sein müssen?
Der Verfasser des Arthaç. ist sogar der reine Stubengelehrte, in gar mancher Hinsicht so weltfremd, daß man selbst einem ganz gewöhnlichen Paṇḍit solche Sachen nicht zutrauen sollte. In 172, 5ff. (Übers. 271, 20) behandelt er den Schaden, den Vieh anrichtet. Alle die entsprechenden Smṛitistellen befassen sich da mit dem Schaden an Feldfrüchten. Daß sie dabei eine höhere Strafe ansetzen, wenn die Tiere sich im Acker niedergelegt oder gar dort übernachtet haben, ist in der Ordnung. Kauṭ.'s sehr ähnlich lautende Bestimmungen aber reden vom Eindringen in eingezäunte Weiden. Da hat eine höhere Strafe beim Niederlegen des Viehs keinen Sinn, wie ich dort in der Zusatzanm. ausführe. Seine Darstellung der Längen- und der Feldmaße ist verworren (Übers. 165, 20ff.). Er weiß allem Anschein nach nicht ordentlich Bescheid in den Ausdrücken der Pferdekunde (s. Übers. 213ff. und meine Bemerkungen). Die Größe seiner Pferde gehört ins Fabelreich (S. Übers. 210, Anm. 5). Ebenso wenigstens ein Teil seiner Angaben vom Bau der Burg (Übers. S. 64ff.)4.
[27] Geradezu komisch wirkt das Paṇḍitbewußtsein des Kauṭ. Wie stolz ist er auf sein Traktätlein vom Stil, das doch sehr primitiv und elementar anmutet, d.h. auf das 10. Kap. des 2. Buches! Da fühlt er sich daheim, hier ist das einzige Ei, das er in dem ganzen so unendlich wichtigen 2. Buch selber gelegt hat, und er begackert es auch gehörig: »Nachdem Kauṭ. alle Lehrbücher durchlaufen und die Praxis kennen gelernt hatte, hat er zum Besten der Könige die Vorschrift für die Regierungskundgebungen verfaßt.« Höchst sonderbar nimmt sich dieser Schlußçloka aus. Nirgends im ganzen Werk hat er seinesgleichen, bei keinem sonstigen Gegenstand nennt sich Kauṭ. ausdrücklich als Urheber des Vorgetragenen, natürlich abgesehen von den vielen iti Kauṭilyah. Warum nun hier? Erstens: Kauṭ. hat alles andere in diesem 2. Buch, wo ja dieses iti K. auch nirgends erscheint, aus Sonderbehandlungen der betr. Gegenstände abgeschrieben oder doch zurechtgemacht. Eigene Kenntnis all der mannigfachen Wissensgebiete, auf die wir im 2. Buch geführt werden, hat er allem Anschein nach nicht besessen. Ich unterschreibe also die [28] Worte von Winternitz: »Wahrscheinlich ist es aber, daß es Spezialwerke über die einzelnen Gebiete gegeben hat, die der Verf. des Arthaç. wenig verändert in sein Werk aufgenommen hat« (S. 522). Nur möchte ich statt »wahrscheinlich« ein »zweifellos« setzen und hinzufügen: »Wo er aber änderte, da hat er wohl immer verdorben.« Zweitens: Ist der Urheber unseres Lehrbuchs der Staatskunde nun aber besonders auf all den Gebieten des wirtschaftlichen Lebens, die im 2. Buch gestreift werden, kein Held, ja sogar mit dem Landleben so unbekannt wie ein Stadtgelehrter unserer Tage, so zeugt sein Werk doch anderwärts von einem hochbedeutenden Geiste und von großem Wissen, und daß dieser Paṇḍit nicht die Sprach- und Stilkunst seiner Zeit beherrscht hätte, scheint einfach undenkbar zu sein. Bühler hat aber schon im Jahre 1890 den Satz erhärtet: »Die Inschriften erlauben uns, das Vorhandensein einer Kāvyaliṭ. in Sanskrit und Prakrit während der ersten fünf Jahrhunderte unserer Ära zu beweisen« (Die ind. Inschr. u. das Alter der ind. Kunstpoesie, Sitzungsber. der Wien. Akad. Bd. 122, S. 3), und seitdem sind die Gelehrten durch Açvaghosha und sonstige Werke auch anderweitig von der Richtigkeit dieser Worte überzeugt worden. Eine Alaṃkāradichtung ohne Alaṃkāraçāstra aber ist einem Inder wohl noch unmöglicher als einem rechten Deutschen eine Kunstübung ohne theoretische Spekulation. Selbstverständlich hat es auch in Altindien Dichter gegeben, ehe es Lehrbücher der Dichterei gab. Zu dem Satze von Winternitz: »Valmīki hat gewiß noch kein Lehrbuch der Poetik gekannt« möchte ich aber ein großes Fragezeichen setzen. Auf jeden Fall kann ich mir einen nach Christo lebenden Paṇḍit von Kauṭ.'s Geist, der das eben genannte Kapitel des Arthaç. mit solchem Triumph der Welt dargeboten hätte, gar nicht vorstellen. Selbst für das 4. Jahrh. v. Chr. bedarf dies Stücklein Selbstbewußtsein einer Erklärung. Aber die dichterische Diktion und Kunstlehre pflegt sich vor der der Prosa [29] zu entwickeln. Die Tatsache, daß natürlich eine Anleitung für Amtsschreiber etwas anderes ist als ein Regelbüchlein für Poeten, ändert nicht so viel an der Sache.
Wenn nun Winternitz fortfährt: »Daraus ergibt sich, daß der Entstehung des Kauṭilīya-Arthaçāstra nicht nur eine lange literarische Tätigkeit auf dem Gebiete der Politik, sondern auch auf verschiedenen Gebieten der Technik und der Volkswirtschaft vorausgegangen sein muß,« so ist das völlig meine Meinung. Eine andere ist eben einfach unmöglich. Aber der weitere Schluß: »Also, ist das 4. Jahrh. v. Chr. zum mindesten nicht sehr wahrscheinlich« (S. 522) folgt noch lange nicht. Die Anschauung, daß die Inder nicht schon in jener Zeit eine sehr ausgebaute politische und wirtschaftliche Wissenschaft besessen hätten, kann nicht bewiesen werden, klingt sogar sehr unglaubwürdig.
Auch Jolly, der doch all die von Kauṭ. redend eingeführten Vorgänger und ihre Worte für erdichtet hält, sagt auf S. 33 der Introduction zu seiner Ausgabe, Kauṭ. sei das Ergebnis (outcome) eines langen Zeitraums schriftstellerischer Tätigkeit auf dem Gebiete der politischen Wissenschaft, Wer sind dann diese früheren gewesen, wo doch die dramatis personae in unserem Arthaçāstra rein aus der Luft gegriffen sein sollen? Ich vermag mir diese zwei einander grell widersprechencen Ansichten nicht zu reimen. Um zu zeigen, daß eine solche Tätigkeit erst späterer Zeit angehören könne, führt Jolly aus: Das Arthaç. hat sich erst nach dem Dharmaçāstra entwickelt (S. 20), weil die vedische Lit. ein wesentlich religiöses Gepräge hat, und weltliche Gegenstände, wie sie im Arthaç. behandel werden, den alten Rishi unwichtig, ja gottlos vorkommen mußten. »Erst als Einzelschulen für jeden besonderen Zweig des Wissens an die Stelle der alten vedischen Schulen getreten waren, konnten Schulen des Arthaç. entstehen, zuerst als Zweige des Dharmaç. und dann als ein unabhängiges Gebiet des Studiums.« Aber zunächst einmal halte ich die bisherige Anschauung, daß die Entstehung und Ausbildung des altindischen Rechts einfach von den Brahmanen ausgegangen sei, für unrichtig. Meine Ansicht wird in meinem Buch: »Über das Wesen der altind. Rechtsschriften und ihr Verhältnis zu einander und zu Kauṭilya« begründet. Nicht einmal die »Entwicklung des geistlichen Rechts« können wir in dem uns vorliegenden Dharmaçāstra verfolgen, sondern nur dessen spätere Darstellung. Das weltliche Recht vollends ist unter anderen Volksklassen entstanden und zuerst unter diesen gepflegt worden. Später und im Grunde widerwillig hat das in seinem Wesen rein brahmanisch-religiöse oder besser: schamanisch-magische Recht auch das weltliche Recht in sein Haus aufgenommen. Nur kleine Gewandfetzen wurden zuerst dem weltlichen Recht vom Leib gerissen und dem priesterlichen Mantel des geistlichen aufgeheftet, dann mehr und mehr, bis endlich der Zweck erreicht war: das schamanisch-magische Recht der Brahmanen hatte sich auch mit weltlichen Flicken genügend herausgeputzt, daß es den Bruder ganz verdrängen konnte und dieser in seiner Blöße zugrunde [30] ging. Sogar das Arthaç. wurde in Bruchstücken, zum Teil mehr, zum Teil weniger zurechtgehauen, hineingebaut in die spätere Smṛiti, und zwar auch dies in dem Bestreben, es als besondere Wissenschaft überflüssig zu machen. Dies Bestreben ist nur zum Teil gelungen.
Der Geist und viele besondere Lehren des Arthaç. waren nun nicht nur einzelnen alten Indern, sondern ganzen großen Gemeinschaften, wie den Buddhisten, anstößig, erschienen ihnen als ruchlos. Die Brahmanenkaste aber teilte als solche diesen Widerwillen nicht. Zunächst einmal fehlte ihr, wie im Großen und Ganzen dem priesterlichen Stande bei allen Völkern, der Schwung der sittlichen Begeisterung, die ideale Geistigkeit. Wie die Priester überall waren die Brahmanen Heger und Pfleger des Alten, des Bestehenden, vor allem der brahmanischen Weltanschauung. Rücksichtslose Verfolgung des eigenen Vorteils nun ist Art des Menschen überhaupt, nicht nur des Fürsten. Eingeengt wird er dabei meist nur durch Tabus. Auch den »bäuerischen Machiavell« hat Christian Weise, der Rektor von Zittau, keineswegs erfunden. Immerhin aber bildet der Königshof den wenigst behinderten, natürlichsten und kräftigsten Boden des Machiavellismus. Auch altindische Fürsten haben ihn selbstverständlich von jeher geübt. Eine sittliche Entrüstung wird die Brahmanenkaste nur dann empfunden haben, wenn er ihr selber etwas zuleide tat. Kränkung des Mannes von der priesterlichen Klasse durch König und Adel sowie durch andere weltliche Große war nun häufig genug; denn der Brahmane, der Bettler mit dem Munde »wie ein offenes Stadttor«, flößte den Herren Verachtung ein, wie uns gar manche Stellen der brahmanischen Lit. verraten. Wahrscheinlich liegt wenigstens zum Teil hier der Grund, weshalb schon das älteste uns erhaltene Smṛitiwerk, das des Baudh., auch vom Dienst bei einem Fürsten sagt, er bringe Brahmanenfamilien herab, wenn sie des vedischen Wissens (mantra) entbehrten (I, 5, 84f.; vgl. M. III, 64–66, auch das rājadvārakṛita von B. III, 6, 5; Vish. XLVIII, 22); und M. IV, 86 erklärt: »Nach der Überlieferung ist ein König so schlimm wie ein Metzger, der 10000 Schlachthäuser betreibt. Entsetzlich ist es (für den Brahmanen), von hier etwas anzunehmen.« Yājñavalkya erweist sich auch darin als späterer Dharmaschriftsteller, daß er sogar gebietet: Upeyād īçvaraṃ caiva yogakshemārthasiddhaye »Damit ihm ein gesichertes Auskommen und irdisches Gut zuteil werde, mache er sich an einen Herrn oder Herrscher« (I, 100), was dann der noch spätere Vish. verkürzt zu: Atha yogakshemārtham īçvaram adhigacchet (LXIII, 1) und der Allerspäteste der für alt Erachteten, nämlich Gautama, zu yogakshemārtham īçvaram adhigacchet (IX, 63; vgl. dagegen M. IV, 33; X, 113; Vas. XII, 1–2). Der Abscheu vor den Großen und ihren Gaben pflegt nur denen eigen zu sein, die davon ausgeschlossen sind. Sittliche Bedenken sind da von der priesterlichen Kaste nicht in die Welt gesetzt worden. Wohl aber hat es, soweit wir sehen können, unter den Brahmanen immer solche gegeben, die sich dem Neuen und Höheren, das von anderwärts kam, begeistert [31] zuwandten. Ja, da und dort einmal waren einzelne Brahmanen gewiß die Anreger, die Propheten der Vita nuova. Sodann ist der ganzen brahmanischen Kaste und Weltbetrachtung eine erstaunliche Fähigkeit eigen, Fremdes, ihr ursprünglich Entgegengesetztes aufzunehmen, zu assimilieren, zu brahmanisieren – auch in Altindien hat die Kirche einen Magen von außerordentlicher Kraft des Vertragens und Verdauens. Endlich scheint mir, daß diese Anschmiegens- und Ausbeutungsvirtuosität, wie so viele Züge des brahmanischen Wesens, ihre erste Wurzel hat in dem ursprünglichen Bettelvagabundendasein des Brahmanen. Von diesem sage ich mehr in meinem Buch über die altind. Rechtsschriften. Früh schon erkannten auch die Brahmanen, was sie so oft und so nachdrücklich ausgesprochen haben: Thron und Altar, Kshattriya und Brahmane müssen zusammenstehen. Brahmanische Ṛishi der Vorzeit dienten an Fürstenhöfen, fort und fort sehen wir Brahmanen sich an Königstafeln drängen, und zwar nicht nur als vorübergehende Gäste. Ja, ich glaube, gerade Brahmanen gehören zu den ersten Pflegern oder sind gar die Urheber der Staatsweisheit als Wissenschaft. Ein Brahmane, Jābali genannt, ist es, der im Rāmāyaṇa, Buch II, Ges. 108 eine kraß materialistsiche Philosophie vorträgt mit dem Hauptinhalt: »Nur auf dich selber schau. Keiner ist dem anderen irgend etwas. Die frommen Bücher sind bewußter Schwindel, andere zum Geben und Entsagen anzuspornen.« Genau so sagt Bṛihaspati, der Vater der politischen Wissenschaft: »Die Schriften der ›Offenbarung‹ sind nur trügerische Verhüllung der Wahrheit« (saṃvaraṇamātraṃ hi trayī, Kauṭ. 6, 9; Übers. 2, 2–4); und in der ganz jungen Çukran. heißt es: »Die Schlechten wollen, daß andere gut seien« (III, 502f.), wodurch natürlich der schöne, tiefe Spruch nicht aufgehoben wird: »Nicht ziert ein Schmuckstück, nicht Königsherrschaf, nicht Männlichkeit, nicht Wissenschaft, nicht Reichtum so sehr wie der in der Güte bestehende Schmuck« (Çukran. III, 471f.). Die anderen Lehren des Jābali sind ja der Kern des Arthaçāstra. Siehe den Auszug aus seiner Rede in meinem Daçakum. 110ff. Und in MBh. K XIII, 229, 45 ergeht sich die Göttin Umā in folgenden Betrachtungen: »Es gibt keine Seele (ātman), die die Werke auskosten könnte. Ist ein Wesen tot, dann wird es nicht wiedergeboren. Von selber (svabhāvāt) entsteht alles wie die Frucht am Baum. Wie Welle um Welle kommt und vergeht, so ist die Eigenart der Welt (jagadākṛiti). Alles nicht sinnlich Wahrnehmbare (paroksha) ist nicht.« Çiva kann seiner Gattin nur erwidern: »Das ist eine verderbliche Irrlehre, obwohl auch weise Seher der Vergangenheit (kavayas) im Vertrauen auf Vernunftschlüsse (hetuvāda) sie geteilt haben. Man muß einfach glauben, blind und taub gegen solche Gedanken.« Die hier genannten kavayas haben nun nach MBh. XII, 142, 3 und anderen Stellen den rājadkarma oder die Staatswissenschaft zusammengetragen, und zwar als eine Sammlung von Klugheiten (prajñāsamavahāra, MBh. XII, 142, 3); denn »von den Einsichten der Vernunft als der Hauptsache geleitet, wandeln die Fürsten, die da auf Eroberung [32] (d.h. auf das Beste ihres Reiches) bedacht sind« (buddhiçreshṭhā hi rājānaç caranti vijayaishiṇaḥ, çl. 6). Die kavayas oder Weisen sind natürlich vor allem Çukra oder Uçanas, der Hof- und Staatsgeistliche der Asura, der auch kavīnām kaviḥ heißt, und Bṛihaspati, der Urbrahmane. Die Schulen dieser beiden erscheinen nun als Hauptvertreter der materialistischen oder rein diesseitigen Weltbetrachtung, lehnen schroff alles Jenseitige ab, wie z.B. an vielen Stellen des Epos hervortritt, und wie jeder schon aus S. 2, 1–6 meiner Kauṭ.-Übers. ersehen kann. Die Sage, daß diese beiden die Schöpfer des Arthaç. seien, enthält wohl einen sehr richtigen Kern. Hören wir doch im Manu, im MBh. und anderwärts, wenn von den anstößigen Jüngern der Vernunftweisheit die Rede ist, besonders auch, daß gerade Brahmanen ihr huldigen, und feierlich warnt Rāma seinen Bruder, er solle die lokāyatikān brāhmaṇān meiden, »die Brahmanen, die den ›Materialismus‹ predigen« (Rām. II, 100, 38). Es gab deren offenbar nicht wenige, und sie drängten sich besonders an die Fürstenhöfe. Lokāyata, gewöhnlich mit Materialismus, besser mit Diesseitsphilosophie, Realismus usw. wiedergegeben, und das etwa gleichbedeutende lokayātrā Weltklugheit aber gilt dem brahmanischen Kauṭ. so gut wie dem Jaina Somadeva und überhaupt allen Nītilehrern als das A und O aller gesunden Staatswissenschaft und Regierungskunst.
Der Brahmane ist ein geborener Tiftler, ein haarspaltender Dialektiker, sein Hauptvergnügen besteht in dem oft unbarmherzig auf die Spitze getriebnen Spiel, bestimmte Gedanken starr schematisch auszubilden und sie in ihre letzten Schlußfolgerungen hineinzuhetzen. Neben dem Kastendünkel und der Habsucht bildet seine Haupteigenschaft die Disputiersucht und die Lust am Übertrumpfen im Geistes- und Zungenkampf. Davon berichtet oft die, ketzerische Lit. und von vedischer Zeit herab auch die orthodox-brahmanische. Der Widerspruchsgeist des Brahmanen siegte natürlicherweise öfters über seinen Kastengeist, so mächtig dieser auch war. Sodann sehen wir ja überall auf Erden: Der Vater der großen Freiheitsapostel ist der Zwang, der freiheiterwürgende Druck. Ich treffe also hier mit Jolly zusammen, wenn er auf S. 21 seiner Introduction erklärt, das Arthaç. sei eine natürliche Reaktion gegen den einseitig religiösen Charakter der vedischen Weisheit und Lit. Wenn er aber hinzufügt: und gegen deren hochfliegenden Idealismus, so muß man das natürlich so auffassen, wie es gemeint ist, nicht verallgemeinernd. Viel stärker als der Idealismus der Upanischaden, der übrigens kaum auf brahmanischem Boden entstand, und als die einzelnen Abhandlungen und die Sprüche voll hinreißend schönen Adels der Anschauung und der Sittlichkeit – auch dies freilich Blütenflor, zu dem der Same, ja oft die Pflanzenfülle selber aus den Ketzergärten über den brahmanischen Zaun gekommen sein wird – tritt in den brahmanischen Schriftwerken von vedischer Zeit herab das schamanisch-egoistische Grundwesen hervor. Mir scheint also, das Arthaç. mag einesteils ganz wohl eine bewußte Auflehnung brahmanischen Freiheits- und Widerspruchsgeistes [33] sein, eines Abscheus vor der Einengung, der wohl seine dunkeln Saugfasern noch tief unten haben mag in dem Landstreicherleben der brahmanischen Urzeit. Wahrscheinlich aber wog der disputierfreudige Widerspruchsdrang am schwersten. Sodann: an der Entwicklung des bürgerlichen Rechts nahm der in seinem Wesen ganz unbürgerliche Brahmane keinen inneren, wenn auch leider einen immer größer werdenden äußeren Anteil. Die Tiftelei und Teufelei der altindischen Staatsweisheit aber mußte wenigstens manchen Geistern unter der priesterlichen Klasse einen Kapitalspaß machen, und zwar auch deshalb, weil der Geist des Arthaç. unbürgerlich, außerbürgerlich, überbürgerlich ist wie der Brahmane selbst. Genau wie für den Brahmanen ist für den König das Volk die Kuh, die er milkt, der Baum, dessen Früchte er abpflückt, der Strauch, dessen Blüten er sich selber zum Kranze windet. Kuh, Baum und Strauch aber muß man schonen, so weit wie nötig, ja muß man hüten, bewahren, pflegen, fördern, sonst kann man nichts mehr von ihnen holen, gehen sie sogar selber zugrunde. So sagt denn z.B. MBh. XII, 71, 16 nicht: »Wenn er der Kuh das Euter abschneidet, dann tuts ihr weh,« oder: »dann ist dies ein Unrecht,« sondern »dann bekommt er keine Milch mehr!« Und weiter: welch herrliches Feld für die schematisch-systematische Spintisation und für die unverfrorene Verwertung scharfer realistischer Menschenbeobachtung – auch die letztgenannte eine brahmanische Eigentümlichkeit – bot das Arthaç.! Es ruht auf der Erkenntnis: Menschheit, dein Name ist Gier und Dummheit. Der Brahmane, der ursprünglich besitzlose Bettler und Beobachter, hatte reichlich Gelegenheit, solche Weisheit einzusammeln. Er strebte nach Macht. Macht heißt: die Dummheit und die Gier des Menschen für den eigenen Vorteil ausmünzen. Macht suchte auch der oft lächerlich machtlose altindische Fürst. Warum sollten sich die zwei nicht verbünden, und der Brahmane, der Mann des Worts und der Theorie, nicht dabei auch die wissenschaftliche Begründung und schematische Ausgestaltung machiavellistischer Staatsweisheit übernehmen! Wahrscheinlich unterschied sich also keiner der vielen Vorgänger des Kauṭ. in irgendeinem wesentlichen Punkte von diesem Vollender ihrer Wissenschaft. Daß sie zum Teile noch irdischer, moralinfreier, gottloser gewesen sind als er, erfahren wir aus gar manchen Mitteilungen in seinem Werke. Daß sie aber die brahmanische Weltordnung, d.h. vor allem das Kastensystem angetastet hätten, verrät er nirgends und ist auch höchst unwahrscheinlich. Zwar die maßlose Brahmanenvergötterung, die z.B. im Manu und im MBh. so üppig, ja grotesk und possierlich wuchert, überläßt Kauṭ. den Gehirnen, in denen sie allen Menschenwitz erstickt hat – sogar der Çūdra ist ihm ein Ārya, so unglaublich dies auch klingen mag, obgleich ein sehr geringer. Ein oder zwei Çūdrafresseranfälle bei ihm sind greifbare Interpolationen. Aber brahmanische Farbe trägt auch Kauṭ.'s Welt, wie längst bemerkt worden ist, trugen jedenfalls auch die Schriften seiner Vorgänger, und zwar wohl schon deshalb, weil sie [34] alle von Brahmanen stammten. Mindestens alle diejenigen unter seinen Vorläufern, die zugleich das Dharmaçāstra bearbeiten, werden gewiß Brahmanen gewesen sein. Mir scheint also: das weltliche Recht Altindiens hat weltlichen Ursprung, das noch »weltlichere« Arthaçāstra, d.h. die Staatskunst als Wissenschaft, »geistlichen«.
Nicht aber ist das Arthaç. ursprünglich ein Zweig des Dharmaçāstra gewesen, wie man meint. Sondern umgekehrt: Zuerst war es eine Wissenschaft für sich. In MBh. XII, 142, 3 heißt es mit Recht, nicht aus der Sammlung der überlieferten heiligen Schriften (āga māt), also vor allem wohl nicht aus der Smṛiti, stamme die politische Wissenschaft sondern die kavi hätten sie zusammengestellt. Ebenso sagt MBh. XII 62, 3, die Werke der »Königlichen« (rājanya) seien nicht gelehrt in der Festsetzung der hl. Lehrbücher (dṛishṭāntavidhi). Wohl aber hat das spätere brahmanische Dharmaçāstra den Versuch gemacht, sich das Arthaç. einzuverleiben, freilich nur in dilettantisch-eklektischer Weise, und es dadurch als eigene Wissenschaft aus dem Weg zu räumen. Dies unternahmen besonders Manu und Yājñ., schwächer Vish., und Gaut. Besonders Manu und Yājñ. wollten eben ein Kompendium des gesamten magisch-religiösen und bürgerlichen, ja sogar des sittlichen Wohlverhaltens liefern. Da durfte ein Abriß des rājadharma, nicht fehlen.
Daß die im Arthaç. behandelten Gegenstände den brahmanischen Ṛishis oder Lehrern der alten Zeit als »gottlos« (wicked) erschienen seien, wie Jolly sagt, glaube ich keinen Augenblick. Nur sehr vereinzelte Seelen können solchem Zartsinn Raum gegeben haben. Dem richtigen alten Inder, d.h. dem Inder des berühmten trivarga oder dreifachen Lebenszwecks, fiel es nicht im Traum ein, das Arthaçāstra, das bezeichnenderweise rājadharma Fürstengesetz und Fürstenpflicht, Fürstenfrömmigkeit, heißt, zu verurteilen. Dieses çāstra mit all seinen Grausamkeiten und Hinterlisten war ihm genau so daseinsberechtigt, ja genau so heilig wie das fromme Dharmaçāstra. Davon dann später. Auch bildete das Arthaçāstra keine Beeinträchtigung des brahmanischen Herrschgedankens. Wohl aber das rein bürgerliche Recht, das auch die Inder einmal besessen haben müssen. Die Fürstenspiegel waren nicht nur wahrscheinlich schon von Haus aus brahmanisches Eigengewächs, sondern sie dienten auch nur wenigen und konnten mittelbar den Brahmanen gewaltig nützen. Das bürgerliche Recht aber ist überall auf Erden zunächst Ausgeburt des Volksbewußtseins, des Bewußtseins der Masse, wenn auch an dem einen Orte viel reiner und unbeschränkter als an anderen. Daß auch in Altindien ein solches Volksrecht da war, versteht sich von vornherein. Zum Überfluß erklären uns die Dhasmaçāstra immer wieder, das Recht und die Bräuche der einzelnen Gegenden und der einzelnen Gruppen, d.h. der Ortsgemeinden, der Kasten, der gewerblichen und religiösen Verbände, ja der Sippen oder Familien, seien der breite Grundbestand des Rechts. Dieser müsse heilig gehalten und als Norm betrachtet werden. Dies vielgestaltige, umfangreiche Recht ist sicherlich, [35] wenigstens zu praktischen Zwecken, längst vor unseren Dharmaçāstras zusammengestellt worden, obschon natürlich nicht vollständig. Wahrscheinlich gab es auch wissenschaftliche Bearbeitungen. Davon mehr in meiner Schrift über die Rechtsbücher. Für die Brahmanen aber hatte die wissenschaftliche Pflege dieses Gegenstandes wenig Reiz. Die Bruchstücke weltlichen Rechts werden bei ihnen verquickt mit den magisch-religiösen Gesetzen und Bräuchen und spielen neben diesen eine sehr untergeordnete Rolle. Jedem kommen da die alten Juden in den Sinn. Sowohl ihnen wie den Brahmanen war eben die Hauptsache das Koschere. Mehr wissenschaftliche oder Sonderbehandlungen bürgerlichen Rechts durch die brahmanische Smṛiti, wie wir sie in Nār., Bṛihasp. und anderen haben, fallen erst in spätere Zeit, wenn auch Nār. nicht in so späte, wie man glaubt, und daß man sie über die Achsel angesehen hat, erhellt schon aus ihrem Schicksal: der Text des Nār. ist nur noch in sehr unsicherer Gestalt und der der andern, abgesehen von Zitaten, gar nicht mehr vorhanden, während sogar solch ein elendes Machwerk wie die Vishṇusmṛiti bis auf unsere Tage am Leben erhalten wurde. Wohl sperrte sich die bunte Fülle der Bräuche und Rechte der Gruppen und Gegenden viel heftiger gegen eine brahmanisch-wissenschaftliche Darstellung als die Gegenstände des Arthaçāstra. Aber wichtig scheint mir auch dies: ein wissenschaftlich stark ausgebildetes weltliches Recht wäre den brahmanischen Interessen nicht förderlich gewesen. Stärker als ein bewußter Gedankengang dieser Art wird aber der natürliche Gegensatz zwischen Volksrecht und brahmanischer Geistesverfassung gewirkt haben. Später freilich, eingefügt in das geistliche Recht, verwaltet, ja in Besitz genommen von den Brahmanen, wurde auch weltliches Recht sehr fruchtbringend für sie.
Jolly führt für die herrschende Anschauung, daß das Arthaç. jünger sei als das Dharmaçāstra, auch den »embryonalen Zustand« ins Feld, in welchem die Staatswissenschaft im MBh. vorliege. Das stimmt aber keineswegs. Das Verhältnis ist genau das gleiche wie z.B. zwischen Nār. auf der einen Seite und Manu nebst Yājñ., Vishṇu und Gaut. auf der andern. Wie ich in meinem Werk über die Rechtsschriften nachweise, kommt die scheinbar größere Ursprünglichkeit der letztgenannten gegenüber Nār. einzig daher, daß dieser ein wissenschaftlich gearteter, juristisch gerichteter Geist ist, die andern aber eklektische, popularisirerende Dilettanten sind, denen obendrein am weltlichen Recht eigentlich gar nichts liegṭ. Das MBh. ist bekanntlich nicht nur ein Epos, sondern auch eine Smṛiti, und smṛitihaft ist meistens seine Behandlung des Rājadharma, d.h. dilettantisch, eklektisch, ganz unwissenschaftlich. Ja, der Rājadharma bildet für das MBh. eben nur einen Teil des Dharmaçāstra. Die sittliche Verwerflichkeit so mancher auch dort gegebenen Lehren hebt diesen Grundcharakter nicht auf. Bedenken dieser Art werden zwar dem Yudhishṭhira in den Mund gelegt, aber nur um als schwächlich, ja als verderblicher und sogar moralisch vollkommen verwerflicher Irrtum abgewiesen zu werden. Gegenüber [36] den beim ersten Blick »embryonal« erscheinenden Darlegungen über artha und nīti stehen dann im Epos auch ganz andere Abschnitte, in denen es sich mit Händen greifen läßt, daß die Verfasser ein Arthaçāstra kennen, welches nicht nur völlig so ausgebildet wie das des Kauṭ.. sondern sogar wesentlich weiter fortgeschritten ist. Auf ein einziges, dabei wohlbekanntes Beispiel will ich hinweisen: auf das kaccit-Kapitel Rām. II, 100 und MBh. II, 5. Über die Hälfte der Çloka des Rām. sind entweder ohne oder mit meist unbedeutenden Varianten die gleichen wie im MBh. Meines Wissens gehören beide Kapitel zu den älteren Bestandteilen der zwei Epen. Auf jeden Fall hat das genannte Kapitel des MBh. ein Recht, als älter zu gelten denn die Reden des Bhīshma im 12. Buch. Dabei erweist sich fast durchweg gerade die Fassung im MBh. als ursprünglicher gegenüber dem Rām. Einige Beispiele mögen das zeigen. In MBh. II, 5, 49 finden wir den seltenen Ausdruck bhartuḥ kurvanti daurgatyāt »sie tun ihrem Herrscher etwas (zuleide), wenn ihnen ein übles Ergehen von ihm Gelegenheit gibt«. Rām. II, 100, 33 veralltäglicht dies in bhartur apy atikupyanti, was gewiß wieder eine Entstellung ist aus bhartur āpadi kupyanti »sie empören sich gegen den Herrscher, wenn er im Unglück ist.« Beide denken natürlich vor allem an politisches Mißgeschick, namentlich an völlige Niederlage in der Schlacht. MBh. 31 hat sehr gut vighnayasi; denn die Stelle bezieht sich auf ein sūtra wie Kauṭ. Übers. 33, 12–14, wo man meine Zusatzanm. mit dem Zitat aus Çiçup. nachsehe. Rām. 19 verwässert zu dīrghayasi. Avajānanti in Rām. 27 ist ein Unsinn für das vernünftige anuçāsanti von MBh. 44. In MBh. 48 finden wir na vikarshasi. Dies verstünde man wohl am besten als »(den Soldaten) etwas (von der Löhnung) abziehen, vorenthalten«. Nīl. sagt, es bedeute hinhalten, hinausschieben. Auch möglich. Diese jedenfalls traditionelle Auslegung gibt Rām. 32 wieder durch vilambase. Rām. 51 ist verdorben aus MBh. 86; offenbar verstand man das mir nur aus dieser Stelle bekannte arthayate »vorladen« nicht und ersetzte es durch darçayase. Dies könnte vielleicht »sich zeigen« heißen. Aber dann paßt vibhūshitam nicht mehr. Man muß also mit dem Scholiasten ātmānam ergänzen, und so haben wir schlechtes Sanskrit. Ebenso liegt der folgende Çloka des Rām. im Argen. Wir müssen MBh. 32 zu Hilfe nehmen. Hier ist der Sinn ziemlich klar: »Sind alle Werkstätten dir nicht unbekannt und nicht beargwöhnt?« D.h. weißt du vollkommen Bescheid, was in all deinen Werkstätten geschieht und sind sie alle zuverlässig (nämlich: nicht von feindlichen Geheimagenten aufgestiftet und verräterisch gemacht)? »Oder sind sie alle nicht freigelassen?« D.h. sind keine von ihnen sich selber überlassen? »Festes Zusammenhalten (Zusammengeschlossenheit) bringt bei ihnen ihre Aufgaben zustande.« Ein paar Schreibfehler freilich lassen sich mit Hilfe des Rām. im MBh. verbessern. So muß es in MBh. 47 mit Rām. 31 dṛishṭāpadānā heißen, ebenso wohl adṛishṭaḥ çāstrakuçalair in 104 wie in Rām. 56. Es ist also klar, beide Fassungen schöpfen aus der gleichen Quelle oder noch eher: das [37] Rām. aus dem MBh., und dies Kap. des MBh. verdient auch da als alt zu gelten, wo das kürzende Rām. keine Entsprechung bietet. Jeder Kenner des Arthaç. nun, der dies Kapitel der zwei Epen durchliest, wird zunächst auf Schritt und Tritt an einzelne Stellen oder an ganze Kapitel des Kauṭ. erinnert. Nur ein paar Beispiele kann ich geben. Der 6. Gegenstand des Kauṭ. befiehlt, die amātya durch upadhā oder listige Proben zu prüfen. Die amātyān upadhātītān »die durch listige Proben hindurchgegangenen Genossen« fordert auch Rām. II, 100, 26 und MBh. II, 5, 43, sowie XV, 5, 14 während Manu VII, 54 das gemeinverständliche suparīkshitān unterschiebt. Kauṭ. trägt in 28, 5f. und 18 als seine eigene Lehre vor: Mantribhis tribhiç caturbhir vā mantrayeta. Tān ekaikaçaḥ pṛicchet samastāṃç ca. Darauf beruht sicherlich Rām. 71: Mantribhis tvaṃ yathoddishṭaṃ caturbhis tribhir eva vā /kaccit samastair vyastaiç ca mantraṃ mantrayase, budha? Je drei unerkannte Spione soll der Fürst bei den eigenen tīrtha (svapaksha) und bei denen der andern (anya) anstellen. So Rām. 36 und MBh. 38. »Unerkannt« wohl voneinander sollen die Spione sein, wie MBh. XII. 69, 10 ausdrücklich fordert, und natürlich unerkannt von den zu Belauernden. Vgl. Kauṭ. 21, 6; Raghuv. XVIII, 51; auch MBh. XII, 140, 40 (und dies mit I, 140, 63). Die »drei« stehen nicht bei Kauṭ. (20, 12ff.), noch auch kennt er die Unterscheidung im Epos.: bei allen achtzehn tīrtha des Feindes, jedoch nur bei fünfzehn im eigenen Reich, also jedenfalls nicht bei seinem obersten Ratgeber oder Staatskanzler, nicht beim Purohita und nicht beim Yuvarāja. Aber Kauṭ. redet hier überhaupt nicht von den tīrtha der andern, sondern erst in den Schlußversen (21, 17f.) sagt er: »bei den achtzehn tīrtha des Feindes, des Freundes, des Mittelfürsten und des Abseitsstehenden«. Genau jedoch entspricht Kām. XIII, 37: svapakshe parapakshe ca (vgl. hierzu Kauṭ. Schlußstrophe des 89. Gegenst.). Zwar beweist diese letztgenannte Übereinstimmung noch keineswegs, daß Kauṭ. älter sei als diese Verse des Epos. Aber Aufmerksamkeit verdienen sie doch. MBh. 76 zeigt deutlich, daß der Verfasser mit Kauṭ. Gegenstand 130–132 oder mit einer im wesentlichen ganz gleichen Darstellung der pīḍana vertraut ist. Der Dichter nennt als Landplagen: Räuber und Diebe (cora), habgierige Beamte (lubdha, vgl. 75), den Prinzen (kumāra), das Weiberheer (strībala) und den König selber. Vgl. z.B. Nītiv. 23, 2–5, eine Liste, die trotz aller sonstigen Abhängigkeit des Nītiv. von Kauṭ. diesem viel ferner steht. Nur auf Kauṭ. Gegenstand 140 bis 141, kaum auf eine frühere ähnliche, wird MBh. 68 gegründet sein. Kauṭ. redet da von dem Aufruhr, der durch die bāhya und dem, der durch ābhyantara kommt, und gibt im Schlußçloka die Zusammenfassung: Pare (die Fremden) parebhyaḥ, sve svebhyaḥ, sve parebhyaḥ, svataḥ pare / rakshyāḥ, svebhyaḥ parebhyaç ca nityam ātmā vipaçcitā. Solch verwickeltes Eingehen ins einzelne läuft dem Dichter gegen den Strich, er begnügt sich mit: Kaccid ābhyantarebhyaç ca bāhyebhyaç ca, viçāṃpate, / rakshasy ātmānam evāgre tāṃç ca svebhyo mithaç ca tān? Daß etwa die Strophe des Kauṭ. aus der des Epos zurechtgemacht [38] sei, könnte nur ein Unkundiger meinen. Man beachte auch, daß das Epos hier bāhya und ābhyantara genau so braucht wie Kauṭ. sein pare und sve. Daß es wirklich die Meinung des Kauṭ. getroffen habe, liegt auf der Hand, ebenso aber, daß Kauṭ. hier das ihm vorschwebende bāhya ābhyantara in einem viel weiteren Sinne versteht, als an mehreren Stellen des Kapitels selbst. Davon, daß wir in dem Kaccit- Kapitel die 7 prakṛiti, die 4 upāya, die 5 Arten von Festungen u. dgl. mehr finden, will ich gar nicht reden. Der Verfasser wirft mit den varga der politischen Wissenschaft um sich, daß es nur so schwirrt, ein im Epos nicht allein dastehendes Bravourstück, die eigne Vertrautheit mit dem Arthaç. zu zeigen. Die 3 çakti oder »Kräfte« werden als so bekannt vorausgesetzt, daß im MBh. 57 unbedenklich bala »Mächte« dafür eintreten kann, während Rām. IV, 54, 2 die 4 upāya: sāman, dāna, bheda, nigraha (= daṇḍa) balāni nennt (vgl. Kauṭ.-Übers. 404, 6–14). Ja, in MBh. III, 268, 11 finden wir 9 çakti, indem auch prabhusiddhi, mantrasiddhi, utsāhasiddhi und prabhūdaya, mantrodaya, utsāhodaya als solche gezählt werden, eine höchstwahrscheinlich nachkauṭilyanische Erweiterung (s. Kauṭ-Übers. 404, 15–20).
Wie hier finden wir immer wieder im Epos eine weit fortgeschrittenere Entwicklung als bei Kauṭ., vor allem zahlenmäßige Rubrizierungen, die er gar nicht kennt. So zählt Rām. 65–67 und MBh. 107–109 (vgl. 21) 14 rājadosha auf, ganz zu schweigen von der achtfachen buddhi des Fürsten in Rām. IV, 54, 2, und peinlich schematisch stehen diesen l4 Fehlern 14 Tugenden oder guṇa des Königs entgegen (in Rām. IV, 54, 2). Sogar einen varga von 36 guṇa oder Fürstenvorzügen läßt MBh. XII, 70, 2ff. vor uns aufmarschieren. Kauṭ bietet kein solches zahlenmäßiges Tugend- und Lasterinventar. Er hat auch nur vier politische Mittel (upāya): sāman, dāna, bheda, daṇḍa, während bei Kām. noch upekshā, māyā und indrajāla hinzukommen (XVIII, 3, vgl. XIV, 57–59). In MBh. III, 150, 42; XII, 59, 35 sind es fünf, indem noch upekshā hinzutritt, in MBh. II, 5, 21, also in unserm Kaccit-Kapitel, richtig die sieben! Çl. 22 erwähnt die 8 karmāṇi oder öffentlichen Unternehmungen, ebenso III, 268, 11. Eine solche Zahlengruppe kennt Kauṭ. nicht. Wir müssen uns wieder an Kām. wenden und hören da in V, 77f., daß diese gemeint sind: Kṛishir, vaṇikpatho, durgaṃ, setuḥ, kuñjarabandhanam / khanyākaro, vanādānaṃ çūnyānāṃ ca niveçanam. Ebenso ist Manu das ashṭavidha karman geläufig; in VII, 154 meint er damit natürlich die Achtergruppe (ashṭavarga) des Kām. Zwar in der Sache hat auch Kauṭ. diesen varga, nämlich in 262, 1–4, freilich nicht laut der Textausgaben, wohl aber, wenn man wie ich karsha- statt karma- liest (s. Übers. 408, 6ff.). Auch in Rām. II, 100, 68 wird wohl mit ashṭavarga dies gemeint sein. In Rām. 69 stößt unser Fuß recht unsanft sogar gegen einen viṃçativarga. Nirgends bei Kauṭ. gibt es diese Gruppe von zwanzigen, wohl aber in Kām. IX, 24ff. Auch die 10 aus dem Begehrenstrieb (kāma) entspringenden Laster oder vyasana, die Rām. 68 gewiß, und die 8 vom krodha erzeugten, die es nach der einen Auslegung[39] streift, suchen wir vergeblich bei Kauṭ. Er begnügt sich mit vier in der ersten und drei in der zweiten Klasse (ebenso z.B. MBh. V, 33, 91f.). Wohl aber reiht M. VII, 45ff. die 18 auf. Wären diese vyasana schon zu Kauṭ.s Zeit auf eine solche Fülle angewachsen gewesen, dann hätte er diese Lehre wenigstens erwähnt; denn er ist ja nicht ein Dilettant im Arthaç. wie Manu, der bald dies, bald jenes Fetzchen Weisheit herausreißt und damit Staat macht. Er behandelt und beherrscht das ganze Gebiet. Wiederum Manu müssen wir befragen, was Rām. 70 betrifft. Danach sind Krieg und Frieden, also gewiß auch die vier übrigen Glieder des shāḍguṇya, zwiefach (dviyoni). M. VII, 162 löst das Rätsel. Da heißt es, alle sechs seien zweifältig (dvividha), und die Sache wird dann im einzelnen ausgeführt, zum Teil recht stümperhaft, denn beim dvaidhībhāva nennt er nur eine Art, beim sandhi eigentlich aber vier und ebenso beim vigraha5. Wäre diese Systematik schon zu Kauṭ.s Zeit durch alle sechs durchgepeitscht gewesen, dann hätte er sie wohl wenigstens als Meinung anderer namhaft gemacht. Er redet nur von einem dvaidhībhāva, einem saṃçraya und einem vigraha, dagegen von zwei āsana und vier yāna. Jolly sagt nun zwar, M. kenne nur zwei Arten Friedensschlüsse, Kauṭ. aber deren zehn, und verweist auf Kauṭ. VII, 3. Doch M. redet von Bündnissen, nicht von Arten des Friedensschlusses. Also sollte es heißen, Kauṭ. hat deren fünf (VII 9ff.). Aber die vier yāna und die fünf sandhi oder Bündnisse des Kauṭ. sehen ungezwungen aus; M.s Darstellung mit ihrem tadātvāyatisaṃyukta und ihrem akāle kāla eva vā ist eine recht sinnlose Presserei.
Die vorgeführten Beispiele genügen zugleich als Beweis, wie grundlos Jollys Behauptung ist, Kauṭ.s »Theorien seien denen des M. an Spitzfindigkeit (refinement) weit überlegen«. Das eine Beispiel, das Jolly als Beleg anführt, hat keine Kraft. Es ließen sich freilich noch andere anreihen. Aber wären es auch Dutzende, so habe ich schon klargestellt, daß sie nur aufs Neue dartäten, wie verschieden geartet die zwei Verfasser sind. Geradezu unwiderstehlich drängt sich einem auf, daß M. eine fein ausgebildete Lehre von der Staatsweisheit [40] vorfand. Aber hier sei wiederholt, was ich in meiner Schrift über die Dharmaçāstra eingehend darlege: Man muß immer fragen: Welch eine Art Schriftsteller haben wir vor uns, einen Fachmann oder einen Dilettanten, ein Werk für den engeren Kreis oder eins für das große Publikum? Der Dilettant brüstet sich zu allen Zeiten und unter allen Völkern mit einigen da und dort aufgerafften Prunkstücken, und vor allem: er geht irgend welchen wirklich wissenschaftlichen Erörterungen aus dem Weg und wählt das Effektmachende. Der Gemeinfaßlichkeit und der allgemeinen Denkfaulheit zuliebe vereinfacht er, blendet aber dafür da und dort wieder durch einen rasselnden Trommelwirbel von Fachausdrücken. M. nun ist im Artha so gut dilettantisch-volkstümlicher Ausschreiber wie die Dichter der Nītiabschnitte in den Epen.6 Sogar [41] wenn M, und das Epos wirklich durchweg ein weit weniger fortgebildetes Arthaç. darböten, hätte das Argument von der »höheren Entwicklung« keinen Wert.
[42] Auch daß Kauṭ. in 366, 1–2 den Bhāsa zitiere, ist so unwahrscheinlich wie möglich. Gaṇapati hat zuerst diese Ansicht ausgesprochen, wenn auch in ganz anderer Absicht als Jolly (in der Einleit. zu seiner Ausg. der Svapnavāsavadattā p. 8ff.; vgl. Jolly, Introd. 10). Aber eine Prüfung der Stelle bei Kaut, zeigt folgendes: Zuerst führt er einen Prosaausspruch auf, von dem er sagt, er stehe im Veda. Dann fährt er fort: Apīha çlokau bhavataḥ »Dazu gibt es auch zwei Strophen«. Eine davon ist die, die wir auch bei Bhāsa finden. Die Worte Kauṭ.s können natürlicherweise kaum einen anderen Sinn haben als den, daß auch die zwei Çloka vedisch oder doch mindestens altheilig seien. Außerdem ist es höchst unwahrscheinlich, daß er bei dieser feierlich-religiösen Ansprache neben die zwei anderen aus sehr würdevoller Literatur stammenden Zitate ein drittes aus einem Schauspiel stellen sollte. Gaṇ.s Grund: »Wenn Kunstdichter fremde Verse in ihr Werk aufnehmen, dann geschieht das immer mit unverkennbarer Andeutung der Entlehnung« ist – ein patriotischer Traum. Überdies spricht alles dafür, daß Bhāsa ebenfalls einen altheiligen Text verwertet.
Nur Träume dünken mich auch die beliebten Gründe von der Art des folgenden: Das bei Kauṭ. oft erscheinende suruṅgā oder suraṅgā kommt wahrscheinlich von dem hellenistischen syrinx. Also gehört Kauṭ. einer späteren Zeit an (Jolly, Introd. 34). Sogar wenn diese Etymologie vollkommen sicher wäre, könnten wir doch nicht wissen, ob syrinx nicht schon in früheren Zeiten die Bedeutung unterirdischer Kanal oder Gang besaß. Rein in der Luft steht für mich auch die Beweisführung: Weil zwischen Vātsyāyana und Kauṭ. eine so enge Verwandtschaft bemerkbar ist, so kann dieser höchstens ein Jahrhundert älter sein als der Verfasser des Kāmasūtra (Jolly 29)7.
[43] Weit mehr Gewicht hat Jollys Versuch, aus den nahen Beziehungen zwischen den Dharmaschriften und dem 3. und 4. Buch des Arthaç. zu beweisen, daß Kauṭ. später sein müsse als die auf uns gekommenen Rechtswerke. Dieser Frage Ist seine Zusammenstellung der Entsprechungen von Dharmaçāstra und Kauṭ. gewidmet (ZDMG. 67, S. 49ff.) und jetzt S. 12–21 der Introduction zur Kauṭ.-Ausg. Aber ich halte nicht nur Jollys Ergebnisse, sondern auch seine ganze Methode für verkehrt. Das Nähere findet man in meinem Buch »Über das Wesen der altindischen Rechtsschriften und ihr Verhältnis zueinander und zu Kauṭila«.8 Ich weise darin nach 1. daß Yājñ. – und auf diesen kommt es bei der ganzen Frage im Grunde allein an – den Kauṭ. massenweis ausgeschrieben hat, genau wie namentlich den Nār. und den Manu, 2. daß Vish. und Gaut. noch jünger sind als Yājñ. und daß die Altersreihenfolge der Smṛitischriften so aussieht: Baudh., Āpast.; Vas., Nār., Manu, Yājñ., Vish., Gaut.; 3. daß die Kriterien, die man bisher bei der Bestimmung des gegenseitigen Verhältnisses der Rechtswerke angewendet hat, irreführen und anderen weichen müssen. Dieses Buch ist eigentlich ein Teil der Einleitung zum Kauṭ. und zwar weitaus der wichtigste. Auch die Anmerkungen zu meiner Übers., namentlich im Nachtrag zu den betr. zwei Büchern des Kauṭ., kommen für diese Sache in Betracht und bringen gar manche weitere Stützen meiner Anschauung, wie eine aufmerksame Lektüre zeigen wird.
Während ich nun aber beweisen kann, daß die Annahme einer Abhängigkeit des Kauṭ., was Yājñ. und fast alle anderen Smṛitis anlangt, unmöglich ist, vermag ich nicht so sicher aufzutreten gegen desselben Forschers Behauptung, die Inder des Arthaç. seien viel zu fortgeschritten für das 4. Jhdt. v. Chr. (Introd. 32–35). Zwar gilt ebensogut: Jolly kann nicht erhärten, daß Indien damals nicht im Besitz all der Kenntnisse, Künste, Fertigkeiten und Einrichtungen gewesen sei, die wir bei Kauṭ. antreffen. Im großen und ganzen halte ich diese ganze so beliebte Argumentation für haltlos. So hat man viel Aufhebens davon gemacht, daß bei Kauṭ. das Schriftwesen eine solche Rolle spiele. Das kommt mir geradezu lächerlich vor. Bühler hat doch längst gezeigt, daß die Schrift mindestens um 800 v. Chr. in Indien gebraucht wurde, und andere Forscher haben das übernommen, darunter auch Jolly. Wie kommt man nun aber dazu sich etwa die Inder der Zeit Buddhas, einer Zeit voll wunderbarer Kultur und erstaunlicher geistiger Tätigkeit, als Analphabeten vorzustellen? Weiteres darüber in meinem Buch über die Rechtsschriften. Auch die sonstigen Herrlichkeiten, die Jolly aufzählt, können die Inder schon eine ganze Reihe Von Jahrhunderten v. Chr. genossen haben. [44] Was wir in dieser Hinsicht wirklich wissen, scheint mir so wenig zu sein, daß wir sehr bescheiden sein müssen in unseren Behauptungen.
In seiner jüngsten Erklärung, in der Zschr. f. vergleich. Rechtswissensch., Bd. XLI, S. 311, kommt nun Jolly zu dem zusammenfassenden Satze: »Das Arthaç. des Kauṭ. ist etwa im 3. Jhdt. nach Chr. entstanden, vielleicht noch später, wegen der darin enthaltenen Hinweise auf die Alchimie und das Goldmachen.« Leider bin ich in der Geschichte der Alchimie und der Chemie nicht zu Hause. Eine genauere und sichere Kenntnis in der Geschichte der verschiedenen Naturwissenschaften wäre aber durchaus nötig für Kauṭ. Ich glaube jedoch nicht, daß wir bis jetzt genügend zuverlässige Kunde über die Geschichte der verschiedenen technischen Dinge in Altindien besitzen. Wie kann man z.B. die alten Griechen, einen Megasthenes an der Spitze, als Kronzeugen aufrufen, obschon wir doch längst wissen, wie irreführend ihre Berichte sind! Ich brauche nur auf das Verzeichnis der Fabeleien des Megastehnes hinzudeuten, das Jolly selber zusammenstellt (Introd. 38–41). Es wäre sehr merkwürdig, wenn die Inder nicht von selber auf Alchemie und Goldmachen verfallen wären. Verraten auch die vorhandenen Sanskrittexte über diese Gebiete deutlich die Abhängigkeit vom Abendlande, so hindert doch nichts in der Welt anzunehmen, daß die Inder die genannten Künste schon früher besessen haben konnten, aber eben in anderer, primitiverer Form9. [45] Jolly, Kālidās Nāg und andere führen als Hauptbeweis die Bekanntschaft mit dem Quecksilber an. Aber ich habe im ganzen Arthaç. keine Spur von Quecksilber entdecken können. Die Verwandlung unedler Metalle in Gold scheint für den Menschen ein vollkommen natürlicher Gedanke zu sein. Daß aber das Erzeugnis solch einer Kunst nun hundertmal so viel wiege wie das Urmetall, kann ich weder in den Worten des Kauṭ. noch in den sonstigen von Jolly angeführten Texten finden. Vgl. die Zusatzanm. zu 117, 42 (S. 699). Zweierlei ist also nötig: 1. wir müssen sicher sein, daß wir Kauṭ. richtig verstehen; 2. wir müssen sicher sein, daß unsere anderweitigen Nachrichten zuverlässig genug sind.
Ein drittes kommt wenigstens für gewisse Stellen hinzu. Mir scheint durchaus nicht, daß Kauṭ. so viel überarbeitet und mit Einschüben vermehrt worden sei, wie Kālidās Nāg (S. 116ff.) und andere annehmen. Immerhin gibt es einige zweifellose Interpolationen. Vor allem gilt es bei geographischen Namen vorsichtig sein. Bühler hat ja vor langen Jahren schon betont, daß die indischen Paṇḍit und Abschreiber die Unsitte haben, ihnen unbekannte Länder- und Völkernamen seelenruhig durch ihnen geläufige zu ersetzen. Schon deshalb kann ich dem Versuch von Kālidās Nāg, aus solchen Namen bei Kauṭ. zu beweisen, daß er oder doch die betr. Teile des Arthaç. spät sein müßten, nicht allzuviel Bedeutung beimessen. Ein warnendes Beispiel aus Gaṇ.s Kauṭ.-Text gebe ich in der Zusatzanm. zu Übers. 305, 24. Öfters muß also auch die Lesart sorgfältig abgewogen werden. Schlecht überliefert scheint mir der Text des Arthaç. nicht zu sein. Aber wir sind noch weit entfernt von einem durchweg zufriedenstellenden. Überhaupt klingt der Schluß: »Dieses und dieses Volk oder dieses und dieses Erzeugnis eines bestimmten Volkes erscheint in altindischen Schriftwerken erst dann und dann, also wußten die alten Inder vor dieser Zeit nichts von ihm« äußerst seltsam. Als ob wir, von anderem ganz zu schweigen, alles oder auch nur all das Wichtige noch vor uns hätten, was im alten Indien geschrieben worden ist! Ebensowenig oder noch weniger, außer in ganz bestimmten Fällen, ist er am Platz, wo wir uns auf Nachrichten stützen, die Angehörige anderer Völker über Altindien geben. Wir stehen noch allzusehr im Bann der Anschauung: die alten Inder sind wohl ein Träumer- und Denkervolk, von der übrigen Welt aber bekamen sie nur langsam Kunde, und in technologischen Dingen waren sie die reinsten Kinder und mußten da das meiste den Fremden abgucken. Es liegen aber für schon frühe Zeit genug Zeugnisse oder Anhaltspunkte vor, die auf einen schon alten und regen Verkehr mit anderen Völkern, namentlich, auch zur See, schließen lassen und auf eine frühe große Fortgeschrittenheit in dem, was wir Zivilisation nennen, also auch in technologischen Dingen. Ich mache nur auf die erstaunlich hohe Vollkommenheit der sanitären Wohnungseinrichtung und der städtischen Sanitätsmaßnahmen aufmerksam, die wir bei Kauṭ., in der Smṛiti und zum Teil auch anderwärts finden. Wie wenige westliche [46] Länder unserer Zeit können sich da vergleichen! Freilich scheint auch mir, am meisten Sicherheit in der Datierungsfrage wäre von den naturwissenschaftlichen und technologischen Angaben des Arthaç. zu erhoffen. Aber neben den genannten Schwierigkeiten erhebt sich da eine neue: Wir müssen erst genau und sicher wissen, was ein bestimmtes Wort aus der Geographie, der Naturwissenschaft, der Technologie usw. bedeutet. Da aber haperts bedenklich. So führt z.B. Kālidās Nāg auf S. 118 seiner Théories etc. ins Feld, daß Kauṭ. sogar die Rosse von Kāmboja und Arabien kenne! Weshalb Kāmboja Verdacht erregen soll, wüßte ich nicht, und Vanāyu bezeichnet jedenfalls gar nicht Arabien, sondern Persien. S. meine Zusatzanm. zu Übers. 212, 15.
Irregeführt wurde auch öfters Edm. O. v. Lippmann, der in der Chemikerzeitung 1925, Nr. 134 und 135 eine dankenswerte Arbeit: »Technologisches und Kulturgeschichtliches aus dem Arthaçāstra des Kauṭilya« geliefert hat. Er konnte nur Sham.s Übers, benutzen. Da diese trapu mit Zink wiedergibt und nach Lippmann Zink vor etwa 1100 n.Chr. in Indien nicht bekannt war, so mußte er eine Stelle mit Zink in späte Zeit herabdrücken. Wie es sich mit der Nachricht vom Zink verhält, weiß ich nicht. Auf jeden Fall aber bedeutet trapu Zinn und nicht Zink. Ähnlich stünde laut Lippmann die Sache beim Zucker. Fester Zucker sei allen beglaubigten Nachrichten zufolge nicht vor dem 4. Jhdt. n. Chr. in Indien bekannt gewesen. »In noch weit späterer Zeit als festen rohen Zucker lernte man im nördlichen Indien den gebleichten, halbweißen und ›glänzenden‹ bereiten, und Kandiszucker gelangte sogar erst um 1300 aus Ägypten zur Einfuhr.« Freilich zweifelt Lippmann hier selber, ob es mit sugar candy Kandiszucker (Sham.2 S. 488) stimme. An der betr. Stelle nun heißt çarkarā Kieselstein. Çarkarā bedeutet freilich in der Tat Zucker, auch bei Kauṭ. Fünf Arten des Zuckers nennt er in 94, 13. In der Übers. (S. 140, 12–14) habe ich çarkarā mit Grieszucker wiedergegeben und khaṇḍa mit Brockenzucker. Statt Brockenzucker hätte ich mindestens Klumpenzucker setzen sollen, da Brockenzucker ja als Würfelzucker verstanden werden könnte. Doch auch Klumpenzucker (lump sugar) ist noch zu gefährlich. »Zucker in Stücken«, wie das PW. angibt, wäre das einzig Zulässige für khaṇḍa. Welche Gestalt die khaṇḍa oder Stücke bei Kauṭ. haben, läßt sich nicht entscheiden. Nicht unwahrscheinlich sinds längliche Stücke, da khaṇḍa manchmal diese Bedeutung hat. »Zucker in Stücken« oder »Stückzucker« wählte ich nicht, weil ja auch çarkarā aus Stückchen besteht, allem Anschein nach in Form und Größe kleinen Kieselsteinen oder Gries ähnlich. Daß çarkarā auch recht feinen Gries, ja wohl gar groben Sand, wie Nīl. angibt, bedeuten kann, zeigt das häufige Beiwort çarka rākarshaṇa »çarkarā dahinwehend«, das im Epos sehr heftigem Winde beigelegt wird (z.B. MBh. VI, 1, 22; 3, 39; III, 179, 43; IV, 39, 4; IX, 56, 11). Unter Grieszucker verstehen wir aber meistens feingekörnten Zucker (granulated sugar). »Kieselsteinchenzucker« klingt zwar sonderbar. Dennoch muß ich das dafür einrücken. Man lasse sich [47] aber diese Übersetzersünden zur Warnung dienen, um so mehr als damit meine Mißgriffe natürlich lange nicht erschöpft sein werden. Bekennen muß ich auch, daß ich von der Geschichte des Zuckers in Indien nichts weiß. Aber ich glaube, auch andere wissen nichts Zuverlässiges, und geradezu undenkbar ist es mir, daß den Indern feste Formen des Zuckers vor dem 4. Jhdt. nicht bekannt gewesen seien. Meine Ansicht wird auch dadurch nicht erschüttert, daß Herr Prof. Dr. v. Lippmann mir freundlichst mitteilt, für den betr. Abschnitt seiner »Geschichte des Zuckers« habe er sich seinerzeit, »der ausführlichen Unterstützung« Pischels zu erfreuen gehabt. Klar ist aber, daß es für Kauṭ. vereinter oder doch zusammenarbeitender Kenntnisse aus sehr vielen verschiedenen Gebieten bedarf. Nur gilt es in jedem Fall sorgfältig zusehen, ob die betr. Kenntnisse einwandfrei sind, und auch aus wirklich unbeanstandbaren Angaben dürfen wir keine übereilten Schlüsse ziehen.
Lippmann nun nimmt an, das Arthaç. enthalte vermutlich einen alten Kern, durch- und umwachsen von zahlreichen späteren, oft sogar sehr späten Neubildungen. Auch Indologen hegen diese Ansicht, wie schon gesagt. Ja, Hillebrandt hat schon vor dem Erscheinen der ersten Ausg. des Arthaç. in seiner kleinen, aber wichtigen Schrift »Über das Kauṭ.« usw., S. 10 und jetzt wieder in seiner Altind. Politik, S. 4 die Überzeugung ausgesprochen, daß nur das mit iti Kauṭilyaḥ Bezeichnete von diesem selber, das Übrige aber von seiner Schule stamme. Er rückt aber auch diesen jüngern Teil, wenn ich sein »fast zeitgenössisch« richtig auslege, in die Zeit vor Patañjali hinauf. Patañjali nun wird so ziemlich allgemein ins 2. Jhdt. v. Chr. verlegt. Hillebrandt stoßt sich an dem iti Kauṭilyaḥ und meint, da zitiere jemand anders den Kauṭ. Ich sehe aber nicht ein, weshalb nicht Kauṭ. ebensogut wie Baudh. diese Weise, sich selber zu nennen, beobachtet haben könnte. Denn daß Baudh. – ich rede natürlich von Buch I und II10 – nicht das Werk eines Einzelnen sei, sondern ein »Schultext«, kann ich nicht unterschreiben. Sein Werk sieht genau so aus wie etwa Yājñ., einerlei welcher Privatschriftsteller sich hinter diesem Namen verberge. Von einer Schule Zusammengestelltes haben wir weder bei dem einen noch dem andern. Doch sogar wenn ich mich hierin irren sollte, so muß ich genau wie bei der so allgemein beliebten Schlußfolgerung: Diese und diese Materie erscheint bei X. in viel »entwickelterer« oder »fortgeschrittenerer« Darstellung, mithin ist er jünger als Z, erklären, daß mir dies als eine mechanische, tote Rechenbrettmethode erscheint. Das Leben aber wimmelt von Individualitäten, also von Unberechenbarkeiten. Sogar in unserm heutigen Menschenbrei gibt es noch Persönlichkeiten, und gerade bedeutendere Schriftsteller sind oft sehr eigenartige Menschen. Hat es nun unter den ja vielfach recht schablonenhaft verfahrenden altindischen einen mit [48] Eigenart und Eigensinn und Leidenschaft gegeben, so ist es der Verfasser des Arthaç. Ecce homo, seht da ist ein Mensch, tönt es uns machtvoll entgegen. In den Anmerk. zur Übers, weise ich auf mehrere dieser Stellen hin. Wichtiger aber ist, daß dieser Geist das ganze Buch beseelt, natürlich bald stärker, bald schwächer. Abgesehen von einigen wenigen Einschiebseln und dem selbstverständlich besonders stark abhängigen, aber immerhin der persönlichen Note nicht ganz entbehrenden 2. Buch, erscheint das ganze Werk als aus einem Guß entstanden, als das Erzeugnis eines Mannes, des Iti-Kauṭilyaḥ oder des Ego ipsissimus. Dieses stolze, leidenschaftliche Selbstbewußtsein offenbart sich in einer für den Inder geradezu anstößigen Weise. Er trägt die Meinung der ehrwürdigen alten Lehrer (ācāryāḥ) vor und fährt ihnen dann ärgerlich übers Maul mit einem: »Das ist ja Schwindel!« (chalam etat 161, 10ff.; 157, 15ff.) Ācāryāḥ kann also unmöglich bedeuten »mein Lehrer«, wie bes. Sham. meint. Die Verkehrtheit einer solchen Auffassung erhellt z.B. auch aus dem 1. Satz des 7. Kapitels im 3. Buch, wo die den ācāryāḥ zugeschriebene Lehre die gewöhnliche altindische, wenn auch nicht die älteste, darstellt und unmöglich die eines Einzelnen sein kann. Übrigens heißt auch in Baudh. II, 6, 29 (= II, 6, 11, 27); Gaut. III, 36; IV, 23 ācāryāḥ durchaus nicht »mein Lehrer«, wie Bühler annimmt, sondern genau wie bei Kauṭ. und wie unser »die Lehrer« einfach die Lehrer im allgemeinen, die meisten Lehrer, wie ich in meinem Buch über die Rechtsschriften nachweise. Könnte aber natürlich sogar ein Kauṭ. nicht so mit seinem eignen Lehrer umspringen, so bildet doch schon dies ein starkes Stückchen, daß er der überwiegenden Mehrzahl der alten Weisen entgegenschleudert: »Das ist ja Spiegelfechterei. So sagt Kauṭilya«. Kann man sich wohl vorstellen, daß ein von Schülern, die dabei wohl um mehrere Menschenalter vom Meister entfernt sind, zusammengestelltes Werk solche unanständige Ausdrücke ihrem hochwürdigen Propheten in den Mund gelegt hätte? Sogar wenn wir annähmen, daß sie schriftlich hinterlassene Sätze oder Traktate des Dahingegangenen zugrunde gelegt hätten, müßte solche Unehrerbietigkeit ernste Bedenken wecken. In dergleichen Fällen wäre doch ein: Naivam etad iti Kauṭilyaḥ oder ein Neti K. oder höchstens ein Mithyaitad iti K., ähnlich dem, was wir anderwärts finden, genug gewesen. Eine Hochachtung vor dem Wortlaut des Geschriebenen, wie wir sie kennen, ist dem Inder ja vollkommen fremd; an weltlichen Werken ändert er nach Herzenslust. Hat aber Kauṭ. selber das ganze Buch verfaßt, dann klappt alles aufs Schönste. Genau solch eine Sprache müssen wir von dem Kauṭ. der Überlieferung und des Kolophons erwarten. In der »Insel der Pinguine« von Anatole France wird der Weltkrieg entfacht, weil ein schönes Weib die Ehe bricht – »und die Sterne Homers, siehe, sie leuchten auch uns«. In der indischen Tradition verfällt ein altes Fürstenhaus dem Untergang und entsteht das mächtigste Kaiserreich der altindischen Geschichte, weil ein Brahmane eine freche Ungezogenheit begeht. Baudh. II, 3, 49 gebot doch dem Cāṇakya: Na tatropaviçed [49] yata, enam anya, utthāpayet »Er (der Brahmane) soll sich nicht da hinsetzen, wo ihn ein anderer wieder aufstehen heißen könnte«. Der Komm, sagt richtig, es sei hier an einen königlichen Hof gedacht. Cāṇakya aber pflanzt sich kastenprotzig auf einen ihm nicht zukommenden Sitz, nach einer Gestalt der Sage sogar auf den des Königs und verdoppelt da und verdreifacht, als er gemahnt wird, noch seine Tollheit. Derselbe leidenschaftliche, stolze Mensch schaut uns immer wieder aus dem Buch selber entgegen. Nimm, lies, du wirst sehen! Und hätte noch niemals vor Kauṭ. jemand in Indien etwas gemacht, was seinem iti Kauṭilyaḥ entspräche, um so mehr Grund, daß er es machte!Nach Kauṭ., und vielleicht auch in diesem Punkte von ihm beeinflußt, bietet Vātsyāyanas Kāmasūtra oft iti Vātsyāyanaḥ dar, wo doch wohl niemand das Übrige »seiner Schule« zuschreiben wird. Vgl. da auch Schmidt, Ind. Erotik p. 6 ff. Noch einmal: Auf die Eigenart des Schriftstellers selbst müssen wir schauen, nicht auf mechanische Allgemeinheiten.
Wenn nun aber der erste Leitspruch lautet: Aus sich selber muß der Schriftsteller erklärt werden, so erhebt sich die Frage um so gebieterischer: Steht im Kauṭ. selber nichts, was die Annahme, das Werk stamme von ihm, zunichte macht? Mir sind zwei Stellen aufgestoßen, die bei oberflächlicher Betrachtung von dieser Art zu sein scheinen. Die erste findet sich am Schluß des Buchs, und in meiner Übers. S. 665, 29ff. mache ich auf sie aufmerksam. Aber wenn Kauṭ. sich hier in eine Reihe stellt mit den früheren Lehrern und wenn er da alle Stellen, die in iti Kauṭilyaḥ ausklingen, als Zitat bezeichnet, so werden ihm wohl solche Sätze als sūtra gelten. Er erläutert und erweitert sie im Bhāshyateil genau wie Sätze seiner Vorgänger. Wie uns die Schlußverse versichern, hat er ja selber sowohl die sūtra, wie den Kommentar geschrieben. Da macht es sich natürlich, daß er die eigenen Leitsätze und die der andern gleichstellt, und zwar um so mehr als er – Kauṭilya ist. Der andere Ort ist 253, 6ff. (Übers. 393, 34ff.). Hier trägt Kauṭ. zunächst seine eigne Lehre vor und dann erst, in einem langen Zitat, die des Bhāradvāja. Auf den ersten Blick befremdet das; denn sonst kommen zuerst die andern dran, und schließlich werden sie abgeführt durch das berühmte: »So Kauṭilya«. Aber man braucht nur weiter zu lesen und sieht dann sogleich, daß alles vollkommen in Ordnung ist. Kauṭ. bringt seine Anschauung vor. Dann fährt er fort: »Zwar Bhāradvāja meint anders. Aber ich, Kauṭ., muß sagen: Was der da vertritt, ist eine gefährliche Sache (254, 1). Also bleibt es bei dem, was ich lehre. Und zwar ...« Wie könnte sich ein Schriftsteller natürlicher und lebendiger ausdrücken! Vgl. auch 325, 9–326, 6 (Übers. 500, 12–502, 10). Aber freilich, mit dem Rechenbrett stimmts nicht. Und so ersehe ich denn aus Gaṇ.s Einleit. zu Bd. II seiner Kauṭ.-Ausg. (S. 2–3), daß Keith wirklich behauptet: »Kaut, wird da von Bhāradvāja kritisiert. Nun ist aber Bhāradvāja älter als Kauṭ. Also kann Kauṭ. nicht der Verfasser sein.« Ich nehme an, daß diese Beweisführung im JRAS. 1916, S. 130ff. (vgl. 1920, S. 628) erscheint, wo Keith die Zeit- und Verfasserfrage behandelt. Mir steht aber diese Zeitschr. nicht zu Gebote. Gaṇ.s Widerlegung deckt sich mit meiner eigenen, die schon längst, ehe die seinige mir zu Gesicht kam, in meinen Zetteln niedergelegt [50] war. Die Sache ist auch so einfach, daß man solch ein Mißverständnis schwer begreift. Aber ich habe wohl noch schlimmere Schnitzer verübt.
Es wären nun noch eine Anzahl anderer Einwände zu besprechen, bes. die von Jolly an verschiedenen Orten erhobenen. Aber sie scheinen mir gegenüber dem von Jacobi, Gaṇapati und andern Vorgebrachten nicht Stich zu halten, spare mir also, längst Widerlegtes wieder aufzunehmen. Andere bespreche ich in den Anmerkungen.
Wenn nun aber die Verfasserschaft durch Vishṇugupta Kauṭilya aus der Zeit des ersten Maurya bisher noch keineswegs erschüttert ist, so gewinnt die altindische Überlieferung von Cāṇakya an Wert für uns. Natürlich handelt es sich um Sagen. Aber Sagen bergen oft einen beachtenswerten geschichtlichen Kern. Auch hier ist er mindestens in einem Stücke da. Der Charakter des Mannes, der dem Arthaç. den eigenen Stempel aufgedrückt hat, stimmt vortrefflich mit dem Wesensgepräge des Cāṇakya der Sagen. Daß diese aus den genannten Anhaltspunkten des Arthaç. entstanden seien, dürfte wohl niemand behaupten. Also wird die Sage in dieser Hinsicht einfach die geschichtliche Wirklichkeit abspiegeln. Der wesentlichste Inhalt ist denn auch in den verschiedenen Gestaltungen, d.h. im Mudrār., in Kathās. V, 108ff., in Pariçishṭap. VIII, 194ff. und in Turnour, Mahāvaṃso, Introd. XXXIX, der gleiche und den Fachleuten wohlbekannt. Die letztgenannte Form liegt mir nur in den Wiedergaben bei Lassen, Ind. Altertumsk. 2, Bd. II, S. 205ff. vor. Das Mudrārākshasa, ein für die lebendigere Anschauung von der altind. Politik hochwichtiges Drama, hat schon längst Ludwig Fritze ins Deutsche übersetzt (Reclams Universalbibl.) und das Pariçishṭaparvan in Auswahl Hertel (Leipzig, Heims 1908, wo man die interessanten Geschichten von Cāṇakya auf S. 186ff. findet). Bezeichnend ist es, daß nach dieser Jainaerzählung der Erzpolitikus Cāṇakya bei einer Frau in die Schule gehen muß, genau wie nach dem MBh. die ganze Wissenschaft der Staatsschlauheit aus des Weibes Verschlagenheiten geboren worden ist (Hopkins, The Great Epic S. 87; Meyer, Das Weib 373, Anm.). Hören wir doch über diesen in Indien so viel behandelten Gegenstand z.B. in Chavannes, Cinq cents contes II, 279: »Der Kshattriya hat 100 Listen, der Brahmane zweimal mehr, der Fürst tausend Arten, unzählbar aber sind die Schliche der Frauen.« Höherer Wert als den Erzählungen der Jaina, die übrigens, wie sonst oft, in manchem den buddhistischen nahestehen, scheint mir der Fassung im Kathās. innezuwohnen. In V, 108 ff. haben wir zuerst die auch im Mudrār. öfters erwähnte Szene, daß Cāṇakya, ein gewöhnlicher, aber sehr zornmütiger Brahmane, beim König Nanda – hier ist es ein falscher Nanda – von dem Ehrensitz, den er eingenommen hat, entfernt wird. Wutentbrannt tötet er den König, hier durch Zauber, wie es sich für einen Brahmanen geziemt. Das Nītiv. macht in 52, 4f. die Sache viel glaubwürdiger ab: Ein tīkshṇadūta, also ein Bravo, den Cāṇakya dingt, ermordet den Nanda, [51] als dieser allein ist. Im Kathās. nun wird der König durch seinen Minister Çakaṭāla dazu veranlaßt, dem Cāṇakya den genannten Schimpf anzutun. Diesen Çakaṭāla hat der Fürst früher mit seinen hundert Söhnen zusammen ugolinohaft in den Hungerturm sperren lassen, wo der Gefangene mit dem nur für eine Person hinreichenden Essen, das ihnen verabfolgt wurde, sich am Leben erhielt, um später einmal Rache nehmen zu können, während alle seine Söhne starben. Auf die Verwendung eines andern hin hatte der Nandakönig ihn dann später herausgeholt und wieder aufgenommen (IV, 119ff.). Auf diese Geschichte spielt Nītiv. 71, 4–5 an. Çakaṭāla setzt nach dem Tod dieses falschen Nanda (Yogananda) den wirklichen Nandaprinzen, den Candragupta, auf den Thron, bewegt Cāṇakya dessen Staatskanzler zu werden, und wird dann selbst Waldsiedler, während im Mudrār. umgekehrt Cāṇakya den Minister des Nanda dazu bringt, dieses Amt bei Candragupta zu übernehmen und er sich selber dann zurückzieht. Mir scheint nun im Kathās. eine Person in zwei gespalten worden zu sein: Cāṇakya selber ist der hier Çakaṭāla genannte ursprüngliche Minister des Nanda und wird von diesem schwer gekränkt, wenn auch nicht gerade in der vom Kathās. genannten Weise. Er rächt sich, indem er seinen Herrn aus dem Weg räumt und Candragupta in dessen Reich einsetzt. Verschiedene Stellen des Arthaç. vertrügen sich ausgezeichnet mit dieser Vermutung, die vielleicht in dem Namen Çakaṭāla selber eine Stütze findet; denn çakaṭa ist = Trug, Betrug, Falschheit in Kauṭ. 90, 16; 364, 9; 375, 10, wahrscheinlich auch in 365, 9 und 400, 19. Çakaṭāla, gebildet wie vācāla geschwätzig, aber wohl mit Anklang an çakatālaya, wäre mithin = Kauṭilya. Also nur Vermutung ist es, wenn ich in verschiedenen Anmerk. Kauṭ. als früheren Kanzler des Nandareichs hinstelle, aber eine Vermutung, die mir zuerst rein aus dem Arthaç. selbst gekommen ist. Wir hätten somit in Wirklichkeit eine Palastrevolution, wie sie auch Indien nichts Fremdes sind. Kein Wunder, daß die Sage aus einem prosaisch eintönigen, gewöhnlichen Hergang einen dichterisch dramatischen, reich gegliederten gemacht hat. Für den brahmanischen Inder ist das Gewaltigste auf Erden der Brahmane als solcher und sein Zorn. So muß ein armer Brahmane, dem nichts zu Gebote steht als sein brahmanisches Erbgut: Klugheit und Rachegewalt, von der Straße weg als Held der Erzählung erwählt und an die Stelle des Staatslenkers, der den Erfolg hauptsächlich seiner Stellung verdankte, geschoben werden. Recht hat aber die Sage wohl auch darin, daß dieser Königsstürzer und Königsmacher ein Brahmane ist, und daß der Rachegrimm des Brahmanen die Triebfeder bildet. Wie hier der Kshattriya Nanda mit dem Mann von der Priesterkaste zusammenstößt und wie der Vertreter des Adels dabei zerschellt, alles genau im Einklang mit so vielen alten Sagen, Märchen und Sprüchen vom Zusammenprall der beiden Kasten, nach denen der Krieger notwendig dabei vom Verderben ereilt wird, so hat einst ein Kshattriya z.B. den Brahmanen Mayūraçarman beleidigt und zahlt dieser den Schimpf dadurch heim, daß [52] er das Fürstenhaus der Pallava stürzt und sich selber zum Herrscher macht. Majumdar, Corporate Life in Ancient India2, S. 37, nach einer Inschrift des 6. Jhdts.
Ein brahmanischer Paṇḍit ist der Cāṇakya Kauṭilya der Sage und des Mudrār., ein brahmanischer Paṇḍit, wenn auch ein außergewöhnlicher, der Verfasser des Arthaç. Von einem »altindischen Bismarck« scheint mir da keine Spur zu sein, und ist eine Spur, dann ist es eine »Wolfsspur« (vṛikapada), eine falsche Fährte, ein Irrlicht. Der Urheber unseres Buchs hat vom alltäglichen Leben dem Anschein nach nicht allzuviel gewußt. Aber eins hat er gehabt, das Erste und das Letzte für den Politiker: Menschenkenntnis, wobei natürlich nicht entschieden werden kann, wieviel davon auf seine eigene Rechnung und wieviel auf die seiner Vorgänger kommt. Dazu besaß er zwei Eigenschaften, die bei einem Revolutionär nötig sind: glühende Leidenschaft und verschmitzt rechnenden und erfindenden Verstand. Natürlich hat er längst nicht all die Teufeleien mit dem hinterlistig gewundenen Satansschwanz, die er uns vorführt, selber ausgeheckt, wahrscheinlich die allerwenigsten. Aber schon von andern stammende so kongenial nachzuschaffen, erfordert eine verschlagene Phantasie. Cāṇakya Kauṭilya war also der gegebene Mann, einen Nanda zu Fall zu bringen und einen Candragupta auf den Thron zu heben. Ob er aber viel dazu taugte, das große Reich, das sein Schützling nun sich zu eigen machte, als Kanzler längere Zeit fort zu leiten, ist gar sehr die Frage. Auch deshalb mag ihn Candragupta beiseite geschoben haben, nicht unwahrscheinlich schon nach kurzer Frist. Auch hier dürfte die Sage samt dem Mudrār. Richtiges melden, wenn sie den Königsmacher von der Weltbühne bald in die Einsamkeit verschwinden lassen. In den Ruhesitz gedrängt und, nach manchen Stellen des Arthaç. zu schließen, von Groll erfüllt gegen den Undankbaren, hat er dann wohl sein Buch von der Staatsweisheit verfaßt.
Wir sehen, alles fügt sich zu einem einheitlichen Bilde zusammen, sowie wir einfach den altindischen Berichten und dem Arthaç. lauschen, statt den kritischen Bedenken spät geborener Gelehrten der westlichen Welt. Es gibt nun aber ein prächtiges Büchlein: Historical Doubts Concerning Napoleon, geschrieben von dem englischen Bischof und Logiker Whately. Darin wird überzeugend bewiesen, daß Naploeon I. nie existiert habe. Es erschien, als Napoleon noch lebte, und als er dann starb, verkündete der Spötter triumphierend, weil die Erfinder der Napoleonmythe eingesehen hätten, daß sie jetzt nicht mehr zu halten sei, hätten sie klugerweise ihr Gemächte sterben lassen. Daß die Verneiner der Überlieferung von Kauṭilya bisher weit hinter den »Historischen Zweifeln« des englischen Bekämpfers der Bibelkritiker zurückbleiben, darf ich getrost behaupten. Ob ich aber ebenso schlagend wie er den Satz vom Nichtdasein seines Helden den meinigen vom Dasein des Umstrittenen bewiesen habe, kann natürlich ich selber nicht entscheiden. Wer jedoch recht hat, Jolly und seine Genossen oder Jacobi und am Schwanz [53] seiner Reihe nun auch ich – chi lo sa! Denn was man nicht weiß, beweist man. Wissen aber können wir nicht, wer das Arthaç. geschrieben hat. Es könnte sogar ein Gelehrter gewesen sein, von dem nicht einmal gilt, »daß der Verfasser ... ein Beamter eines nicht unbedeutenden Herrschers war«, was doch sogar Winternitz ihm zubilligt (S. 524). Nur eins steht fest: Die Gründe, mit denen man bisher der Ächtheit auf den Leib gerückt ist, vermögen nicht die indische Überlieferung umzustoßen. Diese wird sogar durch sehr hohe Wahrscheinlichkeit gestützt. Zweifel aber sind nicht ausgeschlossen. Nur müssen sie, wenigstens bis auf Weiteres, sehr bescheiden auftreten.
Eins, was Jolly erwähnt, hat sich auch mir aufgedrängt: Kauṭ. ist wohl ein Südinder. Zwar die Gründe, die Jolly auf S. 43–44 seiner Introd. angibt, genügen alleine nicht. Noch mehr ins Gewicht scheinen mir mehrere Dinge zu fallen, die ich in den Anmerk. hervorhebe. Was Baudh., wohl einen Südinder, anlangt, so erwähne ich da wohl, daß nur bei ihm und bei Kauṭ. der paṇa 16 māsha, sonst aber in der Smṛiti deren 20 betrage (wie in Vas. II, 50; Gaut. XII, 29; Nār. Pariç. 58 usw.), und daß dieser paṇa des Kauṭ. von Silber sei, was nach Nār. Pariç. nur im Süden der Fall ist. Nicht aber führe ich in den Anmerk. an, daß Baudh. und Kauṭ. öfters wörtlich oder doch beinahe wörtlich übereinstimmen, wie jeder schon aus Jollys »Konkordanz« sehen kann. Vielleicht dürfte es auch nicht zufällig sein, daß Daṇḍin, ein Südinder, mit dem Arthaç. des Kauṭ. vertrauter ist und es ausgiebiger verwertet hat als wohl irgendein anderer indischer Dichter. Allein Cāṇakya Kauṭ. könnte ja Südinder von Geburt gewesen sein und sich dann obendrein von Candraguptas Hof in seine Heimat zurückgezogen haben. Auf keinen Fall richtig aber scheint mir die Hinabdrückung bis ins 3. Jahdt. n. Chr., für die sich sowohl Jolly wie Winternitz aussprechen. Die Sprache macht einen wesentlich älteren Eindruck.
Doch wie man sich zu all diesen Fragen auch stellen möge, das Arthaç. hat, wie gesagt, einen wohl beispiellosen Wert für unsere Kenntnis Altindiens. Schon die Fülle des kulturgeschichtlichen Materials dürfte man geradezu eine Sintflut nennen. Es ist auch ein so eigenartiges und vom bisherigen Gang des Studiums sogar der meisten Indologen so abseits stehendes Werk, daß eine Einleitung zu ihm zugleich eine Einführung, eine vorläufige Umschau über die altindische Staatsweisheit bilden sollte. Besonders aber der Nichtfachmann bedürfte einer solchen Übersicht. Niemand aber, der sich Kunde verschaffen will von Altindien und altindischen Dingen, kann sichs leisten, dies Werk nicht zu lesen und nicht sorgfältig zu lesen. Ja, es ist auch wichtig für Geschichte einer großen Menge von Wissenszweigen und für Leute, denen Indien an und für sich gleichgültig ist. Allein für diese Aufgabe reicht jetzt die Kraft nicht und vor allem auch nicht der Raum. Zum Glück nun haben wir mehrere kleinere Schriften über den Gegenstand, die einem weiteren [54] Leserkreise gerecht werden. Nur Vorzügliches läßt sich von einem so gründlichen, vielseitigen und unermüdlichen Forscher wie Julius Jolly erwarten, der schon eine lange Reihe von Jahren der altindischen Politik und weit über ein Menschenalter der altindischen Rechts- und Sittenkunde gewidmet hat. Eine ganze Anzahl größerer und kleinerer Arbeiten Jollys, denen jetzt auch eine zusammen mit Rich. Schmidt geleistete Ausgabe des Kauṭilyatextes an die Seite trat, hat das Studium des Arthaç. gefördert. Im »Licht des Ostens«, Stuttgart und Berlin 1922, S. 195ff. berichtet er einer weiteren Lesergemeinde über »Staatliches und soziales Leben in Indien«. Leider habe ich diese Abhandlung nicht selbst gelesen. Neben ihm ist der bedeutendste Abendländer auf dem Gebiet des Arthaçāstra Alfred Hillebrandt, dessen kleines Büchlein Altindische Politik, Jena, Gustav Fischer (in der Sammlung »Die Herdflamme«) nicht nur einen sehr fesselnden und gewinnreichen Einblick in dieses Gemach des altindischen Geistesgebäudes gewährt, hauptsächlich mit Hilfe des Volksepos, sondern auch mehrere Erkenntnisse vermittelt, die an Richtigkeit und Wichtigkeit kaum ihresgleichen finden. Nicht durchweg so zuverlässig, aber im großen und ganzen sehr empfehlenswert sind auch Kālidās Nāg, Les théories diplomatiques de l'Inde ancienne, Paris, Jean Maisonneuve & fils 1923 und das geist-und gehaltvolle Buch des genial veranlagten und in europäischer Literatur erstaunlich belesenen Bengalen Benoy Kumar Sarkar, The Political Institutions and Theories of the Hindus, Leipzig, Markert & Petters 1922. Wen es nach weiterer Literatur verlangt der findet sie besonders bei Sarkar angeführt.
Sehr verlockend für mich wäre es, auch die irgendwie kennzeichnenden Lehren der verschiedenen Schulen und Einzelmeister der politischen Wissenschaft, namentlich aus den Anführungen bei Kauṭ., zusammenzustellen, so daß man von den einzelnen einigermaßen ein Bild gewönne. Bṛihaspati und die Bṛihaspatianer z.B. versprächen viel. Leider leistet da die von F. W. Thomas herausgegebene und übersetzte Bṛihaspati-Nīti so gut wie nichts; sie ist offenbar ein recht junges Gemächte, zum großen Teil öde und farblos. Fast noch eigentümlicher und reizvoller als Bṛihaspatis Schule kommt mir Bhāradvāja vor, und manchmal habe ich gedacht: »Wenn wir nur mindestens den noch hätten! Am Ende wäre der noch wertvoller als Kauṭ.« Aber ich träume von einem andern Buch: »Staats- und Volksleben in Altindien«, wo ich auch diese Sache aufzunehmen gedenke, wenn, ja wenn. Vor allem aber das Epos müßte noch ganz anders verwertet werden, als Hillebrandt wegen Raumbeschränkung und ich ebenfalls des Raumes, aber leider ebenso sehr Kraftmangels halber es vermochte. Namentlich im MBh. wäre noch arg viel zu holen auch für das Verständnis des Kauṭ. Ich habe da bloß hier einen Fetzen und dort einen Fetzen herausgerissen. Eine gründliche Arbeit über: »Das Arthaç. des Kauṭ. und das Volksepos« brächte viel Gewinn in mannigfacher Hinsicht. Auch die Purāṇas, besonders das Agnipur., die Bṛihatsaṃhitā [55] des Varāhamihira, der Yuktikalpataru und andere Schriften könnten Licht spenden. Von anderem zu schweigen, sind sie mir aber jetzt nicht zur Hand. Auch ist dies Buch schon allzusehr angeschwollen.
Darum will ich nur noch eins besprechen, etwas was sich jedem Leser des Kauṭ. wohl am stärksten aufdrängt: den Machiavellismus, die bedingungslose Verkündigung des »Willens zur Macht«. Dieser ist der Grundgedanke der altind. Staatswissenschaft. Das Sehnsuchtsbild des Kauṭ. wäre ein Cesare Borgia, ebenso wie das Friedrich Nietzsches. Nietzsches Verherrlichung auch der »Bosheit« ruht nun aber auf edelmoralischem Grunde. Kauṭ. dagegen scheint wirklich ganz moralinfrei zu sein. Dasselbe gölte dann überhaupt von der altindischen Staatslehre. Denn wir müssen in den Vorträgen, die wir über sie im MBh., bei Manu, Kāmandaka und sonst finden, natürlich scheiden zwischen den eingetriebenen, oft sehr umfangreichen Dharma- oder Moralkeilen und dem ursprünglichen Holz. Und doch: diese Keile sind wohl aus einer anderen Art Holz, aber aus Holz sind sie beide – die altindische Staatslehre ist ebenfalls dharma, d.h. Pflicht, Recht, Moral, Tugend, sogar Religion und Frömmigkeit. Ganz richtig heißt sie rājadharma Fürstendharma. Längst hat man es bemerkt, in Indien ist nicht nur die ausschweifendste Unzucht Religion – dasselbe gilt ja von vielen andern Völkern – sondern auch der gemeinste Meuchelmord. Man braucht nur an die Thags zu erinnern. Ja, auch der berufsmäßige Dieb hat sein dharma. Ohne dharma, ohne das Religiös-Sittliche, kann man sich den Inder gar nicht denken. Wie jammerschade ist es auch deshalb, daß wir keine eigenen Schriften der Materialisten Altindiens mehr haben! Religion und Sittlichkeit ihrer Art haben gewiß auch sie gehabt, obwohl wir sie uns nach den Bruchstücken ihrer Lehre bei anderen, die sicherlich höchst ungenügenden, ja wohl entstellenden Bericht geben, nicht vorstellen können. Und doch vermögen wir es wohl zum Teil. Lokāyata, die »Philosophie dieser Welt«, wird von Kauṭ. ausdrücklich anerkannt und von späteren Arthaçāstrabearbeitern noch stärker hervorgehoben. Sie bildet den Grund und Boden für das Arthaç. Wie ich aus Gaṇ.s Vorrede zum 3. Bd. seiner Kauṭ.-Ausg. ersehe, hat auch Winternitz dies dargelegt, in dem mir unzugänglichen Artikel über das Kauṭ.-Arthaç. in der Calcutta Review vom April 1924. Gaṇ. weist diese Ansicht entrüstet ab und bemüht sich zu zeigen, wie hochmoralisch Kauṭ.s Buch sei. Ich kann seinen Versuch nicht glücklich finden, obschon er mehrere beherzigenswerte Sätze enthält. Und dennoch hat Gaṇ. recht, wenn er sagt: »The work comes to be regarded as equivalent to Dharmaçāstra«, nur ist die angehängte Begründung verkehrt und der Ausdruck zu – schwach. Nein, das Arthaçāstra ist ein Dharmaçāstra. Gaṇ. berichtet: »Dr. Winternitz thinks that it is quite inconsistent in an author to profess himself to be a follower of Dharma and at the same time advocate unfair methods.« Gerade so kann W. kaum gesagt haben. Bleiben aber wird auch für ihn die Meinung, Arthaçāstra und Dharmaçāstra widersprächen [56] einander. Sie ist unbegründet. Nur müssen wir die alten Inder selber fragen.
Was sagen die? Zunächst einmal ganz deutlich und kräftig dasselbe wie Kauṭ.: Nur der artha, der weltliche Vorteil, nur das Diesseitige hat Wert, und um des artha willen sind alle Mittel recht, die zum Ziele führen, unrecht nur die, die uns um den artha bringen. Artha nun heißt Sache, irdischer Vorteil irgendwelcher Art, Erdengut, im engeren Sinn Reichtum. Vgl. bes. auch Vātsyāyanas Begriffserläuterung (R. Schmidt, Ind. Erotik, S. 85). Das Höchste ist Macht. Keine Macht und kein Mittel aber kann sich mit dem Geld vergleichen. Das irdische Gut hat der Inder zu allen Zeiten und in allen Tonarten vergöttert. Armut ist schlimmer als der Tod. Darin sind auch seine Dichter einig, obschon nicht in allen Stimmungen. Das gilt aber nicht nur für diese Welt, in der ja irdisches Gut vor allem das dritte Lebensziel: die Liebe und den Genuß ermöglicht. Die gewöhnlichsten Werke, mit denen man im brahmanischen Indien den Himmel erwirbt, sind Opfer und wohltätige Gaben, die zwei so allwichtigen und ständig empfohlenen Einnahmequellen der priesterlichen Kaste. Der arme Teufel kann sie nicht leisten, also sind ihm die Tore des Paradieses verschlossen. Schon in dieser handgreiflichen Weise fallen artha und dharma zusammen oder ist, nach einem häufigen Ausdruck, artha die Wurzel des dharma. (Siehe z.B. MBh. XII, 8, 17, 19). Da auf irdischem Gut das ewige beruht, so raubt mir der den dharma, der mir das Geld raubt (MBh. XII, 8, 12f.). Der Kehrsatz lautete natürlich: alles, was mir dhana oder Geld verschafft, verschafft mir dharma. Armut ist die wahre Todsünde (pātaka, das Verbrechen, das das Fürchterlichste auf Erden, nämlich die Ausstoßung aus der Kaste und damit aus menschlicher Gesellschaft und aus allen irdischen und außerirdischen Gütern und Rechten zur Folge hat. Çl. 14. Daridra n. oder wohl mit K dāridryaṃ zu lesen). Nun gibt es aber auf Erden nie und nirgends ein irdisches Gut, das nicht mit Unrecht gegen andere verknüpft wäre (anapakṛita, 30). Daß das eine Wesen das andere auffrißt, gebietet ewiges, göttliches Gesetz, und das Wesen, das alle und alles auffrißt, ist der Mensch. Sei du, wie du geschaffen worden bist! (XII, 15, 20–23). Nur Schwächlinge widmen sich der Weltentsagung und der Nichtverletzung anderer Wesen; ohne massenweise Leben zu vernichten, lebt niemand und kann niemand leben, auch nicht der Asket (XII, 15, 24ff. und anderwärts). Durch hinterlistige Schädigung und Tötung (droha) haben die Götter im Himmel ihre hohen Stellen erlangt, und auf nichts als heimtückischen Mord an ihren nächsten Verwandten sind sie erpicht (XII, 8, 28). Dieser Gedanke, der nebst anderen hierhergehörigen in Spittelers Olympischem Frühling eine großartige Ausgestaltung bekommen hat, kehrt wer weiß wie oft wieder; die ältere Lit., vor allem das MBh., so gut wie die ganz junge Çukran., hält uns geflissentlich vor Augen, daß die Götter und die göttlichen Heroen der Vorzeit jeden, der ihnen im Weg war, vor allem ihre nächsten Anverwandten, durch [57] hinterlistigen Mord abmurksten. Du, o Fürst, gehe hin und tue desgleichen. Und überdies: Das wirkliche Selbst (ātman) kann ja doch niemand töten (XII, 15, 56f.). Dieser aus den Upanischaden, bes. aus der Kaṭhaka-Up. und den daher stammenden Darlegungen, wohlbekannte großartige Gedanke wird häufig im MBh. und anderwärts so pfiffig praktisch ausgebeutet. Vgl. z.B. auch XII, 25. Im schlimmsten Fall veranlasse ich, wenn ich einen umbringe, ihn ja nur ein neues Kleid anzuziehen, um in einem auch altindischen Bilde zu reden, oder wie Arjuna bei solcher Gelegenheit sagt: »Wie ein Mensch in ein anderes Gemach geht, so begiebt sich der Lebensgeist (jīva, die Seele) von einem Körper in den andern,« was genau so William Blake ausdrückt: »I cannot think of death as more than going out of one room into another« (Gilchrist, Life of William Blake, Lond. 1880, p. 397).
In dieser wirren Welt (paryākule loke) ist überhaupt nichts völlig gut und nichts völlig schlecht (XII, 15, 50, 52). Wie schlimm scheint dem Vergewaltigten die Gewalt, die Macht! Und doch ist Gewaltübung, Machtübung (daṇḍa) die Quelle alles Großen, Guten, Edeln auf Erden. Ich erinnere nur an Manu VII, 14–25, an das verzückte Preislied auf den daṇḍa, »den von Gott aus der Feuerkraft des heil. Wortes Gebildeten«, ihn, der da ist der dharma (14, vgl. 18). Also daṇḍa, und dharma sind ein und dasselbe. Was aber bedeutet da daṇḍa? Bühler setzt im Einklang mit der in ähnlichen Fällen gewöhnlichen Bedeutung Punishment (Strafe). Nun heißt daṇḍa natürlich auch oft Strafgewalt (des Königs). Aber der erste und eigentliche Sinn ist Gewaltübung, Machtübung. Und wie im Worte, so macht der Inder häufig auch im Begriff keine Scheidung. Man lese da nur MBh. XII, 15. Dieser vorzügliche Lobgesang vom daṇḍa beginnt mit demselben Çloka, den wir in Manu VII, 18 finden, und enthält noch eine Anzahl anderer Entsprechungen, verhilft sogar zur Textreinigung des Manu. So sollte man in Manu VII, 20 nach MBh. 30 jale statt çūle, ferner abhakshyan statt apakshyan und weiterhin bei Manu und im MBh. wohl auch matsyā statt matsyān (vgl. z.B. MBh. XII, 67, 12; Rām. II, 67, 31) einsetzen: »(wenn der daṇḍa nicht wäre), fräßen, wie im Wasser die Fische, die Stärkeren die Schwachen auf« – der bekannte matsyanyāya11. Eindringlich schildert Arjuna, wie in der Welt alles drunter und drüber ginge ohne den daṇḍa: das Mädchen bliebe nicht keusch, der Schüler lernte nicht, die Kuh würde nicht gemolken, kein Eigentum anerkannt, kein Leben geschont, keine fromme Handlung unternommen, kein Mann nähme ein Mädchen zur Ehe, das Haustier zöge nicht den Wagen usw. Hier wäre überall »Strafe« für daṇḍa möglich. Aber eine Menge der dazwischen eingeflochtenen Verse, der ganze Zusammenhang [58] und der eigentliche Sinn der langen Rede hat es nur mit der Gewaltübung zu tun, die sich namentlich im Töten und Vergewaltigung anderer betätigt. Siehe Çl. 14–28 und 51–58. Arjuna denkt an nichts anderes als an Machterwerb und Machtanwendung. Darum spricht er auch: »Die Machtübung (daṇḍa) des Brahmanen geschieht durch das Wort, die des Kriegers durch die Anwendung des starken Arms, die des Vaiçya durch Geben (also durch Geld und Gut); ohne Machtübung ist der Çūdra« (XII, 15, 9). Der Brahmane erzaubert und erredet sich durch das Wort (vāc), was er will: Verderben seines eigenen Feindes und des Feindes eines anderen, Gut und Geltung in der Welt, religiöses Verdienst – Himmel hier und dort. Der waffenbewehrte Arm des Kriegeradels verschafft ihm durch Töten und Raub Reichtum und Macht und damit Genuß in dieser Welt und die Möglichkeit, durch Schützung, Opfern, Schenken usw. Seligkeit nach dem Tode zu erwerben. Diese letztgenannte und die Erlangung irdischer Wünsche verdankt der emsig Geld erarbeitende und erschachernde Vaiçya dem Geben (dāna), was hier natürlich auch Bestechung bedeutet. Als elender, für beide Welten machtloser Tropf steht nur der Sklave da. So folgt auch: »Alle menschliche Betätigung (āraṃbha) ist abhängig von irdischem Gut (artha). Dieses aber ist abhängig von Gewaltübung. Da siehst du, wie wichtig die Gewaltübung ist« (48). Kurz, wie es im Vorhergehenden und sonst öfters ausgesprochen wird: Einzig und allein auf der Machtübung beruht der dharma, d.h. die ganze sittliche und religiöse Weltordnung und der Weltlauf, das Bestehen der Welt (lokayātrā). So bekommen wir den Schlußsatz: Daṇḍe svargo manushyāṇāṃ loko 'yaṃ supratish ṭhitaḥ »auf Gewaltübung fest begründet ist für die Menschen die Seligkeit im Himmel und diese unsere Welt (43).« Ja, ähnlich dem, was wir schon gehört haben: »Durch Gewaltübung (daṇḍanīti) ist König der Sonnengott und sind es alle Götter.« Bṛih.-Nīti III, 76f.
Macht ist aber auch deshalb das Alleinwichtige, weil der, der die Macht besitzt, damit auch das Recht auf seiner Seite hat. Dharma und adharma (Unrecht, Gottlosigkeit) sind nur Einbildungen; der Gute leidet, der Schlechte triumphiert, nur Macht und Vorteil gelten. Rām. VI, 83, 14ff. »Das Gerede von Recht und Unrecht ist eine ›Wolfsspur‹ (ein Irrlicht). Niemand hat hier jemals die Frucht des Guten oder des Bösen (das einer tut) gesehen12. Man strebe nach Macht; alles steht dem Mächtigen zu Gebote. Wie der Rauch dem Wind, so folgt das Recht gehorsam der Macht (bala). Kraftlos, sklavenhaft [59] (anīçvara) gegenüber der Macht ist es und muß sich an die Macht klammern wie die Ranke an den Baum« (XII, 134, 2ff.). »Alles ist für die Starken heilsam, alles für die Starken rein, alles für die Starken Recht und Tugend, alles der Starken Eigentum.« (MBh. XV, 30, 24 vgl. XII, 134, 8) »Frei von Fehle und Tadel ist das eigenmächtige Nehmen bei denen, die die Macht haben (çaktimatāṃ svayaṃgrahaḥ).« Kirāt. XIV, 20. Und Mall. sagt dazu: »Es ist vielmehr ein Schmuck für die Helden.«
Aber noch mehr: Conscience is but a word that cowards use, Devis'd at first to keep the strong in awe (Richard III, 5. Akt, 3. Szene gegen Ende). Wie vielfältig und leidenschaftlich Nietzsche diesen Gedanken ausgeführt hat, weiß jeder, und Eugen Schmitt, der Gnostiker und Staatsverneiner, hat darzutun versucht, daß das ursprüngliche Christentum, d.h. die Vergöttlichung der Sanftmut, Milde usw., das Mittel gewesen sei, durch das sich der schwache Proletarier gegen den Übermächtigen zu behaupten suchte (Die Kulturbedingungen der christlichen Dogmen, Lpz. 1901, S. 50ff.). Ähnlich Nietzsche, dem Romantiker in so vielem, ruft schon der geniale Dichter, Maler, Mystiker und Prophet William Blake: »The Chains of Reason and Morality are the cunning of weak and tame minds, which have power to restrain Energy« (Marriage of Heaven and Hell, ed. Stokes, Lond. 1911, p. 64). Nicht anders lautet eine öfters ausgesprochene altindische Anschauung: »Sanft und freundlich sind die Menschen gewöhnlich aus Schwäche« (açakti). MBh. III, 297, 36. »Der Kraftlose zeigt sich gewöhnlich gütig; wer kein Geld hat, huldigt der Keuschheit; wer krank darniederliegt, hält zu den Göttern; ein altes Weib bricht seinem Gatten die Treue nicht«. So ein dem Cāṇakya zugeschriebener Spruch (Kreßler, Stimmen indischer Lebensklugheit, Lpz. 1907, XVII, 6, S. 193). Bissiger hat Wycherley das etwa so formuliert: »Die Alten geben den Jungen gute Morallehren, weil sie ihnen kein schlechtes Beispiel mehr geben können.« So lesen wir denn in MBh. XII, 259, 13: »Die Starken denken, daß das Sittengesetz (dharma) von den Schwachen auf die Bahn gebracht worden ist.« Ja, unmittelbar schon in Bṛihadāraṇyaka-Upanishad I, 4, 14 heißt es: »Der Schwache herrscht über den Starken durch den dharma als den König.« Und gerade der Schwache ist stärker als der Starke. Das führt MBh. XII, 91, 12–26 aus, wie nicht minder Juhani Aho in einem seiner Lastuja, freilich die zwei in recht verschiedener Art. Dem setzt freilich der alte Inder oft ähnliche Gedanken gegenüber, wie sie ein anderer Morgenländer ausgesprochen hat: »Wenn man den Egoismus die Moral der Starken, die Liebe die Moral der Schwachen nennt, so weiß man nicht, was menschliche Liebe ist, die diesen Namen verdient, da die wahre Liebe oft den allergrößten Mut und den opferwilligsten Geist erfordert und der Egoismus ein schwacher Sklave des eigenen inneren Tiers ist« (Kataro Oyāma, Der Geist des absoluten Schicksals, Weinfelden-Konstanz 1922, S. 139). Das sind treffende, aber freilich nüchterne Worte verglichen etwa mit jenem Hohenlied des Mitleids und der Liebe zu [60] allen Wesen: der Jātakamālā, oder mit dem überirdischen Schwung, der die Schilderung der mettā in Itivuttaka XXVII und sonst in buddhistischen Schriften beflügelt (s. auch Beckh, Buddhismus, in der Sammlung Göschen, bes. II. Teil 132ff.).
Warum nun aber diese Feindschaft Blakes, Nietzsches und anderer gegen die »Moral«? Weil sie die Kraft, d.h. die Leidenschaft, das volle, ganze Leben, die Poesie, die Kunst, das Große und Machtvolle ersticke.
No individual can keep these Laws, for they are death
To every energy of man, and forbid the springs of life.
Blake, Jerusalem, ed. Russell & Maclagan p. 40.
Und triumphbegeistert jubelt ebenderselbe:
That stony law I stamp to dust and scatter religion abroad
To the four winds as a torn book, and none shall gather the leaves ...
And to renew the fiery joy, and to burst the stony roof ...
For every thing that lives is holy, life delights in life;
Because the soul of sweet delight can never be defil'd.
(America, p. 8)
Die »feurige Energie«, die Blake verkündet, ist auch ein altindischer Gedanke, obschon dieser nicht gerade in der Weise unserer Romantiker auseinandergefaltet wird. Im Sanskrit heißt sie tejas, auch ūshman, pratāpa, utthāna, udyoga usw.) und wird oft verherrlicht. Es ist der Drang zum Großen, Machtvollen, Leuchtenden. Niemals ist der Psalm der feurigen Kraft herrlicher erklungen als im MBh. Seine wohl schönsten Strophen habe ich übersetzt im Weib im altind. Epos S. 342–346. Man vergleiche auch die Worte von der Fülle, vom Großen und der Weite, die ich im Vorwort (gegen Ende) anführe. Voll Ekel heißt es im MBh.: »Das Kleine ist das Unreine« (tad ucchishṭaṃ yad alpakam, XII, 134, 4).
Wer nun aber Großes will, muß grausam sein. »Nicht ohne daß man anderen in ihre empfindlichsten und tötlichen Stellen schneidet, nicht ohne daß man schreckliche Dinge tut, nicht ohne daß man tötet wie ein Fischer, gelangt man zu Glück und Herrlichkeit der Großen.« MBh. I, 140, 77. (Ebenso XII, 15, 14; hier aber mahatīṃ çriyam statt mahatāṃ çriyam). »Ohne zu töten, erlangt man nicht Ruhm, nicht Reichtum, nicht Nachkommenschaft« (XII, 15, 14). Nur wer den Menschen Furcht einflößt, wird geachtet, hören wir oft. Ja, nur den mordenden Göttern bringen die Menschen Verehrung dar, dem Rudra, dem Skanda (beides sind gespenstische, Leibes- und Seelenübel hervorrufende Wesen), dem Indra, dem Todesgott Yama usw., nicht aber den guten, milden, die keinem Wesen Böses zufügen, wie Brahma und Pūshan – der Götterdienst entspringt einzig aus der Furcht (XII, 15, 13–19). Timor fecit deos. So kommen wir also wieder zur Gewalt zurück.
[61] Worin aber besteht Größe? Der Inder antwortet mit andern: Darin daß du dein eigenes Selbst groß machst. »Du hast immer nur das eigene Ich.« MBh. XII, 318, 104. Nur das eigene Selbst ist für das Selbst (d.h. für dich) Freund und Feind, Glück oder Unglück, Lehrer und Führer zu Heil und zu Verderben, Leere oder tiefes Genügen (z.B. MBh. I, 73, 7; V, 34, 64f.; VI, 27, 17f. 30, 5f.; IX, 2, 35; XII, 9, 20; 175, 30; XIII, 6, 27; 164; XIV, 26, 1ff.; Weib im altind. Epos 71, Anm.). Das hohe Sehnsuchtsziel ist darum: antaḥsukho, 'ntarārāmas, tathāntarjyotir eva saḥ »er trägt im eigenen Innern das Glück, im eigenen Innern die Lust, im eigenen Innern das Licht« (VI, 29, 24; vgl. XII, 326, 32). Das wahre und einzige Königreich ist das selbstgezügelte Ich. MBh, XIV, 31, 12. Dutzende ähnlicher Aussprüche ließen sich zusammentragen aus der altind. Lit. Aber da befinden wir uns in der Welt der Philosophen. Anders werden diese Gedanken im praktischen Leben und im Arthaç. gewendet. Rücksichtslos nach eigenem Glück und Glanz streben soll der Krieger und der Fürst, d.h. Macht soll er erwerben (MBh. II, 55 und sonst häufig). Wer ihm im Weg steht, den soll er vernichten; nur so gelangt er zu Sicherheit und Größe (Çiçup. II, 30–35). Laß ja den Feind, der in deine Gewalt geraten ist, nicht mit dem Leben entschlüpfen; nur vom toten Feind droht keine Gefahr. MBh. V, 38, 29. Selbst die, die einem am nächsten stehen, wie Vater, Sohn usw. muß man da vertilgen. MBh. I, 140, 52; XII, 140, 47 usw. Warum auch nicht? Liebe gibts ja doch nicht; immer liegt Eigennutz zugrunde. MBh. XII, 138, 110; 139–146; 151–154 und oft. Es gibt keinen Freund und keinen Feind von Geburt und Natur (jātitaḥ); wer einem schadet, ist Feind, wer einem nützt, Freund. MBh. II, 55, 10, 15; XII, 138, 13 und wer weiß wie oft sonst, besonders in den Nītischriften. Alles soll namentlich der Fürst drangeben, Weib, Kind usw. um sich selber zu retten. MBh. V, 37, 18; XII, 138, 178ff., 193ff.; Manu VII, 192f.; Pañcat. ed. Bühler III, 85f. und anderwärts.
Und doch: nicht um seiner selbst willen, sondern zum Besten der großen Sache, die sich in ihm darstellt, soll der Fürst so handeln. Denn der König ist der verkörperte dharma und der verkörperte Staatsgedanke; alles was in seinem Reich geschieht, ist von ihm abhängig und für alles ist er verantwortlich. Dieser besonders von Frazer im Golden Bough und danach von Fritz Graebner, Weltbild der Primitiven S. 113–115 behandelte Völkergedanke wird uns in der altindischen Lit. ungezählte Male vor Augen geführt, manchmal in höchst lebendiger Weise. An weitaus erster Stelle steht der rājadharma, d.h. des Fürsten Wesen, Wirken und Pflichterfüllung; denn auf ihm beruht alles. S. z.B. MBh. XII, 56, 1–7; 63, 24ff.; 64, 5–7; 19f.; 65, 1–7. In XII, 64, 25f. heißt es: »Wie in der Fußspur des Elefanten die von allen andern Wesen kommenden Fußspuren verschwinden (d.h. aufgehen, von der viel größeren Elefantenfußspur umfangen und aufgenommen werden, vgl. z.B. XII, 245, 18f.), so sollst du wissen, daß in allen Umständen alle dharma im Königsdharma aufgehen. Auf ein kleines Gebiet erstrecken sich und [62] kleine Folgen haben die andern dharma, wie die dharmakundigen Leute sagen. Auf ein großes Gebiet erstreckt sich und viele Gestalten des Segens birgt der Herrscherdharma, nicht aber der andere (der gewöhnliche), erklären die Edeln.« Alles irdische und himmlische Heil wohnt in dem Hause der vier Kasten und der vier āçrama oder Lebensabschnitte. Sein fester Boden ist das Eigentumsrecht, sein schirmendes Dach die Ehe. Ohne den Herrn und Hüter, d.h. ohne den Fürsten, sänke dieses Gebäude unfehlbar in Trümmer. So die häufige Lehre. Daher auch die überragende Bedeutung des Artha-oder Nītiçāstra. Die anderen Lehrbücher sind eigentlich nutzlos oder künden doch nur einen Teil dessen, was zu tun ist. Auf das Nītiçāstra aber sind alle Wesen angewiesen. Das führt einleuchtend Çukran. I, 8–24 aus.
Nun kann aber der König seiner Pflicht, groß zu sein und Großes zu wirken, nicht nach dem vom Kronprinzen Friedrich in seinem Antimachiavell dargestellten und vom Preußenkönig in der Wirklichkeit dann so gar nicht befolgten Ideal des friedlichen Reichspflegers genügen. Hammer oder Amboß sein, selber zerschlagen oder zerschlagen werden ist die einzige Alternative auch in des Inders Augen. Yogayātrā I, 8. Gegenstand des Arthaçāstra ist der vijigīshu oder Eroberer. Aber auch das Dharmaçāstra, d.h. das spätere, von der Nīti durchsetzte, redet nicht anders, ja noch stärker, wie schon erwähnt worden ist. Es ist des Fürsten Pflicht, fremde Reiche zu zermalmen (MBh. V, 34, 30). Der König, der nicht erobert, lädt Sünde (kilbisha) auf sich. MBh. XII, 8, 35. Ja, Yājñ. I, 341 sagt: »Gerade so groß wie das Verdienst aus der Hut des eigenen Reiches ist das aus der Unterjochung eines fremden.« Vgl. Gaut. X, 14; Manu VII, 103–110; X, 119. Außerdem: groß werden kann der Fürst und sein Reich nur auf Kosten anderer: »The increase of any state must be upon the foreigner«. Diesem Ausspruch Francis Bacons hält edel und wahrhaft groß der flammende Idealist Blake entgegen: »The increase of a state, as of man, is from internal improvement and intellectual acquirement. Man is not improved by the hurt of another« (Gilchrist, Life of William Blake p. 315 f.). Aber der Inder hält es mit dem Großkanzler von England; rājñām arthaç cāmitrapīḍanāt »Der Könige Vorteil fließt aus der Unterdrückung der Feinde« (Nār. XVIII, 17). Feind aber ist der andere, der Fremde (para, the foreigner), vor allem der Nachbar. Zornvoll sagt ein Spruch, der dem Uçanas zugeschrieben wird: »Zweie verschlingt die Erde, wie die Schlange die Tiere, die in ihre Höhle kommen: den König, der nicht andere bekriegt, und den Brahmanen der nicht hinauszieht in die Fremde (als Bettelasket)«. MBh. II, 55, 14; 57, 3; XII, 23, 15; = Çukran. IV, 7, 603f.
Der König und sein Wesen ist also über das Kleine hinausgehoben ins Große, und so braucht es uns nicht zu wundern, wenn Manu, Nār. XVIII, die Çukran. (I, 139ff.), das Nītiv. (114, 1ff.), das MBh. und andere Schriften ihm auch überschwengliche Würde zuerkennen. Dabei aber gilt es als selbstverständlich, [63] daß einen untauglichen oder gottlosen Fürsten sein Volk den Feinden preisgibt oder selber umbringt oder doch verjagt. So befiehlt MBh. XIII, 61, 32f. sogar: Den schlechten König sollen die Untertanen totschlagen wie einen tollen Hund. Ehrfurcht gebührt eben seinem Amt, nicht seiner Person. An sich ist er nur wie der gewöhnliche Stein. Stellt man diesen aber als Götterbild auf, dann wird er zum Gott (Nītiv. 25, 2–6), wobei wir wohl auch in Hinsicht auf den König den Gedanken von Çukran. IV, 320–322 mit herbeiziehen dürfen: Des Verehrenden Seelenglut verleiht dem Götterbild seine Kraft. Ja, die Çukran. ruft sogar: »Ist denn ein Hund, den man in den königlichen Wagen gesetzt hat, nicht einem König gleich!« (I, 745). Und in II, 587: »Das vom Fürsten (und seinen Beamten) unterzeichnete Schriftstück ist König. Nicht aber ist der König (an sich) König.« Darum »soll der Mann, der einem Lande mit schlechtem Fürsten Rettung, Heil, Ordnung schafft und die Menschen fördert, (statt des Nutzlosen) auf den Thron gesetzt werden und sei er auch ein Çūdra. Denn was sollen Zugstiere, die nicht ziehen, was eine Kuh, die keine Milch gibt! Was hilft einem eine Gattin, die unfruchtbar ist, was hilft einem ein König, der nicht schützt und bewahrt! Wie ein Elefant aus Holz, wie eine Gazelle aus Leder, wie ein unnützer Hämmling (vielleicht zu lesen: yathā hi nāryāḥ shaṇḍho vā ›wie ein Hämmling bei einer Frau‹), wie ein Alkalifeld, so ist ein Brahmane, der nicht studiert, und ein König, der nicht die Hut übt; und wie eine Wolke, die nicht regnet, sind diese alle unnütz« MBh. XII, 78, 37ff. Dreie dürfen und sollen nämlich den Thron besteigen: der Mann von königlichem Geschlecht oder der Held oder der Feldherr, wie MBh. I, 136, 35 lehrt. Ja, sogar die Parāçarasmṛiti nimmt in I, 68 eine öfters ausgesprochene indische Lehre gastlich auf: Das Königtum soll nicht forterben, sondern die Erde auf Grund von Heldentaten (also: der Tüchtigkeit) genossen werden – das bekannte Bild: die Erde ist die Frau, und die Frau ist für den tüchtigen Mann da.
Wenn nun der König anderen Sterblichen an Leib und Geist ganz gleichsteht, wie wunderbar, daß er andere beherrscht und für sie von alles überragender Wichtigkeit ist! Woher kommt das? Mit dieser Frage beschäftigt sich z.B. MBh. XII, 59, 5ff. und antwortet: Zuerst gab es keinen König. Da rissen furchtbare Zustände ein. Die Götter baten Brahma um Abhilfe. Er verfaßte ein riesenmäßiges Buch über den trivarga, vor allem über die Staatswissenschaft, denn als guter alter Inder wußte er: »Am Anfang war das Wort«, d.h. die Theorie, und Vishṇu sorgte dafür, daß ein König in die Welt kām. Die heiligen Ṛishi riefen den Idealherrscher Pṛithu hervor, der im Besitz der ganzen rājanīti oder Staatsweisheit war und nach ihr regierte. Dadurch verwandelte er die Erde in ein Paradies. Vishṇu selber ging in den Fürsten ein; »die Götter und die Könige sind gleich« (Çl. 144) In 89 20ff stellt Yudhishṭhira dieselbe Frage, und Bhīshmas Antwort ist eine lange Unterweisung in der richtigen Art, das Herrscheramt zu führen. Das gleiche Rätsel[64] wird in MBh. K XIII, 212 in dem Sinne gelöst: Ohne den Fürsten wäre das Erdenleben keinen Augenblick möglich. Also wiederum: der König ist nur durch sein hohes Amt, genauer: durch dessen gute Verwaltung über andere Menschen erhöht. Nur insofern gilt die häufige Anschauung: Der König ist nicht ein Mensch, sondern eine Gottheit (MBh. XII, 68, 40; 65, 23–31 usw.) und: er ist alle Götter in einer Person (Wilsons Vishṇupur. I, 180).
Ist der König nun Gott, Schöpfer, Schicksal, Führer zum Himmel oder zur Hölle und dergleichen mehr, wie wir oft lesen, dann versteht es sich von selber, daß von ihm gefordert wird, er müsse nun auch sein ganzes Wesen so bilden, veredeln, vervollkommnen, daß er seiner übermenschlichen Aufgabe genügen könne. Kauṭ., das MBh. und andere Schriften haben darüber viel zu sagen. Darum soll er auch tagtäglich durch seine Spione erforschen, ob die Untertanen seinen Wandel loben oder tadeln, und ängstlich darauf bedacht sein, danach Versäumnisse, Fehler und Laster abzustellen. MBh. XII, 89, 13ff.; Çukran. I, 260ff. Vgl. I, 702. Aber nicht etwa ein Heiliger soll gezüchtet werden; mit Zorn und Hohn wird im MBh. immer wieder Yudhishṭhira übergossen, weil er wie ein Muni sein und handeln möchte; nicht austilgen soll der Fürst die Leidenschaft, sondern sie veredeln, in richtige Bahnen leiten. »Liebe und Zorn sind die stärksten aller Weine, und sie sollen gebraucht werden, wie es sich gebührt, die Liebe in der Hut und Pflege der Untertanen, der Zorn gegen die Scharen der Feinde.« Çukran. I, 232f.
Des Königs Wirken ist eben in sich schon tapas, Askese. Und wenn nach Manu XI, 236 alle Berufsarbeit tapas, also höchste Frömmigkeit, ist (wozu man mein »Weib« S. 115, Anm. 3 vergleiche, sowie Berthold von Regensburg ed. Pfeiffer und Strobl, Bd. I, S. 503, 25ff.), in wie viel großartigeren Sinne muß dann dies vom Fürsten gelten! »Wie der Sonnengott mit seinen Strahlen alle Wesen bewahrt und fördert (pāti) und ebenso sie verzehrt, so sei auch du dem Sonnengotte gleich (indem du deine eigenen Untertanen schirmst und alle Feinde vertilgst (vgl. z.B. MBh. XII, 56, 40; Çukran. II, 566f). Und das, o König, ist die altheilige Askese (tapaḥ purāṇam), haben wir gehört, das die Hut und Pflege der Erde, die unsere Vorväter verrichtet haben.« Also spricht Bhīshma zu Yudhishṭhira in MBh. III, 33, 91. Vgl. z.B. XII, 97, 14. So versteigt sich denn Nār. XVIII, 25 zu dem Satze: »Durch Askese vom König erkauft sind die Untertanen. Darum ist der Fürst ihr Herr.« Tapas aber besteht vor allem in der Bändigung der Seele und der Sinne und in der Sammlung aller Kräfte auf ein Ziel. MBh. III, 211, 18; 260, 25; XII, 250, 3f. usw. Die Herrschaft über sich selber als die Vorbedingung der Herrschaft über andere, die Besiegung und Meisterung des eigenen Ichs mit seinen Leidenschaften, seiner Faulheit, Gemeinheit usw. als Voraussetzung der Überwindung anderer wird darum immer und immer wieder vom Fürsten verlangt. Er muß Herr sein über sich selbst, aber Sklave (dāsa) seiner Untertanen und mit der größten Selbstverleugnung und mit unerschöpflicher Liebe ihr Glück schaffen. MBh. [65] XII, 81, 5–27; Çukran. IV, 2, 259. Mit der Liebe und Selbstvergessenheit eines Vaters muß er sie hegen und pflegen, wie oft eingeschärft wird. Ajasrakarman »nie endende Arbeit« ist des Fürsten Leben nach Agnipur. CCXXV, 1. Kein Wunder da, daß die im 3. Jhdt. n. Chr. ins Chinesische übersetzte buddhistische Erzählung von »Schluck und Jau«, die in vielen Formen vorhanden ist, den armen wieder entfürsteten Schuster zum Schluß ausrufen läßt: »Wenn es schon so schrecklich ist, nur im Traum König zu sein, wie muß es erst in der Wirklichkeit sein!« Chavannes, Cinq cents contes No. 87. »Nur wer sich ganz verleugnet, ist wert zu herrschen und kann herrschen,« schreibt Goethe in seinem Tagebuch 13. Mai 1780. Besser könnte man die altindische Lehre nicht ausdrücken. Nicht was ihm persönlich lieb oder leid ist, darf er je in Betracht ziehen (Kauṭ. Übers. 48, 20–23; MBh. XII, 56, 44–46; 90, 3; Çukran. IV, 4, 412 usw.); nicht zusammengeschlossen in holder Gemeinsamkeit wie andere, nein, als völlig Einsamer muß er seinen Lebensberuf (dharma) erfüllen. MBh. XII, 65, 4f. »Der König ist die Herrschermacht als Mensch (verkörpert),« sagt Manu VII, 17.
Also der Staatsgedanke oder eher: der Gedanke der Verwirklichung höchster Menschheitsziele ist im König hinausgestellt über die gewöhnlichen oder alltäglichen engen Einzelgedanken, und als Träger und Verleiblicher dieses Gedankens steht der Fürst erhaben über andere Sterbliche da und erhaben über ihre Moral. »Des Königs Wandel ist anders als der Wandel der gewöhnlichen Menschen (lokavṛitta). Deshalb soll der Fürst unverrückt allzeit auf seinen eigenen (d.h. auf seines Staates) Vorteil sehen.« MBh. II, 55, 6. Kampf und Besiegung anderer ist sein Gesetz; vor nichts darf er zurückschrecken. II, 55. Königsherrschaft und Tugendübung stehen einander feindlich gegenüber. XII, 37, 4. Der Reine, Edle, kann nicht König sein. XII, 75, 18f. Vgl. z.B. III, 33, 58. Könige, die siegen und erobern wollen, gehen mit Recht und mit Unrecht um (je nachdem es ihre Interessen erfordern). XII, 80, 5. Ist einer bloß dem dharma ergeben, so verlassen ihn dharma und artha wie Lust und Schmerz den Toten. III, 33, 22. Nein, der Fürst muß die kleine, enge Tugend (alpaka dharma) fahren lassen, und die große und hohe zuwege bringen. III, 33, 67, 52. Vgl. das kshudraṃ hṛidayadaurbalyam von Bhagavadgītā II, 3. Tut er das nicht, will er das gewöhnliche Sittengesetz beobachten, dann lädt er damit Sünde auf sich. »Nicht von einem gewöhnlichen Menschen (manushyaprakṛiti) kann ein Reich beherrscht werden. Denn was bei den Menschen Laster und Fehle sind, gerade das sind die Vorzüge eines Erdenherrn,« heißt es in Tantrākhyāyikā I, 184. Und Çukran. V, 70–73 erklärt: »Es gibt keinen Frevel, der sich nicht in Recht und Tugend verwandelte infolge der Verschiedenheit der Umstände und der Person, die dabei wirken (tadāçrayabhedataḥ). Die von der Menge gepriesene Tugend ist einzig ein niedriges Laster (natürlich vor allem: wenn vom Fürsten zur Unzeit geübt).« Schmerzlich groß ist die Pflicht des Königs: »Sei die Tat nun grausam, [66] sei sie sündig oder gar ein den Kastenverlust verursachendes Verbrechen, jederzeit muß der Regent sie vollbringen, wenn sie zum Besten der Kasten gereicht. Das ist das ewige Wesens- und Sittengesetz für die, denen die Last des Königseins anvertraut ist.« Rām. I, 25, 17–19. Kein Wunder da, daß nach der Anschauung der Buddhisten, denen auch die Staatswissenschaft Anstoß erregt, die Könige in die Hölle fahren müssen (s. z.B. Jāt. Nr. 538 = Schiefner Petersb. Bull. Bd. XXII, Sp. 123ff.; Chavannes, Cinq cents contes I, 136ff.). Aber auch MBh. XIII, 84, 2 sagt: »Die Fürstenherrschaft ist immer Ungemach und Schmerz, schwer zu führen für solche, die nicht veredelter Seele (akṛitātman) sind, und meistenteils geht es den Königen übel in jener Welt.« Ja, nach XVII, 3, 35ff. kommen alle Herrscher in die Hölle. Vgl. VI, 106, 38; XII, 271, 43 (Könige zu Tausenden braten in der Hölle; sie ist der Fürsten Ort nach dem Tode).
Wenn also dem König geboten wird, um jeden Preis seine eigene Person und sein Leben zu erhalten, so geschieht das, weil ohne ihn das Reich in so große Gefahr und ins Verderben käme, und wenn an ihn die Anweisung ergeht, sein Land zu melken wie eine Kuh, auszusaugen wie eine Biene die Blüte, der Früchte zu berauben wie einen Baum u. dgl. mehr, ja den Blutegel zu spielen, so soll er das natürlich tun, um das Reich im richtigen Zustand zu bewahren und es zu mehren, namentlich auch durch Eroberung.
In besonders schaudervolle Tiefen führt da natürlicherweise der āpaddharma, d.h. das Gesetz für den König in Not, vor allem in Not durch den Feind. »In der Not ist Recht, was sonst Unrecht ist; und Unrecht, was sonst Recht und sittliches Gebot heißt. Nicht ist der Fürst mit Leib und Seele (ātmanā) einem Sittengesetz zu eigen gegeben, sei es nun seines oder das eines anderen. Mit allen nur möglichen Mitteln reiße er sich selber heraus. Das ist die feste Norm. Nur so leidet nicht das ihm geltende Lebens- und Sittengesetz.« MBh. XII, 130, 16–18. Einen muschelblanken Wandel kann niemand führen, der leben will, am wenigsten der Fürst. Wie der König sein Reich, schützen und retten muß, so auch das Reich den König in Not. Und da Schwund des Schatzes und des Heeres gleichbedeutend ist mit schwerster Schädigung, ja Untergang des Reiches, da die allwichtige Macht des Fürsten und somit die Erfüllung seines Sittengesetzes und damit auch die Erfüllung des Sittengesetzes aller von seinem Schatze abhängt, so darf er nicht vor Schädigung der Einzelnen zurückschrecken bei der Sammlung eines Schatzes. MBh. XII, 130 und sonst. Denn es gibt kein Lebens- und Sittengesetz, das der Staatsordnung gleichkäme (na ca rājyasamo dharmaḥ kaçcid asti, XII, 130, 47). Freilich Yudhishṭhira meint: »Dem König, besonders dem in der Not, wird ein ungeheuer grausames und trugvolles Handeln vorgeschrieben. Wie unterscheidet er sich da vom Räuber (dasyu)?« Und in der Tat wird dem vom Feinde in schwere Bedrängnis gebrachten Fürsten in Nītischriften ausdrücklich die dasyuvṛitti das Räuberleben anbefohlen, nur soll er dabei in des Widersachers [67] Land weder gewisses, frommen Zwecken, dienendes Gut, noch Frauen und Mädchen antasten lassen. Çukran. I, 766–774. Und, Bhīshma entgegnet: »Dem König sind vielerlei Einsichten und Absichten nötig, nicht einen Zweig hat der dharma des Fürsten, widersprüchliche Zweiheit ist sein Gesetz, je nach den Umständen Wahrheit oder Lüge, Schonung oder Verletzung usw. Sein dharma stammt auch nicht aus den überlieferten heiligen Schriften (āgama), sondern ist von Weisen (kavayaḥ) zusammengetragen.« XII, 142, 1ff. Vgl. 130, 16. In 142, 11ff. kommt dann ein zorniger Bannfluch gegen die Schwächlinge mit unreifem Verstande (apakvamatayo maṇḍāḥ), die die grausame und listenvolle Staatswissenschaft (arthavidyā) nicht gelten lassen wollen, sondern behaupten, sie vertrage sich nicht mit der Moral; das sind Feinde des dharma.
Diese Anschauung ergibt sich um so natürlicher, als der dharma nicht nur nach Kaste, Beruf, Gegend, Genossenschaft, Sippe usw. verschieden ist, wie oft gesagt wird, sondern auch dharma und adharma überhaupt ganz unsichere Dinge sind. Undurchdringlich und verworren wie Waldesdickicht (gahana) ist der dharma, hören wir häufig. Schwierig und vieltorig ist er (Baudh. I, 1, 13), schwierig und vielgestaltig (MBh. III, 209, 2ff.), fein und unerkennbar (Rām. IV, 18, 15; MBh. II, 37, 3; VII, 198, 44; VIII, 70, 28; 69, 31; XII, 132, 20; Çukran. III, 79f.; V, 73 u. sonst oft). Der Spur der Schlange gleicht die Spur des dharma. MBh. XII, 132, 20. Wie flüchtiges Wild entschlüpft er dem Verfolger (Manu VIII, 44; Nār. Einl. I,.38; Baudh. I, 1, 14; vgl. Hārīta ed. Jolly S. 4, 2 usw.). Oft sieht dharma wie adharma aus; Ort und Zeit entscheiden (MBh. XII, 33, 32). Vor allem aber entscheidet die Person und der Stand. Das Wesens-und Sittengesetz des Kshattriya ist Grausamkeit und Heimtücke. Denn es heißt Kampf und Eroberung. Pflicht und hohes Verdienst ist ihm das Töten. MBh. II, 55, 6ff.; XV, 10, 10ff.; 13, 5ff. und sonst oft. Töten, erobern, genießen soll er. MBh. XII, 11–17 und viele andere Stellen. Und zwar Machtübung, Gewalt »nach des Herzens Wunsch und Willen« (kāmataḥ) ist des Kriegersdharma. MBh. 1, 175, 19f.; 29; II, 23, 4 usw. Die eigene Pflicht, die eigene Lebensnorm aber sogar mangelhaft befolgen, ist besser als fremder vollkommen genügen. Das wissen wir längst aus der Bhagavadgītā (MBh. VI, 27, 35; 42, 47), die überhaupt mehrfache Entsprechungen zu dem hier Dargelegten enthält. Töricht wäre es da, prüfen zu wollen, ob Töten und Gewalttat recht oder unrecht sei. MBh. II, 55, 7. Vielzweigig ist der dharma und geteilt der Menschen Anschauung über Recht und Unrecht. Was ist nun Wurzel und Wipfel des wahren dharma? Die Selbstbändigung (MBh. XII, 160, 5ff.). Ähnlich anderwärts. Auf dasselbe kommt im Grunde MBh. XII, 109, 4–22 hinaus: Dharma ist, was Leben und Glück der Menschen fördert, wenn es auch sonst als adharma gelten sollte. So sind z.B. die Smṛiti und das MBh. einig darüber, daß man eine Lüge sagen müsse, wo die Wahrheit einem Menschen das Leben kosten würde, gar nicht davon zu reden, daß der in[68] Mord Begriffene getötet werden darf, ja soll. Einen Menschen umbringen, der anderen Verderben bringt, ist die wahre Nichtverletzung (ahiṃsā), wird oft eingeschärft. Da nun für den wahren Fürsten die Selbstbändigüng die erste Vorbedingung bildet, er also aus dieser Grundtugend heraus handelt, und da er von Amts wegen dazu da ist, der Menschen Bestes zu wirken, so darf er in keine Moralzwangsjacke gesteckt werden und gilt besonders für ihn der āpaddharma: In Not ist alles erlaubt.
Schon gegen die eigenen Untertanen muß der Fürst nötigenfalls Grausamkeit üben, vor allem aber Hinterlist, muß durch und durch Heuchler sein: »Ein blühender Baum sei er, aber ohne Frucht; und trägt er Frucht, dann schwer zu ersteigen; nicht reif, aber reif erscheinend. Nie aber lasse er sich niederbrechen«. MBh. V, 34, 24 = XII, 140, 31, vgl. I, 140, 68. Wer sich einerseits einen unbewachten Kirschbaum am Schulweg der Kinder vorstellt, andererseits dann einen Fürsten, über welchen Freund und Feind herfallen will, um etwas zu ergattern, der wird diesen Spruch begreifen. Wie ein vielfarbiger Pfau soll der König sein, bald diese, bald jene Gestalt zur Schau tragen. MBh. XII, 120, 4–6. Ähnlicher Bilder finden wir gar manche. Gegen den Feind soll da natürlich der Herrscher, besonders der von einem Stärkeren bedrängte oder vergewaltigte, die verschlagenste Heuchelei und Tücke üben, um ihn zu betrügen, zu schädigen und schließlich zu vernichten. Die loci classici im Epos sind XII, 103, 1–44 und vor allem I, 140 und XII, 140. Obwohl an der letzten dieser zwei Stellen Bhāradvāja als der Vortragende genannt wird, bezeichnet doch die Kapitelunterschrift diesen Sarga als »die Unterweisung des Kaṇika«, und dies mit Recht. Denn in I, 140 wird ausdrücklich Kaṇika, hier der Berater des Dhṛitarāshṭra, als der Verkünder dieses Fürstenevangeliums genannt. Dieser Kaṇika »der Kleine« erscheint im 93. Gegenstand des Kauṭ. unter dem vollen Namen Kaṇiṃka Bhāradvāja. Auch im Arthaç. vertritt Bhāradvāja öfters die allerrücksichtsloseste, üppig lebendigste Politikerweisheit, und in MBh. I, 140 und XII, 140, zwei sargas, die zum großen Tei identische oder doch fast identische Strophen darbieten, kredenzt uns dieser alte Lehrer den aller abgefeimtesten Einsud der Arglist und der – politischen Klugheit. Diese zwei Gesänge, die überhaupt kurz den wesentlichsten Unterricht für den König enthalten, gehören zu dem Vorzüglichsten, was wir über altindische Staatswissenschaft haben. In beiden heißt es bezeichnenderweise: »Durch irgendein Verfahren, sei es nun geschmeidig (mṛidu) oder schreckenshart (dāruṇa), reiße er sich heraus, wenn er in Not steckt. Ist er dann gut dazu imstand, dann übe er die (alltägliche) Tugend.« I, 140, 72 = XII, 140, 38. Vgl. z.B. XII, 141, 63, 65, 101. Leider fehlt der Raum, auch nur den wichtigsten Teil dieses Kaṇikopadeça wiederzugeben. Also nur eine kleine Kostprobe. »Lauterkeit ist nur ein Haken, um sich die Vorteile vor Augen zu bringen (d.h. man spiegle ehrliche und reine Gesinnung vor, um den anderen in Vertrauen einzuwiegen und ihn so in die Gewalt zu bekommen, wie ebenfalls [69] I, 140 und XII, 140, und zwar ganz besonders anschaulich, auseinandersetzt). Er neige damit den fruchttragenden Ast zu sich her und breche dann reife Frucht um reife Frucht. Um der Gewinnfrucht willen geschieht hier in der Welt alles Beginnen der Klugen. Er trage den Feind auf den Schultern, bis die günstige Zeit herangerollt ist. Dann aber, wenn die günstige Zeit wiedergekommen ist, zerschmettre er ihn wie einen irdenen Krug am Stein. (Vgl. Çukran. III, 469f.) Nicht laufen lassen soll er den Widersacher, wenn dieser auch viel klägliche Reden zu führen beginnt ... Hat er die Absicht, auf einen anderen loszuschlagen, dann rede er freundliche, liebe Worte, und auch mitten im Losschlagen noch; und hat er ihm den Kopf abgehauen, dann hebe er ein großes Bedauern an und klage und weine.« I, 140, 21., 56; XII, 140, 17f., 54. Und wozu das alles? Damit er selber, d.h. sein Staat, herrlich werde. Denn XII, 140, 19 fährt mitten in Sätzen solcher Art fort: »Und sei es auch nur einen Augenblick, er lohe wie ein Feuerband aus Tindukaholz. Nicht aber rauche der Mann lange fort ohne flammenden Strahl gleich einem Hülsenfeuer.« Vgl. »Weib« 343. Daneben halte man z.B. das 5. und das 6. Kap. des 1. Buchs bei Kauṭ. mit ihren übermenschlichen Forderungen an den König, Forderungen, wie sie in ganz gleicher Art, nur öfters noch großartiger und idealistischer in fast unübersehbarer Fülle durch die Arthaçāstra-Lit. und das übrige Schrifttum hin ausgeschüttet werden. Da sehen wir: wie bei Nietzsche, der den Borgianismus predigt, steht eine starke, strenge, hochfliegende Sittlichkeit eigener Art hinter den Satanismen.
Gaṇ.'s Hauptrechtfertigung der hinterlistigen und grausamen Maßnahmen des Arthaç. dagegen läßt sich zusammenfassen in den Satz des Machiavell: »Es ist daher unvermeidlich, daß ein Mann, der überall moralisch handeln will, unter so vielerlei anderen, die nicht so handeln, früher oder später zugrunde gehen muß« (Ausg. von Floerke in der deutschen Bibliothek, Berlin S. 74). Zwar fehlt auch dieser Gesichtspunkt keineswegs bei den alten Indern, und das endlos wiederholte Wort an den Fürsten lautet: »Traue niemand!« Der andere ist ja immer schlecht, der betreffende selbst ein Engel. Man muß also selbstverständlich dem anderen zuvorkommen, die Ausübung seiner Tücke verhindern. Wenn dies, ohne daß man »Schändlichkeiten« begeht, nicht möglich ist, so trägt man selber dabei natürlich gar keine Schuld. Diese fällt einzig auf den Gegner, der »zuerst anfing« – mit seinen schlimmen Gedanken. Nur müssen wir darauf sehen, daß das eigene Volk und am besten die ganze Welt es mit Händen greift, der Bösewicht habe auch verruchte Taten an uns, ja an allen begangen. Nichts läßt sich leichter machen. Denn der Mensch ist ein moralisches Tier, er hat ein edles Bedürfnis nach gutem Gewissen, nach dem Bewußtsein, daß er selber sittlich rein und der andere grundverdorben sei. Köstlich hat Mark Twain diese Grundregel des Politikers, die besonders wichtig ist, wenn er dem anderen sein Land rauben oder ihn abmurksen will, zusammengefaßt: »In statesmanship get the formalities right, never mind [70] about the moralities« (Following the Equator Ch. XXVII & XXIX, Pudd'nhead Wilson's New Calendar). Herrlich weitgebracht haben es darin besonders schon die Pāṇḍava im MBh. Welch lammfromme Reden führen die: »Wir möchten ja gern in brüderlicher Liebe und Friedenseintracht leben. Aber unsere Vettern, die Kaurava, sind halt wahre Scheusale. Man denke nur: das Reich haben sie uns abgewürfelt und wollen nicht einmal die Hälfte wieder herausgeben.« Dabei gesteht Yudhishṭhira selbst, er habe im Spiel dem Duryodhana Reich und Herrschaft rauben wollen. Gewonnen aber habe dieser Schurke (III, 34, 3). Außerdem sagt auch das MBh.: »Im Spiel Erworbenes ist ehrlicher Gewinn« (XIII, 73, 18). Daß aber alle Spieler betrügen wollen, wußten schon die alten »Lehrer«. S. Kauṭ., Übers. 309, 21–25.
Auch diese Heuchelei, die übrigens zum Teil unwillkürlich genannt werden muß, da der Lügner sich meistens selber in den Glauben, wenn auch nicht an die von ihm erfundenen einzelnen Schandtaten, so doch an die höllische Gesinnung der Gegner hineinredet, gehört also zum Handwerk, in Altindien wie anderwärts. Weit bedeutsamer ist die mehrmals schon gestreifte Scheidung der Einzelgebiete. In drei große Lebensbetätigungen zerfällt dem Inder das menschliche Dasein, dreierlei Zweck und Aufgabe ist dem Einzelnen gesetzt, nämlich der bekannte trivarga: dharma, das sittlich und religiös Gute, artha, der weltliche Vorteil und kāma, der Genuß, vor allem der der Geschlechtsliebe. Allen dreien muß ihr Recht geschehen, ein schlechter Gesell ist, wer auch nur eins von ihnen verkürzt, und so häufig wir auch von hochgestimmten Jünglingen hören, die der Welt den Rücken wenden und hinausziehen in die Hauslosigkeit des Bettelmönchs, so widerspricht das doch der brahmanischen Heilsordnung und wird bekämpft, und zwar aus leicht begreiflichen Ursachen. Ketzer sind es ja auch, die jene öfters mächtig anschwellenden Bewegungen hervorrufen, und so wurde später von der überaus anpassungsfähigen brahmanischen Orthodoxie als viertes Lebensziel der moksha oder die Erlösung vom Dasein angeleimt, rein äußerlich; denn dieser Vierte im Bunde gehört ja in eine ganz andere Gesellschaft, hat auch nie Sitz und Stimme gehabt unter den Dreien. Recht bequem und zum guten Teil natürlich für den Dutzendmenschen macht sich auch die Verteilung: am Morgen des Tages soll dem dharma, dann dem artha und am Abend oder in der Nacht dem kāma geopfert werden, und andererseits: in der Jugend der Liebe, im Mannesalter dem weltlichen Gewinn, am Lebensabend der Frömmigkeit. Und zwar verordnet Bṛishasp.-Nīti I, 89–90: »Bis zum 25. Jahre pflege er, aber ohne lasterhaften Hang, die Kunst des Vergnügens. Von da ab die Erwerbung des artha.« Man muß nämlich avyasanāt statt vyasanāt lesen – der häufige Fehler mit dem a priv. Obendrein befiehlt Bṛihasp.-Nīti III, 63: Mattakāçinyaḥ sevyāḥ »mit wollustüppigen Weibern soll er der Liebe pflegen«. Jedes Glied des trivarga nun untersteht nur seinem eigenen Gesetz, seinen eigenen Wesens- und Verwirklichungsbedingungen: »Immer und in jeder Weise gilt zur Zeit der Erlangung [71] weltlichen Vorteils nur die materialistische oder Diesseitslehre (laukāyatikaṃ çāstram), bei der Beschaffung des Genusses der Liebe nur die Lehre der Wollustjünger (kāpālika), beim dharma die der Religiosen (ārhata)13.« So Bṛih. Nīti II, 5–7. Danach ist wenigstens in der Sache richtig, wenn wir in II, 44–48 das hier unstatthafte Sūtra 44 als Einschiebsel ansehen oder doch ohne Rücksicht auf dieses die folgenden Sätze so wiedergeben: »Der dharma richtet sich nur nach dem dharma (d.h. empfängt Gesetz und Regel nur aus der Lehre vom dharma), der artha nach dem artha, der kāma nach dem kāma.« Wir haben drei Felder nebeneinander, jedes mit besonderer Bodenfrucht. Wie töricht wäre z.B. der Mann, der Wiesenland behackte wie Kartoffeln, oder der Getreide mitten im Blühen abmähen wollte, weil dies für Gras zu Heu das Richtige ist! Genau so unsinnig aber handelt der »Schwachkopf mit unreifem Verstande«, der in der Politik die Vorschriften der Moral anwenden will. Suum cuique! Eine Vermengung, ein saṃkara, ist da ähnlich der Vermischung der Kasten und ihrer besonderen Obliegenheiten, also ähnlich dem scheußlichsten aller Verbrecher. Der indische Denker ist ein Scholastiker: distinguendum est, heißt es auch bei ihm immer wieder. In dieser getrennten Buchführung an und für sich unterscheidet er sich zwar nicht vom Menschen überhaupt; denn im Leben machen wir es meist nicht anders, und natürlich ist sogar im Denken diese schematische Auseinanderreißung auch dem Inder keineswegs immer geglückt. Bestehen aber bleibt dennoch: muß der altindische Staatsmann seine politische Notdurft verrichten, dann begibt er sich in eine ganz besondere Kammer. A.-Ç. steht an der Türe angeschrieben. Diese schließt er hinter sich zu und besorgt seine Teufelsandacht mit geistigem Anstand und seelischer Sauberkeit. Bei uns aber macht der Politiker das in Räumen ab, die für ganz andere Dinge da sind, am allerliebsten in der Kirche, im Allerheiligsten, vor dem Altar des Höchsten. Den Leib zwar verbirgt er hinter einem Vorhang, damit man nicht sehe, was er eigentlich treibt, der Kopf aber schaut hervor mit dem salbungtriefenden Gesichte. Die Augen verdreht er in fromm-demütiger Unschuld und – zitternder Angst vor Entdeckung seiner Ungehörigkeit, genau wie ein Hund, der auf der Straße im großen Geschäft begriffen ist. Es muß eben unbedingt so aussehen, als ob er die alleredelste Tat der Menschenliebe und Selbstverleugnung vollziehe zum Besten der anderen und der »höchsten Güter der Menschheit«. Zur Übertönung verräterischen Geräusches oder Geruchs winselt er dabei die ergreifendsten Psalmen der Gottseligkeit, unter gewissen Verhältnissen stark untermischt mit sittlichem Wutgeheul gegen den »andern«, während sein Bruder [72] aus der vierbeinigen Welt wenigstens schweigt. Wann werden wir zur Stubenreinheit des Denkens gelangen? Bei uns ist alles: Moral, Religion und Politik, Menschheitsdusel, Empfindsamkeit, Deklamation von Kulturmission und den »edelsten Horten der Menschheit«, Gier, Haß, Tücke, Roheit und Gemeinheit zusammengeschwemmt in einen einzigen Riesenstrom der Heuchelei, der in ranzig lebertranigen Schleichwindungen durch den weltenweiten Sumpf der abgrundtiefen Verlogenheit dahinpestet. Und die Völker der Erde mit ihren sogenannten geistigen Führern an der Spitze werfen sich platt auf den schleimigen Boden und trinken und trinken von diesem Gemisch aus Leichenwürmerfett und Schlangengeifer, trinken sich den Bauch prall. Und sie erbrechen sich nicht! Das größte Elend unserer Zeit kommt vom Mangel an geistiger Ehrlichkeit, an intellectual honesty. Diese Erscheinung hat sich zusammengefaßt in einer musterbildlichen Gestalt: in Woodrow Wilson. Die einzige Rettung in dem verflossenen Weltkrieg wäre ein »Frieden ohne Sieg« gewesen, wie ihn der Wortplätscherer selber so laut verkündet hatte. Jeder hätte sich um die Frucht all der furchtbaren Opfer betrogen, aber wohl um eine wirksame Lehre reicher gesehen – a sadder and a wiser man, wenigstens auf einige Zeit, wäre jeder nach der unvergleichlich dummen Schauernacht des Völkerwahnsinns erwacht. Wilson, nur er, hat das alles vereitelt und den »Frieden« von Versailles mit all seinem unausschöpfbaren Fluch möglich gemacht, und als dieser geschlossen war, mußte auch ein Blinder sehen:
Die Maske ist dir vom Gesicht gerissen,
Als ein entlarvter Greuel stehst du da,
Giftmeuchler du am großen Weltgewissen.
Weil das Gebot des Golds an dich geschah,
Versank die Menschheit tief in Bitternissen
Solch eines Leides, wie sie nimmer sah.
Ein Trümmerfeld die Erd', wo Geistespflüge
Den Acker einst für Gottessaat bestellt.
Eins lebt, geht groß durchs Gräbergrau'n: die Lüge,
Sie einzig Gott nun. Horch, ihr Lachen gellt.
Siehst ihr Gesicht du? Es trägt deine Züge,
Der du zum Kreuzestod verrietst die Welt.
Scheusale tobten viel im Menschenlande.
Sie schlugen Wunden nur. Die heilten zu.
Du hast die Seel' ermordet. Deine Schande
Spukt ewig durch des Weltenfriedens Ruh,
Der nun die Erde füllt von Rand zu Rande,
Des Leichenfriedens, den ihr brachtest du14.
[73] Daß Wilson in bedeutendem Maße auch ein Selbstbetrüger war, gerade dies stempelt ihn um so mehr zum Muster des Mangels an intellectual honesty.
Gegenüber dieser geistigen Unehrlichkeit nun habe ich Kauṭ.'s Arthaçāstra als ein reinigendes, erfrischendes, stärkendes Bad empfunden. Will man es nur als Schlammbad gelten lassen, auch gut. Sodann ist hier ein sehr umfangreicher, unendlich vielgestaltiger Stoff mit beträchtlichem Geschick zu einem im Großen und Ganzen wohlgegliederten, gutgestalteten Gebilde ausgearbeitet, alles, wie der Leib in seinen Teilen von der Seele, beherrscht von dem einen Grundgedanken der größtmöglichen Vervollkommnung des Staatsorganismus, und auch in vielen Einzelheiten offenbart sich dem aufmerksamen Blick fein Durchdachtes. Eines Gegenstandes geistige Bewältigung in wirkungsvoller Form nun ist Kunst. So gewährt das Arthaç. auch einen künstlerischen Genuß.
Über vieles werden manche lächeln. Hüten wir uns aber vor dem überheblichen Lächeln. Im wesentlichen anders geht es bei uns auch nicht zu. Kleinstaatlich eng muß uns Kauṭ.'s Welt vorkommen. Aber ob sich nun fast alle Millionenvölker der Erde zusammenrotten, um ein einziges Volk zu zerschmettern, oder ob mehrere indische Rājas einen samavāya bilden, um einen anderen Kleinfürsten zu erwürgen, bleibt sich gleich. Der erste Brudermord kehrt immer und immer wieder: Abels Feuer brannte heller und höher als Kains Feuer. Unschuldig war auch Abel nicht, allzu wortüppig fühlte und gebarte er sich als der Edlere, Bessere, und auch sein Feuer, wie jedes Feuer, war zehrendes Feuer. Aus gemordetem Leben kam seine gewaltigere und lichtere Flamme. Aber nicht dies brachte den andern in Wut.
Kain nun schlug seinen Bruder tot, weil er immerhin bös aufgeregt war. Er empfing ein Zeichen auf seine Stirn, das ihn für alle Zeiten kenntlich machte. Welches Brandmal aber wäre blutrot und nachtschwarz genug für die Chemie unserer Tage, die sich dazu verkauft hat, die Millionen ihrer Mitmenschen wie Ratten im Loch zu vergiften! Und wem verkauft? Jener Spottgeburt aus wahnwitziger Gier und unsagbarer Gemeinheit, aus schakalhafter Furcht und abgründiger Dummheit, dem heutigen Geld- und Militärstaat. Die Wangen brennen einem vor Scham, wo eine solche feile Überdirne auch Wissenschaft genannt wird, ja als die Hauptwissenschaft der Gegenwart [74] und der Zukunft gilt. Und dann: daß der Mensch durch die Lüfte ziehen könne wie ein freier Vogel, war der hochfliegendste Traum der Jahrtausende. Der Traum hat sich nun erfüllt, aber dank der Giftgase unausdenkbar gräßlicher erfüllt als die zu Überirdischem verzückte Sehnsucht eines romantischen Jünglings, der seine erste Liebesnacht in einem Matrosenbordell hat und sich dabei eine geist- und körpermordende Krankheit holt15 Ja, wir haben es weit gebracht in der Zivilisation, und so wird diese bald die letzten Reste unserer Kultur buchstäblich in ein totes Meer verwandeln. Zivilisation ist nämlich die Vervollkommnung der Mittel, mir selber das Leben so behaglich und meinem Mitmenschen so unbehaglich zu machen wie möglich. Bei Kauṭ. sind die zahlreichen Vergifter der Feinde verachtetes Geschmeiß, arme Teufel, die auf diese Art einen Lebensunterhalt erschnappen müssen. Wie viel fortgeschrittener unser Staat, dem sich Männer in den höchsten Ehrenstellen zu dem unsäglich viel gemeineren Menscheninsektenvertilgerwerk des heutigen Gaskrieges herdenweise anbieten! Ebenso viel bequemer hat es unser Staat mit der Seelenvergiftung der Massen. Was könnte sich da mit der Presse [75] unserer Tage vergleichen! Adler, Löwen, Bären haben bezeichnender Weise die Staaten bisher als Wappentiere gehabt. Jetzt sind eigentlich nur noch zwei wirklich verwendbar: die indische Kobra und das amerikanische Stinktier. Auf wen eines dieser letztgenannten Geschöpfe seinen Saft entleert, der muß, wenigstens nach dem Volksglauben, die Kleider auf lange Zeit in die Erde verscharren. Ein Volk aber, über das sich die Flut einer heutigen »patriotischen Propaganda« ergossen hat, müßte sich selber auf schier ewige Zeiten begraben – bis zum Himmel hinauf stinkt es, so daß Gottvater und die heiligen Engel sich die Nase zuhalten und bloß der Herr Jesus, der ja auch an jenem faulenden Hund der Legende etwas Schönes entdeckte und der die Wirksamkeit »patriotischer Propaganda« am eigenen Leib erfahren hat, schmerzlich liebevoll hinunterschaut auf den armen Besudelten und – den in seinen Augen noch mehr besudelten Besudler. Und weit allmächtiger als Gott ist dieser Erfindergeist für die »heilige Sache«. Jehova brauchte einen Erdenkloß, auch nur einen Menschen zu machen. Hier werden im Handumdrehen Millionen um Millionen unerhörter Menschenwesen ins Dasein gesetzt, alle aus nichts. Ein Ebenbild seiner selbst wollte der himmlische Schöpfer machen. Ihm ist das völlig mißlungen. Wie anders dieser irdische Schöpfer, dieser Geist der »patriotischen Propaganda«!
Und dabei ist auch dieser Übergewaltige der ohnmächtige Sklave von ein paar vielleicht klapperdürren alten Männlein, die hinter der Szene den Faden ziehen, und dann tanzen Volk und Heer mit den hochmögenden Politikern und Generalen an der Spitze gehorsam den Fingern dieser Herren von der Hochfinanz. Unsere Kriege haben im Grunde nur noch »ökonomische Ursachen«. Und doch wäre der Rohstofftrog groß genug für alle; noch viel größer aber ist die Gier der stärksten Tiere, die sich breit und dick der ganzen Länge nach in ihn hineinstellen und die anderen weghalten. Wo bleibt die Gottheit mit dem Knüttel für die geräumigen Ohren? Helfen könnte nur der Mensch, wenn er sich auf seinen wirklichen Vorteil besönne16. Dazu vermöchte ihm, richtig genutzt, auch Kauṭ. zu dienen. Wunderlich genug mutet dieser scholastische, praktische Pedant uns oft an. Aber hätten auch nur die deutschen Diplomaten einige seiner Sätze befolgt, so wäre der jüngste Weltkrieg doch wohl nicht ausgebrochen.
Freilich wer da sehen will, was es fruchtet, wenn St. Antonius den Fischen predigt, der betrachte Böcklins Bild. Der Heilige redet, die Fische aber grinsen oder machen fromme Augen, und dabei verschlingen sie einer den anderen – matsyanyāya! Immer und immer wieder behalten die alten Inder Recht, wenn sie so eindringlich und anschaulich auseinandersetzen, nur die Furcht [76] vor dem daṇḍa, vor der Gewalt, habe Macht über die Menschen, und wenn sie einzig und allein den Gewaltstaat anerkennen, keinen Vernunftstaat, gar nicht zu reden vom Bruderstaat und dergleichen mehr, also jenen Staat, der Gewalt gegen die eigenen Untertanen und gegen alle Draußenstehenden übt – wenn er kann.
Ja, wenn er kann. Kann er nicht offene Macht brauchen, dann muß er die versteckte anwenden. Sie heißt im Indischen prajñā- oder mantraçakti »die Kraft der Klugheit« oder »Die Kraft der geheimen Anschläge«. Und diese Macht ist weit wirksamer als die der Faust, wie der Inder immer wieder sagt. »Hat er einem Klugen ein Leid zugefügt, dann atme er nicht leicht in dem Gedanken: ›Ich bin ihm weit entrückt‹. Lang sind die Arme des Klugen, und mit ihnen verletzt er, wenn er verletzt worden ist.« MBh. V, 38, 8 Vgl. XII, 203, 10ff. »Wie das Feuer in dürrem Gras läuft die Klugheit des Klugen dahin.« MBh. XII, 157, 11. »Die Pfeile des Bogenschützen verfehlen einen Gegenstand, obwohl er ihnen vor Augen ist. Eine Sache, die den Augen entzogen ist, bringen die Klugen trefflich zuwege.« Nītiv. 121, 2–3. Viele ähnliche Sprüche ließen sich anreihen. Ich nenne nur noch Tantrākhy. III, 122f.; Pañcatantra (ed. Bühler) III 179; Kauṭ. Übers. 587, 8–10; Çukran. III, 564ff. Krieg gilt der ganzen politischen Lit. der Inder als das schlechteste Mittel, und lieber als Gewalt soll der König sogar gegen die eigenen Untertanen Schmeichelworte, Bestechung und Veruneinigung üben, außer wo es sich um nichtige arme Teufel handelt, vor allem aber, die geheime Abmurksung ihm mißliebiger oder dem Staats- und Bürgerwesen schädlicher Menschen. Diese Regierung durch Meuchelmord nimmt ja bei Kauṭ. einen breiten Raum ein, und er hat sogar ein recht reiches Vokabular für das, was der Großmogul des Fascismus unserer Tage als »rendere la vita difficile« seinen Untergebenen sogar telegraphisch anbefiehlt (s. z.B. The Nation, New York, March 31, 1926, S. 228f.).
Woher nun dieses abscheuliche Bild heimtückischer Abschlachtung? Vieles Erbärmliche gibt es auf Erden. Das Erbärmlichste aber ist ein Politiker unter uns – wie der Zauberlehrling Goethes kann er wohl die Unheilsgeister hervorrufen, nicht aber sie wieder zur Ruhe bannen. Ihm gleich steht aber ein altindischer König. Kauṭ., Seite um Seite, das MBh. und andere altindische Schriften, sogar Zauberhandbücher wie das Kauçikas. in XVI, 27–33, erhärten es, daß der altindische Fürst sehr geringe Macht besaß, daß er lächerlich schwach war. Und dies dürfen wir nicht vergessen, wenn wir Kauṭ. verstehen wollen.
»Grausam ist der Zorn.« So die Lehrer.
»Grausamer ist die Furcht.« So Bhāradvāja. »Denn der Zorn verraucht.«
»Wird der Gegenstand der Furcht beseitigt, dann vergeht die Furcht und damit die Grausamkeit.« So Piçuna. »Am grausamsten ist die Liebe (kāma). Drum sind auch die Frauen so grausam. Denn für sie gibt es nur die Liebe und deshalb auch den Haß.«
[77] »Nein,« also Kauṭilya. »Denn da müßten ja die Frauen stärker lieben als die Männer. Und das ist doch längst nicht der Fall. Am allergrausamsten ist die Schwäche. Liebe, Furcht und Haß sind nur Erzeugnisse (vikāra) der Schwäche. Am grausamsten ist der Schwache. Und darum sind die Frauen so grausam und die Fürsten.« (Kaut., Arthaç. in einem bisher noch nicht aufgefundenen MS.).
Sodann: aus der dunkelsten Knechtschaft wird die lichteste Freiheitsbegeisterung geboren, und der flammendste Apostel der Natur, Rousseau, war in seinem Wesen der unnatürlichste Kulturmensch. So trinkt denn auch der Mensch aus dem herben Kelch seiner Schwäche den verzücktesten Rausch der Macht. »Die Apostel der Gewalt waren fast immer feine und schwächliche Leute ... Mit ihrer theoretischen Gewalttätigkeit nahmen sie Rache an ihrer eigenen Schwäche.« Romain Rolland, Johann Christoph III, Frankf. 1918, S. 226. Der überaus zartbesaitete Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche sieht das Ideal in Cesare Borgia, einem vielfach widerlichen Greuelmenschen, und in Napoleon, diesem teils übermenschlichen, teils untermenschlichen Ungeheuer. Schon der Inder an sich, obwohl in alten Zeiten weit kraftvoller, als wir ihn uns gewöhnlich vorstellen, schwelgt oft frauenhaft in Kraft- und Machtträumen, und es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß die herrlichsten altindischen Dithyramben von männlicher Tat gerade Frauen in den Mund gelegt werden. Da begreift man es, wenn der Durst nach Machtbetätigung – ob nun Macht des Arms oder der listigen Klugheit, läuft auf dasselbe hinaus – gerade in den altindischen Fürstenspiegeln manchmal zu wahren Schwelgereien der raffinierten Ausklügelung führt. Die Mutter war da die Schwäche des Fürsten; und der Vater: der Machthunger der Brahmanen, denen wir wohl das Arthaçāstra verdanken, lebte anders gestaltet in seinem Kinde fort.
Und dennoch hat der beständig von außen bedrohte und gegen seine eigenen Leute so kraftlose König die heilige Pflicht, allmächtig zu sein, gilt er als der eine Gott, von dem alles, rein alles Gute und alles, rein alles Böse in seinem Reiche kommt, und wird ihm eingeschärft: »Zum Besten des Schwachen ist die Kraft (bala, d.h. die Macht des Kshattriya und des Königs) von Gott geschaffen worden. Das Schwache aber ist ein großes Wesen, auf dem alles ruht. Das Auge des Schwachen, des Heiligen und der Schlange ist unwiderstehlich. Gib Acht, o König, daß nicht dich samt deinen Anverwandten die Augen der Schwachen mit ihrem Feuer verzehren! Denn nicht wächst irgend etwas neu empor in einem Geschlecht, das von dem Schwachen verbrannt worden ist; bis auf die Wurzel verbrennen sie. Besser und stärker als die Kraft und als alle überkräftige Kraft ist die Schwäche. Nicht umsonst fallen die Tränen derer, denen Unrecht geschehen ist, zur Erde; sie vernichten noch die Söhne und die Enkel. Wenn die fleißigen Bauern betteln gehen müssen, weil des Königs Leute schlecht gegen die handeln, so kommt auch über ihn das Verderben.[78]
Es wächst ein großer Baum, wird immer größer,
Und vielen Wesen gibt er eine Zuflucht.
Doch wird gefällt und wird verbrannt der Hohe,
Dann sind sie ohne Zuflucht, ohne Wohnung.«
(MBh. XII, 91, 12–26; vgl. Rām. VI, 111, 67). Man lese dazu z.B. Kauṭ. Gegenstand 130–132. Und nicht nur Bedrückung seiner eigenen Untertanen muß er beseitigen, sondern auch solche fremder Untertanen durch den eigenen Herrscher. »Einen im Sumpf versunkenen Elefanten kann nur ein starker Elefant her ausziehen. So vermag auch einen Fürsten, der unrichtig regiert (nītibhrashṭa), nur ein anderer Fürst herauszureißen. Die Könige, die der Tugend (dharma) und der Staatsweisheit ermangeln und zugleich schwach sind (NB.!), sollen immer von einem mit trefflicher Tugend und Macht ausgestatteten Herrscher wie Diebe und Räuber bestraft werden.« Çukran. IV, 7, 830–35; 845f.; Vgl. IV, 1, 125–128.
Will also dieser im Grunde so Schwache seiner übermenschlichen, ja übergöttlichen Aufgabe gerecht werden, so muß er zunächst die Höhen vollkommener Selbstveredlung erklimmen, wie wir gesehen haben. Versteigt sich doch die Çukran. sogar zu der Schlußfolgerung: »Wenn der König wäre, wie er sein sollte, wäre es ganz unnötig zu strafen; denn wie der Fürst, so die Untertanen im Guten und im Schlimmen (ein hundertmal vorkommender Gedanke). Im goldenen Zeitalter gab es keine Gewalt noch Strafe; alle waren sowieso vollkommen, weil eben die Könige vollkommen waren. Nur weil jetzt die Fürsten schlecht sind, sind es auch die Untertanen. Mithin dürfen sie die Untertanen nicht strafen« (IV, 1, 112 ff.)17. Aber wir stehen jetzt in dem grundverdorbenen Kalizeitalter. Da kann auch der edelste Fürst nicht etwa wie ein buddhistischer Heiliger dadurch, daß er die wilden Tiere in Menschengestalt mit der mystisch unwiderstehlichen Macht seiner Seelenschönheit durchstrahlt, sie in fromme Lämmer verwandeln. Nein, wie wir gehört haben, er muß sowohl den Donnerkeil des Indra, wie die heimlich [79] kriechenden Todesschlangen des Çiva aussenden. Denn »selten ist der Reine« (durlabho hi çucir janaḥ, MBh. XII, 15, 34). Selten, ja. Aber dennoch vorhanden ist sie hier und dort einmal in der Welt, die Reinheit des Herzens und des Geistes. Es gibt eine unendlich höhere Reinlichkeit und Richtigkeit des Denkens als die, die ich als Gegensatz gegen den Brauch unserer Politiker an Kauṭ. gerühmt habe. Auch diese hat Altindien gefunden, wie sie, anders gewendet, unmittelbarer, Jesus von Nazareth gefunden hat. Sie ist sogar einmal, vor Jahrtausenden schon, als jugendlich begeisterte Bewegung durch die besten Geister der Gangeslande dahingebraust, frühlinghaft, Leben weckend, das nie Mehr sterben wird. Sie faßt sich zusammen in dem größten Wort, das je von menschenlippen erklang, in dem Tat tvam asi von Chāndogya-Up. VI, 8, 7ff. Käme der Gedanke, daß wir, ich und alle anderen, nur das eine Ewige sind, daß also jeder in jedem anderen nur sich selber schädigt oder fördert, auf Erden zur Herrschaft, dann, nur dann wäre auch Kauṭ., aber samt all seinen dahingegangenen, heutigen und noch kommenden Politikerbrüdern, einzig und allein eine geschichtliche Merkwürdigkeit.
Inzwischen aber ist sogar auf nur annähernde Umgestaltung dieser Art nicht die geringste Aussicht, und so geht er weiter, dieser Samsāra menschlichen Wahnwitzes und Elends, der Kreislauf, wo das Böse immer neues Böses, die Dummheit immer neue Dummheit erzeugt, wo Gewalt immer neue Gewalt hervorruft, wo der eine Politiker immer den anderen betrügt, einesteils um dem Betrogenwerden zuvorzukommen, andererseits um heimzuzahlen, und wo dabei der wirkliche, der schließliche Erfolg doch der ist, daß der Preller sich selber oder besser: sein eigenes Volk geprellt hat. Da können wir wenigstens eins – wir können uns vor Überhebung hüten, uns bewußt bleiben, welch ein Gemächte wir sind. Schön sagt MBh. XII, 90, 27: »Wer den Hochmut überwindet, ist ein König, wer von ihm überwunden wird, ein Sklave.« Auch, dazu kann eine richtige Lektüre des Kauṭ. dienen. Als Propädeutik für das Studium aller Politiker füge man auch Bücher hinzu wie die »Insel der Pinguine« von Anatole France und Jonathan Swifts ewig jungen Gulliver, namentlich den vierten Teil.
1 Lassen wir Cāṇakya nur als Minister, nicht auch als Magister gelten, entgegen dem Verfasser des Mudrār., so hätte er auch da Genossen genug. Man sehe sich doch nur die Namensliste in Kauṭ. 251, 7ff. an und dazu Jacobi SBAW. 1911, S. 959, Anm. 2. Die da Genannten waren wenigstens zum Teil bloß Minister, soviel wir sehen können.
2 Franz Lachner wurde von einem der auf allen Wissenschaftsgebieten umherwuselnden Einflußschnüffler gefragt: »Sind Sie Mozartianer?« »Nein.« »Beethovenianer?« »Nein« usw. Endlich: »Was denn?« »Selber aner.«
3 Auch Kālidās Nāg sagt: La diplomatie (des Kauṭ.) n'est pas celle d'un empire centralisé, mais bien celle d'un feodalité très divisee ... e ne montre aucune trace de l'imperialisme centralisateur de Candragupta (Les théories diplom. de l'Inde ancienne et l'Arthaçāstra 1923, S. 115).
4 Seitdem ich die Anm. 5 auf S. 210 schrieb, bin ich auf eine andre Lösung der Schwierigkeit gestoßen, daß Kauṭ.s Pferd, freilich nur das der besten Art, 10 Fuß lang ist. Die Çukranīti erklärt bei der Maßangabe des Elefanten, der aṅgula betrage da 8 yava oder yavodara (IV, 7, 77). Ihr Elefant von der besten oder der Bhadrarasse ist danach 101/3 Fuß hoch, was den 101/2, Fuß des Kauṭ. recht gut entspricht. Beim Pferd aber, sagt Çukran. IV, 7, 85, umfasse der aṅgula nur 5 yavodara. So bekommen wir 4 Fuß 81/4 Zoll Höhe für ihre beste Pferderasse. Diese 43/4 Fuß kommen den 5 Fuß des Kauṭ. so ziemlich gleich. Legen wir nun bei Kauṭ.s Längenbestimmung, nicht wie sonst den gewöhnlichen, sondern den Pferdeaṅgula der Çukran. zugrunde, so erhalten, wir 61/4 Fuß Länge gegenüber 63/4 der Çukran., also etwas vollkommen Denkbares. Weiter aber dürfen wir den Pferdeaṅgula bei Kauṭ. nicht anwenden, denn sonst bekämen wir ein »bestes Pferd« von 3 Fuß und 11/2, Zoll Höhe, also einen regelrechten Dackel von einem Roß! Auch bei diesem Ausweg erscheint Kauṭ. wie ein Blinder, der von der Farbe redet. Ich kann mir da die Sache nur so denken: Er fand zwei sehr verschiedene Reihen von Maßangaben vor, beide vernünftig. Aber die eine rechnete mit dem gewöhnlichen aṅgula von 8 yava oder Gerstenkornbreiten, die andere mit dem »Pferdeaṅgula« von 5 yava. Kauṭ. nur greift die eine Angabe aus der einen Reihe heraus, die übrigen aus der anderen, ohne die Unterschiede zu beachten, wodurch die heilloseste Verwirrung zustande kommt. Aber auch in der Çukran. scheint nicht alles zu klappen. Auch sie gibt 20 aṅgula als Maß des Unterschenkels (jaṅghā) an, aber für die allergeringste ihrer vier Pferdearten, während bei Kauṭ. die beste dieses Maß aufweist. Halten wir Çukras aṅgula zu 5 yava fest, so ist dies »geringste« Pferd 50 aṅgula hoch, gegenüber den 80 des »besten« Pferdes bei Kauṭ., ein immerhin nicht übles Verhältnis. Rechnen wir aber die Höhe nach Kopflängen aus, also nach Çukras eigener Methode, dann erhalten wir 521/2 aṅgula. Der Leibesumfang des besten Pferdes ist nach der Çukran. 1/8 weniger als 77 gewöhnlicher aṅgula. Da haben wir den reinsten Sperber verglichen mit dem besten kauṭilyanischen Roß von 100 aṅgula um den Leib. Weit näher stünden einander die beiden, wenn wir auch hier für Kauṭ. den Pferdeaṅgula zu Hilfe riefen. Dann bekämen wir 621/2 gewöhnlicher aṅgula. Aber halten wir die von Oppert in seinen Parallelen zur Çukran. mitgeteilten Maße des Utpalaparimala daneben, dann sehen wir, daß wir so auf Irrwege gerieten. Denn dessen Maße sind 81, 77 und 70 aṅgula. Freilich die Çukran. hat vier Pferdegrößen, die zwei anderen haben nur drei. Lassen wir also die vierte oder »bestbeste« weg, so hätte das beste Pferd der Çukran. 693/8 aṅgula Leibesumfang, wodurch wir noch weiter abrücken von den übrigen und, wenn ich nicht sehr irre, von der Natur. Die Kopflänge beträgt bei Utpalaparimala 27, 25 und 22 aṅgula, gegenüber 25, 221/2, 20 und 171/2 aṅgula in der Çukran. Die Gesamtlängen sind bei Utpalaparimala 97, 90, 80, die Höhen 68, 64, 60. Fußen wir bei Kauṭ.'s Längenangabe auf dem Pferdeaṅgula, so erhalten wir für das »beste Roß«: Kauṭ. 100, Utpal. 97, Çukran. 1081/3. Schlimmer ist das Mißverhältnis bei der Höhe: Kauṭ. 80 aṅgula, Utp. 68, Çukr. 75. Lassen wir allerdings wieder die »bestbeste« Pferdeart des Çukra weg, dann gelangen wir bei ihm auch hier in die Nähe des Utpal., nämlich zu 90 aṅgula Länge und 67 Höhe.
Daß die größte Pferdeart nicht als normal galt, geht zunächst wohl daraus hervor, daß Çukran. IV, 7, 96ff. die geringste Kopflänge (nach der Kopflänge richten sich in ihr die anderen Bestimmungen) bei der Darstellung der Anatomie des Pferdes zugrunde legt, und zweitens aus der Beschreibung des Pferdezaumes: »Der Zaum besteht aus zwei nach oben gehenden Stücken, die sich an der Seite (des Kopfes) befinden und 12 aṅgula lang sind, zusammen mit zweien, die sich zwischen diesen zwei Seitenstücken befinden (also diese 2 Teile verbinden), sowie aus zwei sehr starken Stücken, die zum Hemmen und Zurückziehen (des Pferdes) dienen (d.h. aus dem Gebiß) und versehen sind mit zwei Ringen, um daran die Leitseile festzumachen« (IV, 7, 341ff.). In all diesem Wirrwarr Ordnung zu bringen, kann ich nicht unternehmen. Klar ist wohl zweierlei: 1. Die eben Genannten haben von der Sache wenig verstanden. 2. Es hat ein altes ausgedehntes Schrifttum gegeben, in welchem, wie eine Menge anderer Gegenstände aus dem Natur- und Wirtschaftsleben, so auch die Pferdekunde eingehend behandelt wurde. Als Urheber der Pferdewissenschaft wird bekanntlich Çālihotra genannt. Die Çukran. teilt in IV, 7, 85–143 so peinlich genaue Angaben über alle Körperteile des Rosses, besonders über deren Größe und den Abstand zwischen den einzelnen Teilen mit, daß wahrscheinlich ein europäisches Werk mit ähnlichen Messungen gar nicht existiert.
5 Wie man aus Bühlers Anm. zu M. VII, 167 sieht, hat die Verworrenheit des Zusammenstopplers den Kommentatoren denn auch weidlich Kopfzerbrechen gemacht. Gov. und Nār. verweisen mit Recht auf Kām. XI, 23. Die Schwierigkeit erklärt sich wohl so: M. fand die dort von Kām. gegebene richtige Begriffsbestimmung von dvaidhībhāva, die sich sogar noch in Pañcat. (ed. Bühler) III, 62 findet, oder eine ähnliche vor, wahrscheinlich auch die törichte, daß damit eine Teilung der Streitkräfte gemeint sei. Diese bietet auch Çukran. IV, 7, 473 dar, während 581ff. die vernünftigere bringt. Die zwei Auffassungen ergeben natürlich ein dvividha dvaidha. Aus kunterbunten Fetzchen knäuelt M. nun in blödsinnig gedankenloser Zusammenrafferart seinen Çloka zurecht. Ihn einigermaßen zu entlasten, müßte man schon annehmen, daß das überhaupt höchst sonderbare sthitiḥ Textverderbnis sei. Hätten wir etwa: »Doppelheit des Heeres oder des Herrschers« (also Teilung der Truppen und »Zwiespältigkeit« der Fürstenpolitik), dann wäre etwas geholfen. Aber mir fällt als nahestehend nur bhittiḥ ein, das ja eigentlich Spaltung bedeutet, aber nicht gewöhnlich. Oder dvaidhaṃ statt sthitiḥ?
6 Meine ganz unabhängig gewonnene Ansicht vom Charakter des rājadharma im MBh., sowie die Überzeugung, daß die beiden Volksepen schon ein ausgebildetes Arthaç. voraussetzen, finde ich, wenigstens im wesentlichen, wieder bei Hillebrandt. Er nennt auf S. 7 seiner Altind. Pol. die Reden des Bhīshma »eine Art Popularpolitik oder politische Propädeutik«, die sich »nicht in der strengen Form von Lehrbüchern, sondern in der leichteren Gestalt Montaignescher Essays ... kundgibt«, und auf S. 10 »ein großes Sammelwerk, das Bausteine aus verschiedenen Lehrbüchern zusammenträgt«. Mit Recht redet er ebenda von einer »Anhäufung von Quellenmaterial« und vom »kompilatorischen Charakter« der Darstellung. Auf S. 11ff. legt er dar, daß auch zur Zeit der Abfassung des Rām. eine ausgebildete politische Wissenschaft vorhanden gewesen sei. Vgl. auch 107. Der Unterschied zwischen ihm und mir besteht nur im Ausdruck. Viele werden seinen vorziehen.
Hier will ich noch einen immerhin merkwürdigen Fall angliedern. Ring- und Faustkämpfe beschreibt das MBh. in IV, 13, 18ff.; 22, 52ff.; 33, 18ff.; VII, 142 40ff. und tischt dabei eine große Anzahl technischer Ausdrücke auf, die da zeigen, daß auch diese »Wissenschaft« stark bearbeitet worden war. Gibts doch in diesem Kampf 32 karaṇa oder Verfahrensarten (VII, 142, 47). Ein Inventarstück ist dabei auch das Umherwirbeln. Es besteht offenbar hauptsächlich darin, daß der Stärkere den andern in die Luft emporhebt und rasend umherwirbelt; »hundertmal« oder »Hunderte von Malen« (çataguṇam) tut es Bhīma in IV, 13, 35f., »sehr lange« in IV, 22, 75. Dann oder dadurch tötet er den Gegner. In IV, 33, 48f. nun heißt es: Abhidrutya Suçarmaṇam keçapakshe parāmṛiçat / samudyamya tu roshāt taṃ nishpipesha mahītale. Padā mūrdhni mahābāhuḥ prāharad vilapishyataḥ /tasya jānuṃ dadau Bhīmo jaghne cainam aratninā. Nīl. führt dazu aus dem Nītiçāstra an: Vāmapāṇikacotpīdā, bhūmau nishpeshaṇam balāt, /mūrdhni pādapraharaṇaṃ, jānunodaramardanam, // Mālūrākārayā mushṭyā kapole ḍriḍhatāḍanam /, kaphoṇipāto 'py asakṛit, sarvatas talatāḍanam, /tālena yuddhe bhramaṇam māranaṃ smṛitam ashṭadhā. // Caturbhiḥ kshattriyaṃ hanyāt, pañcabhiḥ kshattriyādhamam, / shaḍbhir vaiçyaṃ, saptabhis tu çūdraṃ, saṃkaram ashṭabhir. »Mit der linken Hand am Haar (Packen und) Reißen (vgl. MBh. IV, 22, 52), mit Gewalt auf den Boden Schmettern, mit dem Fuß an den Kopf Stoßen, mit dem Knie den Bauch Zerquetschen, mit der einer Bilvafrucht gleichen Faust fest auf die Backe Schlagen, wiederholt mit dem Ellbogen auf ihn Niederstoßen, von allen Seiten mit der flachen Hand Schlagen, im Kampfe Umherwirbeln – so gilt für das Töten achterlei. Mit vieren (von diesen Bearbeitungen) töte man den Kshattriya, mit fünfen den Wicht von einem Kshattriya, mit sechsen den Vaiçya, mit siebenen den Çūdra, den Mischling mit achten.« Nīl. fügt hinzu, weil hier der Betr. als ein Wicht von einem Kshattriya behandelt werde, so schicke sich Bhīma an, ihn mit fünfen davon abzutun. Seine Glosse stimmt mit dem Text. Wo aber steht denn im Nītiçāstra diese Reihe von Versen? Ich kenne sie nur aus Çukran. IV, 7, 678–684. Die Verschiedenheiten sind gering; statt māraṇaṃ hat Çukra niyuddhaṃ, was nicht ursprünglich aussieht, und statt tālena finden wir jālena, vollends eine unsinnige Textgestalt. Denn auch das von mir nicht übersetzte tālena des Nīl. bleibt mir dunkel. Ich möchte vorläufig dafür tolena = tolanena »unter Emporhebung« einsetzen. Nun ist ja freilich möglich, daß Nīl.s uktaṃ nītiçāstre nicht stimmt. Wahrscheinlich aber hat er Recht, und da verdient immerhin Beachtung, daß wenigstens wir diese Strophen nur in der späten, freilich sehr viel altes Material verwertenden Çukran. haben. Aufgefallen ist es nun mit Recht, daß das MBh. zwar die meisten Vorgänger des Kauṭ., die dieser selbst aufführt, irgendwo nennt, nicht aber den Kauṭ. Aber das Epos rückt das Arthaç. geflissentlich in recht hohes Alter, unter die Götter und die Vorzeitweisen hinauf. Kauṭ. war da wohl zu jung, noch nicht salonfähig, unterschied sich unvorteilhaft sogar von Meistern der Nīti wie Kaṇiṃka Bhārādvāja, der zwar auch nicht in die erlauchte Reihe der Bearbeiter des Rājadharma gestellt wird, obwohl die MBh.-Dichter sehr wohl wußten, daß er in sie hineingehörte, immerhin jedoch als kluger Politiker erscheint, und zwar am Hofe des Dhṛitarāshṭra (MBh. I, 140, während XII, 140 ihn in frühere Zeit hinaufhebt). Dem Kauṭ. aber fehlte annoch das für die Kanonisation nötige Grabgerüchlein. Übrigens wird Kauṭ. als Nītischriftsteller überhaupt merkwürdig selten erwähnt. Soweit ich weiß, ist die Tantrākhyāyikā das älteste Werk, das ihn als Arthaçāstraverfasser namhaft macht. Siehe bes. Hertel in seiner Übers., I. Teil S. 141ff. Der Dichter dieses Buches hatte offenbar keinerlei Grund, ihn links liegen zu lassen. Aber sogar ein, so später Bearbeiter der politischen Wissenschaft wie Somadevasūri vermeidet sorgfältig, seinen großen Meister auch nur zu erwähnen. Denn wenn Hillebrandt auf S. 6 seiner Altind. Pol. sagt, er nenne den Kauṭ. oft, so ist das ein Irrtum. Wenigstens kommt in der Granthamālāausgabe des Nītiv. der Name Kauṭ. nie vor, wohl aber Cāṇakya als Mörder des Nanda (52, 4–5) und Vishṇugupta als der Mann, durch dessen Gnade Candragupta Kaiser ward (25, 5f.). Daß Somadeva aber unser Arthaç. ausgiebig benutzt und vielfach wörtlich ausgeschrieben hat, läß sich nicht bezweifeln, und dem längst von Jolly geführten Nachweis könnte noch gar manches hinzugefügt werden. Der Urheber des Nītiv. verpflanzt nun gewöhnlich Kauṭ.-Sätze ohne weitere Angabe in seinen Text. Nur zweimal deutet er an, daß er zitiere. In Kauṭ. 276, 9 lesen wir: Vṛiddhiç cittavikāriṇī. Derselbe Gedanke wird in 303, 13–14 wiederholt: Balaṃ hi cittaṃ vikavroti. Nītiv. 72, 3–4 nun erklärt: Riddhiç cittavikāriṇī niyoginām iti siddhānām ādeçah. Wir haben da einen jedenfalls absichtlich veränderten Ausspruch. Kauṭ. redet an beiden Stellen von Fürsten, nicht von Beamten. Dennoch hat Somadeva nicht selbstherrlich die Umkrempelung vorgenommen, sondern er fußt dabei auf Kauṭ. 68, 4: Açvasadharmāṇo hi manushyā niyuktāḥ karmasu vikurvate. Daß die genaueste Entsprechung bei Kauṭ. in Versen steht, folglich auch bei Kauṭ. entlehnt sein könnte, kommt also hier nicht in Betracht. Somadeva will einfach seinem Zitat ein würdevolleres Aussehen verleihen, dadurch, daß er behauptet, es sei »die Lehre der Meister.« In 87, 6ff. gibt er drei Prosazeilen des Kauṭ- wortwörtlich wieder, nämlich 42, 14–16, erklärt aber, so sprächen die »Kenner der richtigen Politik« (nayavid). Wozu diese Verleugnung des doch zu seiner Zeit längst berühmt Gewordenen und mit dem Staatskanzler Candraguptas Verselbigten? Verschiedene Lösungen des Rätsels lassen sich denken, nur nicht die, daß Somadeva Kauṭ.'s Werk nicht gekannt und benutzt, sondern eben eine Quelle des Kauṭ. ausgeschrieben habe. Arthaçastra anrüchig, trotzdem daß Cāṇakya als kluger Weltkenner einen großen Ruf genoß oder es galt doch vielen nicht für »voll«. Daher wohl, wenigstens zum Teil, auch die Vernachlässigung der das Buch anheimgefallen ist. Von einem Gott oder einem großen Mann der mythischen Vorzeit nimmt man manches hin, namentlich in Indien, was man einem eigentlichen Menschenkind verübelt. Wie dem aber auch sein möge, auch hier wird uns so vieles von undurchdringlichem Dunkel verhüllt, daß ein argumentum ex silentio doppelte Gefahr birgt.
7 Wegen des Zeitabstandes zwischen Kauṭ. und Vātsyāyana halte ich es lieber mit Jacobi, dessen bekannte Abhandlungen über Kauṭ. im großen und ganzen noch immer ihre Kraft behalten. In gar manchen Einzelheiten freilich stimmte ich nicht mit ihm überein. So ist das Argument aus Kauṭ.'s und Vāts.'s verschiedener Ansicht vom Fleischessen (SBAW S.841. Anm. 1) wenig stichhaltig. Auch hier hat die beliebte »Entwicklung« irre geführt. Die Stellung zur Fleischnahrung ist ebenfalls in bedeutendem Maß eine persönliche Sache betreffenden Schriftstellers. Weiteres auch über das Fleischverbot in meinem »Wesen dr altind. Rechtsschriften« usw. Auch dies z.B., daß Kauṭ. die Vaiçeshikaphilosophie nicht gekannt habe (SBAW. 1911 S. 963 Anm. 1), steht mir garnicht so fest. In den Anm. mache ich auf mehreres aufmerksam, was gerade auf das Gegenteil zu deuten scheint.
8 Sie bespricht eine ganze Anzahl Kauṭ. stellen aufs Neue, auch mehrere im »Nachtrag« nicht erwähnte, und wird ebenfalls im Verlage von Otto Harrassowitz erscheinen, wohl um Weihnachten des laufenden Jahres oder etwas später.
9 Wie gern die Inder Neues aufnehmen, beweist die Çukran. in geradezu lächerlicher Weise. Sie gibt ja vor, den Inhalt der uralten Çukranīti darzubieten, also ein Werk aus grauen Tagen zu sein. Dabei wartet sie uns mit recht vielen europäischen Errungenschaften, der Zivilisation auf. Einige erwähne ich in den Zusatzanmerk. Hier noch ein paar. Über die »Philosophie der Westländer« berichtet der Mann: »Die Lehre, nach der immer ein unsichtbarer Herrgott (īçvara) die Ursache der Welt ist und Recht (Gesetz, dharma) und Unrecht außerhalb der Offenbarung und der Tradition dastehen, die heißt Yāvanamata« (IV, 3, 123ff.; vgl. IV, 4, 74–77). Von dem einen Wagen, zu dem bei diesem Spätling das Wagenheer des Fürsten zusammengeschrumpft ist, falls er nur 100000 karsha Einkommen hat, hören wir: »Der König soll sich einen Wagen halten, der aus Stahl (lohasāra) gemacht ist, gut geht auf seinen Rädern, einen erhöhten Sitz hat (oder: erhöhte Sitze, mañcakāsana), auf einer Reihe vorzüglicher Schnellfedern ruht (svāndolāyatirūḍhas, so ist wohl statt svāndolāyitarūḍhas zu lesen), in der Mitte einen Sitz für den Wagenlenker enthält, in seinem Schoße Hieb- und Schußwaffen birgt, angenehm beschattet und herzentzückend, sowie auch mit guten Pferden bespannt ist« (IV, 7, 60–63). Aber trotz der Kanonen mit und ohne Granatgeschoß (ganz zu schweigen von den Steinschloßgewehren), über deren einzelne Teile, Pflege, Bedienung (Ladung) und Abfeuerung wir im IV, 7, 397–421 genau belehrt werden, taucht einem doch der Gedanke auf: »Vielleicht haben die alten Inder dennoch das Schießpulver gekannt, wie im Brockhaus zu lesen steht. Denn zu den bekannten Bestandteilen des Schießpulvers, kommen hinzu: Kohle und Saft von den oft genannten Pflanzen der alten Zauberbücher snuhī, arka und Schalottenzwiebel. Freilich können diese ja als altbewährte magische Mittel auch europäischen Rezepten der Neuzeit der größeren Sicherheit wegen hinzugefügt worden sein. Das Wort für Schießpulver (agnicūrṇa) finden wir zwar schon in Rām. VI, 4, 114. Aber da bedeutet es Funkenregen!«
10 Siehe I, 3, 13; I, 4, 15; I, 4, 24. In III, 6, 20 weist ity āha bhagavān Baudhāyanaḥ deutlich auf einen Spätern, vielleicht auf einen Zweiten, noch Spätern als das iti B. in III, 5, 8.
11 Wir können hier deutlich sehen, daß Manus Strophe aus der des MBh. entstanden, ist. Den Anstoß gab offenbar abhakshyan. Wahrscheinlich ist dieser Kondizional unregelmäßig aus bhaksh gebildet. Möglich wäre auch bhaj (vgl. bhakta Speise). Man änderte in das regelrechte apakshyan. Nun mußte aber auch jale zu çūle und matsyā zu matsyān werden.
12 Solche Gedanken finden sich oft bei den alten Indern, besonders im MBh., und kein Wunder, daß da gelehrt wird: Tu, was dir im Augenblick nützlich scheint. Köstlich-humoristisch und tief ergreifend heißt's in Mark Twains Huckleberry Finn: »What's the use you learning to do right when it's troublesome to do right and ain't no trouble to do wrong, and the wages is just the same? I was struck. I couldn't answer that. So I reckoned I wouldn't bother no more about it, but after this always do whichever came handiest at the time« (Chap. XVI; S. 122).
13 Ārhata und arhat kann sich hier nicht auf die Jaina beziehen, obschon der Interpolator, der Sutra 8–35 hineingekleistert hat, das meinte, sondern muß die Lehre und die Lehrer der Frömmigkeit, der Religion, bezeichnen, es sei denn, man nehme an, was nicht unwahrscheinlich ist, diese Sätze stammten aus dem Werke eines besonders eifrigen Jaina.
14 Wem diese Worte zu hart erscheinen, der lese z.B. John Kenneth Turner, Shall It Be Again? New York, B. W. Huebsch, 1922 und William Bayard Hale, The Story of a Style. Ebenda 1920. Auch James Kerney, The Political Education of Woodrow Wilson (Century Co. 1926) ist da aufschlußreich. Keins dieser Bücher konnte ich freilich kennen, als ich unmittelbar nach dem Friedensschluß die Verse schrieb. Sie hätten eigentlich in mein Büchlein sollen: Vom Kriege und von Frieden. Zeitgedichte eines Deutsch-Amerikaners. Dresden-Weinböhla, Verlag Aurora. Aber sie befriedigten mich in künstlerischer Hinsicht zu wenig. Übrigens weiß ich nicht, ob ich der Geburt nach ein Recht habe, ein Deutsch-Amerikaner zu heißen. Ich bin in Amerika als Sohn eines amerikanischen Bürgers geboren, und Deutsch-Amerikaner sind im Grunde doch nur eingewanderte Deutsche, wie mein Vater war, der im 18. Jahr nach Amerika kam. So habe ich denn auch nur von Amerikanern und Engländern über den Weltkrieg Geschriebenes gelesen und nichts aus deutscher Feder.
15 Die schnoddrigen Geistreicheleien und bewußt irreführenden dicta ex cathedra des Chemikerpapstes J. B. S. Haldane von der Humanität des Giftgaskrieges und der »lächerlichen, grausamen Sentimentalität« seiner Gegner, die begeisterte Aufnahme die sein Callinicus, A Defense of Chemical Warfare in Chemikerkreisen gefunden hat, der laut Zeitungsnachrichten vorigen Jahres von der ersten amerikanischen Chemikervereinigung gegen die internationale Giftgaskonferenz erhobene feierliche Protest und ähnliche von den Fachleuten gegen die »verbrecherische Dummheit der Laien« erlassenen Kundgebungen, und zwar alles im Angesicht und mit vollständiger Kenntnis einer geradezu fieberhaften, von den meisten unbeachteten, wie in unterirdischen Höllenräumen vor sich gehenden Massenerzeugung der verschiedenen immer teuflischer werdenden Mittel des Giftgaskrieges – all diese Dinge zeugen von einer Geistesverfassung, die einem halbwegs natürlich denkenden und empfindenden Menschen nur das tiefste Grauen einflößen kann. Aber kassandrahaft pathetisch warnt da z.B. der bekannte amerikanische Chemiker Gerald L. Wendt in einer Ruhmrede auf Haldanes Buch: »If the gifts of science come to a world unprepared and, unworthy, the present situation in chemical warfare (also die Nichtanerkennung dieser großen Segnung, die die Wissenschaft in den Giftgasen darbietet) will be but a prelude to major disasters.« (In The Nation, New York, Sept. 23, 1925, S. 336.) O Wahnwitz, dein Name ist Wissenschaftlerdünkel! Die altindischen Dichter schildern uns Dornröschenmittel, die ein ganzes Heer in sanften Schlaf versetzen. Kinder können den Kriegern die Waffen wegnehmen, und wenn die Schlaferquickten aufwachen, haben sie die Schlacht verloren! Aber für solche Mittel, für wirklich menschliche Mittel, bekäme der Chemiker keine Abnehmer, also weder Ruhm noch Geld! Sie widersprechen dem Begriff des Krieges. Dessen Zweck ist größtmögliche Vernichtung unter den Feinden. Je grausamer, je verheerender ein Kriegsmittel ist, desto besser. Gibt sich also ein Mann der Wissenschaft überhaupt zu solchen Diensten her, dann müßte er ja der wirrste Strudelkopf an Sentimentalität sein, wollte er wirklich humane »Giftgase« herstellen, und rührt einer der Herren in diese Frage die Humanität hinein, so macht er, während er doch die »Empfindelei« anderer verhöhnt, sich selbst gerade dadurch einer Rührseligkeit schlimmster Sorte schuldig, liefert er ein unsagbar ekelhaftes Beispiel jener schon genannten Unreinlichkeit im Denken.
16 Der Krieg ist der Vater der Dinge – gewesen. Als Saturn alt geworden war, sich überlebt hatte, verschlang er seine eigenen Kinder. Bezeichnend ist es, daß in unserer Zeit die Kriege nicht von der feurigen Jugend, sondern von verknöcherten Greisen gemacht werden.
17 Damit stimmt freilich sehr schlecht die anderwärts dem König anbefohlene harte Behandlung der Verbrecher. Siehe IV 1, 193–227. Hier aber scheint Buddhistisches eingedrungen zu sein. Haben wir doch in III, 13–15 sogar die zehn akusalakammapatha. Man muß da statt amithyādṛigviparyayam einsetzen: abhidhyādṛigviparyayam. So erhalten wir:
Hiṃsāsteyānyathākāmapaiçunyaṃ, parushānṛitam,
sambhinnālāpavyāpādam, abhidhyādṛigviparyayam
pāpakarmeti daçadhā kāyavāṅmānasais tyajet.
Auch wird die Todesstrafe einzig für Hochverrat zugelassen (221f.). Um so strenger mutet die lange Liste derer an, die der König verbannen, auf eine Insel oder eine Festung verbringen und an den Straßen arbeiten machen soll. Ist doch, von Kleidergecken, Ohrenbläsern, schlechten Ärzten usw. ganz zu schweigen, sogar die böse Schwiegermutter darunter (214).[80]
Buchempfehlung
Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.
56 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro