Der Unglücklichste

Eine begeisterte Ansprache an die[207] Symparanekrômenoi

Peroration in den Freitagsversammlungen
[207]

Wie bekannt, soll es irgendwo in England ein Grab geben, das sich weder durch ein großartiges Monument noch durch eine wehmütige Umgebung, sondern durch die kurze Inschrift – »Der Unglücklichste« auszeichnet. Man hat das Grab, so wird erzählt, geöffnet, aber in demselben keine Spur einer Leiche gefunden. Was ist nun wunderbarer: daß man keine Leiche fand, oder daß man das Grab öffnete? Seltsam genug, daß man sich die Zeit nahm, um nachzusehen, ob sich jemand darin fände. Wenn man auf einem Epitaphium einen Namen liest, so möchte man gern etwas aus dem Leben dessen erfahren, der dort ruht und ich verstehe es wohl, daß einer den Wunsch haben kann, zu ihm ins Grab zu steigen, um mit ihm zu sprechen. Aber diese Inschrift, in der That, ist sehr bedeutungsvoll! Der Titel eines Buches kann jemanden reizen, das Buch zu lesen; aber ein Buch kann auch wieder einen so gedankenreichen Titel haben, daß man schon aus diesem Grunde, selbst wenn das Thema noch so verlockend ist, das Buch nicht lesen mag. Wahrhaftig, diese Inschrift ist so bedeutungsvoll und erfüllt die Seele, je nachdem sie gestimmt ist, mit Angst und Schrecken, oder mit hoher Freude – vor allem bedeutungsvoll für den, der sich vielleicht schon heimlich mit dem Gedanken vertraut gemacht hat, er sei der Unglücklichste.

Aber vielleicht hat ein Mensch, dem diese tieferen Gefühle fremd waren, das Grab nur aus Neugierde geöffnet? Und siehe, das Grab war leer! Ist er vielleicht wiedererstanden, weil er auch im Grabe seine Ruhe fand, und wandert wieder in der Welt umher? Hat er seine Heimat verlassen und nur seine Adresse zurückgelassen? Oder ist er noch nicht gefunden, er, der Unglücklichste, den selbst die Eumeniden[209] nicht verfolgen, bis er die Thür des Tempels findet, sondern den die Leiden am Leben erhalten, mit dem die Sorgen bis zum Grabe gehen?

Sollte er noch nicht gefunden sein, liebe Symparanekrômenoi dann laßt uns als Kreuzfahrer eine Wanderung antreten, nicht nach jenem heiligen Grabe im glücklichen Osten, sondern nach dem schmerzensreichen Grabe im unglücklichen Westen. In jenem leeren Grabe wollen wir ihn, den Unglücklichsten, suchen, dessen gewiß, daß wir ihn finden werden; denn wie die Sehnsucht der Gläubigen nach dem heiligen Grabe geht, so zieht es die Unglücklichen nach Westen hin zu jenem leeren Grabe, und jeder ist von dem Gedanken erfüllt, es sei für ihn bestimmt.

Oder wäre eine solche Betrachtung unsrer unwürdig! Aber unsre Thätigkeit besteht ja gerade in Versuchen einer aphoristisch zufälligen Andacht; wir denken und reden nicht mir, sondern wir leben auch aphoristisch, leben aphorismenoi und segregati, wie Aphorismen im Leben, ohne Gemeinschaft mit den Menschen, fern von ihren Leiden und Freuden; wir sind ja nicht Freunde des unruhig bewegten Lebens, sondern einsame Vögel der stillen Nacht, wir versammeln uns nur hier und da und erbauen uns im Gedanken daran, daß das Leben so jammervoll, der Tag so lang ist und die Zeit kein Ende nehmen will; wir, teure Symparanekrômenoi, glauben ja nicht an das Glück des Thoren, wir glauben an nichts, denn allein an das Unglück.

Seht doch, wie sie in unzähligen Scharen sich nahen, all die Unglücklichen. Doch auch hier meinen viele, sie seien berufen, und sind doch nur wenige Auserwählte. Wir müssen scheiden – ein Wort und der Haufen verschwindet; ausgeschlossen sind nämlich, als ungebetene Gäste, die alle, welche meinen, der Tod sei das größte Unglück; sie, die unglücklich wurden, weil sie sich vor dem Tode fürchten. Wir, teure Symparanekrômenoi, wir fürchten uns – gleich den römischen Soldaten – nicht vor dem Tode, wir kennen ein ärgeres Unglück, vor allem eins – das Leben. Ja, gäbe es einen Menschen, der nicht sterben könnte, wär' es wahr, was von jenem ewigen Juden erzählt wird, – er, und kein andrer wäre der Unglücklichste. Dann ließe es sich erklären, weshalb das Grab leer war: der der Unglücklichste,[210] der nicht sterben konnte, der nicht seine Ruhe im Grabe fand. Dann wäre die Sache entschieden, die Antwort leicht: der der Unglücklichste, der nicht sterben konnte, glücklich der, der es konnte; glücklich, wer in seinem Alter starb; glücklicher, wer in seiner Jugend starb; der glücklichste der, der in der Stunde seiner Geburt starb; der allerglücklichste der, der niemals geboren war. Aber so ist's nicht: der Tod ist das gemeinsame Glück aller Menschen; und haben wir daher den Unglücklichsten noch nicht gefunden, so müssen wir ihn innerhalb dieser Grenzen suchen.

Seht, die Menge verschwand; die Zahl derer, welche blieben, ward kleiner. Nun aber sage ich nicht: »Schenkt mir eure Aufmerksamkeit,« ich habe sie ja; nicht: »Leiht mir eure Ohren,« denn ich weiß es, ihr hört mir zu. Eure Augen glänzen; ihr erhebt euch in euren Sitzen. Es ist ein Kampf, noch furchtbarer, als ginge es auf Tod und Leben; denn den Tod fürchten wir nicht. Aber der Siegespreis ist herrlicher als irgend ein andrer auf Erden. Er, dem es über allen Zweifel erhaben ist, daß er der Unglücklichste ist, der braucht sich vor dem Glück nicht zu fürchten, braucht in seiner letzten Stunde nicht zu rufen: »Solon, Solon, Solon!«

Wohlan denn, wir eröffnen eine freie Konkurrenz. Keiner, wes Standes oder Alters er auch sein mag, ist ausgeschlossen. Ausgeschlossen nur der Glückliche und wer sich vor dem Tode fürchtet – willkommen, wer zur Gemeinde der Unglücklichen gehört; den Ehrenplatz nehme jeder wirklich Unglückliche ein, das Grab der Unglücklichste. Meine Stimme schallt in die Welt hinein: hört sie, alle, die ihr euch Unglückliche nennt und den Tod nicht fürchtet. Meine Stimme dringt zu den vergangenen Geschlechtern. Warum sollten wir so sophistisch sein und die ausschließen, die in den Gräbern ruhen? sie haben ja gelebt. Ich beschwöre euch, verzeiht mir, daß ich eure Ruhe einen Augenblick störe. Schart euch um dieses leere Grab. Dreimal rufe ich es laut und feierlich hinaus in die Welt: hört es, ihr Unglücklichen; nicht hier an einem entlegenen Ort der Erde, nein, vor aller Welt sei die Sache entschieden!

Aber ehe wir die einzelnen verhören, wollen wir uns recht bereiten für das hohe Richteramt, das uns übertragen ist, damit wir[211] uns nicht betrügen lassen. Denn der Unglückliche versteht die Kunst, die Herzen der Menschen für sich einzunehmen, und die Beredsamkeit des Schmerzes ist sehr erfinderisch. Wir wollen die Unglücklichen in bestimmte Haufen teilen, und nur einem sei in jedem Haufen das Wort gegeben. Denn nicht ein einzelner Mensch darf sich den Unglücklichsten nennen, die Ehre hat nur eine ganze Klasse; aber deshalb werden wir uns doch erlauben, dem Repräsentanten dieser Klasse den Namen: der Unglücklichste zuzuerkennen, und mit dem Namen den höchsten Lohn: das Grab.

In allen systematischen Schriften Hegels finden wir einen Abschnitt, der von dem »unglücklichen Bewußtsein« handelt. Mit einer geheimen Angst und wahrem Herzklopfen geht man immer an solche Untersuchungen; denn entweder erfährt man zu viel oder zu wenig. Wie wird es einem schon kalt ums Herz, wenn man das Wort »unglückliches Bewußtsein« in einer Unterhaltung zufällig hört; aber nun gar, wenn es so ausdrucksvoll ausgesprochen wird, wie jenes geheimnisvolle Wort in einer Erzählung von Clemens Brentano: »tertia nux mors est« – da durchschauert es einen wie einen Sünder vor dem Thron Gottes, Ach, glücklich, wer über diese Sache nur einen Paragraphen zu schreiben braucht, und dann mit ihr fertig ist; noch glücklicher, wer den folgenden schreiben kann.

Wer ist nun der Unglückliche? Der, dessen Ideal, der Reichtum seines Lebens, der Inhalt seines Bewußtseins, sein eigentliches Wesen außerhalb seines Ich liegt, wie wir uns dieses »außer sich« auch denken mögen. Der Unglückliche lebt nie in der Gegenwart, immer nur in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Damit ist das ganze Territorium des unglücklichen Bewußtseins genügend umschrieben, und für diese feste Grenze wollen wir Hegel danken. Nun aber wollen wir, da wir nicht nur Philosophen sind, die dieses Reich aus weiten Fernen sehen, sondern als Eingeborne die verschiedenen Stadien, die in demselben liegen, genauer ins Auge fassen. Der Unglückliche lebt also entweder in der vergangenen oder in der zukünftigen Zeit, aber niemals in der Gegenwart. Der Ausdruck muß hier urgiert werden; denn es ist offenbar, wie es auch die Sprachwissenschaft lehrt, daß es ein tempus gibt, welches in einer vergangenen[212] Zeit gegenwärtig ist, und ein tempus, das in einer zukünftigen Zeit gegenwärtig ist; zugleich aber sagt uns dieselbe Wissenschaft, daß es ein plus quam perfectum gibt, in welchem nichts Präsentisches ist, und ein futurum exactum, dem jenes gleicherweise ganz fehlt. Das sind die Individualitäten, welche in der Hoffnung und in der Erinnerung leben. Diese sind nun zwar in gewissem Sinn, sofern sie nämlich in der Hoffnung allein oder in der Erinnerung allein leben, unglückliche Individualitäten – wenn es nämlich wahr ist, daß nur die sich selber gegenwärtige Individualität glücklich ist.

Übrigens kann man eine Individualität, die in Hoffnung oder Erinnerung gegenwärtig ist, doch nicht im strengsten Sinne des Wortes unglücklich nennen. Was wir nämlich sehr scharf urgieren müssen, ist dies, daß ein Mensch darin präsentisch ist. Auch wird es uns klar sein, daß ein Schlag, wie schwer er im übrigen sein mag, einen Menschen unmöglich zum unglücklichsten machen kann. Ein Schlag raubt ihm nämlich entweder nur die Hoffnung und macht ihn dadurch in der Erinnerung präsentisch, oder raubt ihm die Erinnerung, und macht ihn in der Hoffnung präsentisch.

Nun gehen wir noch einen Schritt weiter, um die unglückliche Individualität näher zu bestimmen, und betrachten zunächst die hoffende Individualität. Ist ein Mensch eine in der Hoffnung lebende – und insofern unglückliche – Individualität nicht in sich selber präsentisch, dann wird er im strengeren Sinn des Wortes unglücklich. Ein Individuum, das ein ewiges Leben hofft, ist wohl in gewissem Sinn eine unglückliche Individualität, sofern es auf das gegenwärtige Leben verzichtet, aber doch noch nicht im strengsten Sinn unglücklich, weil es in dieser Hoffnung sich selber präsentisch ist und mit den einzelnen Momenten des irdischen Lebens nicht in Streit kommt. Ist es ihm aber unmöglich, in der Hoffnung sich selber präsentisch zu werden, sondern verliert es seine Hoffnung und hofft wieder u.s.w. bis ins Unendliche, und lebt es so weder in der gegenwärtigen noch in der zukünftigen Zeit, dann haben wir eine Formation der Unglücklichen. Geradeso ist es mit der in der Erinnerung lebenden Individualität. Kann ein Mensch in der vergangenen Zeit sich selber gegenwärtig werden, so ist er im Grunde noch nicht unglücklich; aber kann er das[213] nicht, sondern ist er auch in der vergangenen Zeit gewissermaßen außerhalb seines Ich, von sich selber geschieden, dann haben wir wieder eine Formation der Unglücklichen.

Die Erinnerung ist vorzugsweise das Element der Unglücklichen, Natürlich; denn die vergangene Zeit hat die ihr eigentümliche Eigenschaft, daß sie hinter uns liegt; die zukünftige, daß sie noch vor uns liegt. Man könnte daher fast sagen, daß letztere der gegenwärtigen Zeit näher liegt als erstere. Damit nun die in der Hoffnung lebende Individualität in der zukünftigen Zeit präsentisch werden könne, muß sie eine Realität haben, oder besser, muß sie für ihn zur Realität werden; und damit die in der Erinnerung lebende Individualität in der vergangenen Zeit präsentisch werden könne, muß auch sie eine Realität für ihn werden. Wenn aber die in Hoffnung lebende Individualität auf eine künftige Zeit hofft, obgleich dieselbe für sie niemals eine Realität werden wird, oder wenn die in der Erinnerung lebende Individualität an eine vergangene Zeit zurückdenkt, die keine Realität für sie hatte: seht, dann haben wir die eigentlichen unglücklichen Individualitäten.

Nun sollte man das erstere fast für unmöglich halten, oder für den reinen Wahnsinn ansehen; doch ist's nicht so. Wenn z.B. ein Individuum sich in die alte Zeit, oder in das Mittelalter, oder in irgend eine andre Zeit vertiefte, so jedoch, daß sie für ihn eine entschiedene Realität hätte; oder es verlöre sich in die Zeit seiner Kindheit oder Jugend, und auch wieder so, daß sie für ihn eine entschiedene Realität hätte: dann wäre es im Grunde noch seine unglückliche Individualität. Wenn oder ein Mensch, der selber keine Kindheit hatte, weil diese Zeit ohne innere Bedeutung an ihm vorüberging, nun aber etwa als Lehrer an den ihm anvertrauten Kindern all das Schöne, was in der Kindheit liegt, entdeckte, und dann an seine Kindheit dächte, immer auf sie starrend, niemals von ihr den Blick hinwegwendend, dann hätten wir ein recht passendes Exempel. Oder dächte ich mir einen Menschen, der die Freuden und Genüsse des Lebens nicht gekostet hätte, dem aber im Augenblick des Todes die Augen für die Herrlichkeit derselben aufgingen, – und der dann doch nicht stürbe, sondern wieder auflebte, ohne jedoch des Lebens Güter kennen[214] zu lernen, der dürste nicht unerwähnt bleiben, wenn wir nach dem Unglücklichsten fragen.

Niemals haben die unglücklichen Individualitäten der Hoffnung das Schmerzliche an sich, was die unglücklichen Individualitäten der Erinnerung an sich haben. Erstere leben oft in einer angenehmen Täuschung, und deshalb werden wir den Unglücklichsten stets unter den letztern suchen müssen.

Doch wir wollen weiter gehen, und uns eine Kombination dieser beiden unglücklichen Formationen denken. Die in Hoffnung lebende unglückliche Individualität konnte nicht in ihrem Hoffen sich selber präsentisch werden, wie auch die in der Erinnerung lebende unglückliche Individualität nicht sich Selber präsentisch werden kann in ihren Erinnerungen. Die Kombination kann nun folgende sein: das, was einen Menschen hindert, in seinem Hoffen präsentisch zu werden, ist die Erinnerung; und was ihn hindert, in seiner Erinnerung präsentisch zu werden, ist die Hoffnung. Darin liegt einerseits, daß er stets das hofft, dessen er sich erinnert, und daß die Hoffnung immer wieder getauscht wird. So oft er sich aber getäuscht sieht, macht er die Entdeckung, daß dies nicht etwa daher kommt, weil das Ziel weiter hinausgeschoben wird, sondern daher, weil er an demselben vorübergegangen ist. Er kann es also nicht mehr in sich aufnehmen, weil es schon hinter ihm liegt. Anderseits erinnert er sich stets dessen, was er noch hoffen sollte; denn das Zukünftige hat er bereits in sein innerstes Wesen aufgenommen, hat es in Gedanken schon erlebt, während es im Grunde noch vor ihm liegt. Er wird sein Unglück bald merken, wenn er auch nicht recht begreift, worin es eigentlich liegt. Damit er es aber recht fühle, tritt noch das Mißverständnis hinzu, das seiner in jedem Augenblick spottet. In den Augen der Welt hat er noch seine vollen fünf Sinne, und doch würde er, wollte er es einem einzigen Menschen erklären, wie es eigentlich mit ihm steht, ohne allen Zweifel für wahnsinnig erklärt werden. Das ist zum Verrücktwerden, und doch wird er es nicht. Seht da sein Unglück. Ja, das ist sein Unglück: er ist zu früh zur Welt gekommen und kommt deshalb immer zu spät. Er ist dem Ziele stets ganz nah, und erreicht es doch niemals. So wird er hin und her[215] getrieben, wie Latona, die bald zum dunkeln Lande der Hyperboräer, bald zu der leuchtenden Insel des Äquators fliehen mußte. Allein und sich selber überlassen steht er in der weiten Welt: er hat keine Gegenwart, an die er sich halten kann, keine Vergangenheit, nach der er sich sehnen kann – denn sie ist für ihn noch nicht gekommen - , keine Zukunft, auf die er hoffen kann – denn sie ist schon vergangen. Allein hat er die ganze Welt vor sich, aber als ein Du, mit welchem er in stetem Konflikt liegt; denn die ganze übrige Welt ist für ihn nur eine Person, und diese Person, dieser zudringliche Freund, der ihn keinen Augenblick verläßt, ist das Mißverständnis. Er kann nicht alt werden, denn er ist niemals jung gewesen; er kann sich nicht seiner Jugend freuen, denn er ist schon alt geworden; er kann gewissermaßen nicht sterben, denn er hat ja nicht gelebt; er kann gewissermaßen nicht leben, denn er ist ja schon gestorben; er kann nicht lieben, denn die Liebe ist stets präsentisch, und er hat keine gegenwärtige Zeit, keine zukünftige, keine vergangene – und doch ist es eine sympathische Natur, und er haßt die Welt, nur weil er sie liebt; er ist ohnmächtig, nicht weil ihm die Kraft fehlt, sondern weil seine eigne Kraft ihn ohnmächtig macht.

Doch genug. Wir haben die besonnene Stimme ruhiger Erwägung gehört; öffnet eure Ohren nun auch der Beredsamkeit der Leidenschaft.

Seht, dort steht ein junges Mädchen. Sie klagt darüber, daß ihr Geliebter ihr untreu geworden ist. Darüber kann man nicht reflektieren. Aber sie liebte ihn allein in der ganzen Welt, sie liebte ihn von ganzer Seele, von ganzem Herzen und mit all ihren Gedanken – so erinnere sie sich vergangener Zeiten und weine!

Ist es ein wirkliches Wesen, oder nur ein Bild, das des Künstlers Hand geschaffen? ist es eine Lebende, die stirbt, oder eine Tote, die lebt? – es ist Niobe. Sie verlor alles zu gleicher Zeit; sie verlor ihre Kinder, denen sie das Leben schenkte, und verlor in ihnen alles, was ihr Leben reich und schön gemacht hatte. Schaut zu ihr hinauf, liebe Symparanekrômenoi, sie steht etwas höher als die Welt, auf einem Grabeshügel wie ein Denkmal. Aber keine Hoffnung lächelt ihr, keine Zukunft bewegt sie, keine Aussicht versucht sie, keine Hoffnung läßt ihr Herz unruhiger schlagen – hoffnungslos steht sie versteinert in[216] der Erinnerung; sie war einen Augenblick unglücklich, aber im selben Augenblick ward sie glücklich, und nichts kann das Glück ihr rauben. Die Welt ändert sich, aber sie kennt keinen Wechsel, und die Zeit kommt, aber für sie gibt es keine Zukunft.

Seht dort, welch schöne Vereinigung! Ein Geschlecht reicht dem andern die Hand! Wird's zum Segen sein, zu treuem Zusammensein? oder geht's zu frohen Tänzen? Es ist Ödipus' verworfenes Geschlecht, und die letzte desselben – Antigone. Doch für sie ist gesorgt; der Jammer eines ganzen Geschlechtes reicht für ein Menschenleben hin. Sie hat der Hoffnung den Rücken gekehrt, aber die Erinnerung bleibt ihr treu. So werde denn glücklich, liebe Antigone! Wir wünschen dir ein langes Leben, so bedeutungsvoll wie einen tiefen Seufzer. Mögest du nichts vergessen, mögest du des Schmerzes Bitterkeit täglich und reichlich schmecken!

Eine kraftvolle Gestalt tritt auf; aber er ist ja nicht allein, er hat also Freunde, wie kommt er denn her? Es ist der Patriarch der Trübsale, es ist Hiob – mit seinen Freunden. Er verlor alles, aber nicht mit einem Schlag; denn der Herr nahm und nahm und nahm. Die Freunde lehrten ihn die Bitterkeit des Verlustes schmecken; denn der Herr gab und gab und gab, und schließlich gar noch ein unverständiges Weib. Er verlor alles; denn was er behielt, liegt außerhalb unsers Interesses. Aber schaut ehrfurchtsvoll zu ihm hinauf, liebe Symparanekrômenoi, denn seine grauen Haare und sein Unglück sind es wert. Er verlor alles; aber – er hatte es doch besessen.

Sein Haar ist grau, sein Haupt gebeugt, seine Seele ist bekümmert – es ist der Vater des verlornen Sohnes. Wie Hiob, verlor er, was ihm das Liebste auf Erden war; aber nicht der Herr nahm es, sondern der Feind. Er verlor es nicht, sondern er verliert es; es ist ihm nicht genommen, sondern es verschwindet. Nicht sitzt er zu Hause an einem Herde im Sack und in der Asche; er ist aufgestanden, hat alles verlassen, um den Verlornen zu suchen; er will ihn ergreifen, aber sein Arm erreicht ihn nicht; er ruft ihn, aber seine Stimme dringt nicht zu ihm. Doch er hofft, wenn auch mit Thränen; er sieht ihn, wenn auch durch dunklen Nebel; er findet ihn,[217] wenn auch im Tode. Seine Hoffnung läßt ihn alt werden, und nichts hält ihn in der Welt zurück als die Hoffnung, für die er lebt. Sein Fuß ist müde, sein Auge dunkel geworden; er sehnt sich nach Ruhe, nach der Ruhe im Grabe, aber seine Hoffnung lebt noch. Sein Haar ist weiß geworden und seine Kraft ist am Ende; er kann nicht weiter gehen, sein Herz bricht, aber seine Hoffnung lebt noch. Richtet ihn auf, liebe Symparanekrômenoi, er war unglücklich.

Und die bleiche Gestalt dort; einem Schatten aus dem Hades ähnlicher, als einem Menschen? Sein Name ist vergessen; viele Jahrhunderte sind seit jenen Tagen vergangen. Ein Jüngling war's, der begeistert das Martyrium suchte. Im Geiste sah er sich ans Kreuz genagelt und den Himmel offen; oder die Wirklichkeit ward ihm zu schwer, die Begeisterung hörte auf, er verleugnete seinen Herrn und sich selber. Er wollte eine Welt tragen, aber er verhob sich an ihr; sein Herz ward nicht zerrissen, aber es brach; sein Geist wurde matt, seine Seele erlahmte. Wünscht ihm Glück, teure Symparanekrômenoi, er war unglücklich. Und doch ward er glücklich, denn er ward ja, was er hatte werden wollen: ein Märtyrer, wenn auch sein Martyrium ein andres wurde, wie er es sich gewünscht hatte; er ward nicht ans Kreuz geschlagen, oder wilden Tieren vorgeworfen, sondern er ward lebendig verbrannt, langsam von einem schwachen Feuer verzehrt.

Wie gedankenvoll sitzt jene Jungfrau da! Ihr Geliebter ward ihr untreu – darüber kann man nicht reflektieren. Junges Mädchen, sieh dir die ernsten Mienen der Versammlung an, sie hat von Schrecklicherem gehört; wir fordern mehr. »Ja, aber ich liebte ihn allein in der ganzen Welt; ich liebte ihn von ganzer Seele, von ganzem Herzen, und mit allen meinen Gedanken.« – Wir haben es schon einmal gehört. Halte unsre brennende Sehnsucht nicht auf. Denke vergangener Zeiten und weine. – »Nein, ich kann nicht weinen; denn er war mir vielleicht gar nicht untreu, er war vielleicht gar kein Betrüger.« – Du kannst nicht weinen? tritt näher, du Auserwählte unter den Jungfrauen; vergib dem strengen Zensor, daß er dich einen Augenblick zurückwies. Du kannst nicht weinen, so kannst du ja hoffen. – »Nein, ich kann nicht hoffen; denn er war[218] ein Rätsel.« – Wohl, mein Mädchen, ich verstehe dich; du stehst auf einer hohen Sprosse der Unglücksleiter. Seht sie an, liebe Symparanekrômenoi, sie hat fast Schon die höchste Sprosse erreicht. Doch weiß ich noch einen Rat. Du mußt dich teilen; am Tage mußt du hoffen und nachts weinen, oder am Tage weinen und in der Nacht hoffen. Nein, die Unglücklichste bist du nicht, aber ist es nicht eure Meinung, teure Symparanekrômenoi, daß wir ihr ein ehrenvolles accessit zuerkennen? Das Grab können wir ihr nicht einräumen, wohl aber einen Platz in seiner unmittelbaren Nähe.

Denn da steht er, der Gesandte aus dem Reich der Seufzer, der Trübsal erkorner Jüngling, der Apostel des Leides, des Schmerzes stummer Freund, der unglückliche Geliebte der Erinnerung, in seinen Erinnerungen durch das Licht der Hoffnung geblendet, in seinem Hoffen durch die Schatten der Erinnerungen getäuscht. Sein Haupt ist schwer, seine Kniee sind schlaff, und doch stützt er sich nur auf sich selber. Er ist matt und doch wie kraftvoll, sein Auge sieht nicht aus, als habe es viele Thränen vergossen, nein, als habe es sie getrunken – und doch glüht in demselben ein Feuer, das die ganze Welt verzehren könnte – aber auch nicht der leiseste Schmerz in seiner eignen Brust; er ist gebeugt, und doch verheißt seine Jugend ihm ein langes Leben; seine Lippen lächeln der Welt zu, die ihn mißversteht. Steht auf, liebe Symparanekrômenoi, steht ehrfurchtsvoll auf, ihr Zeugen des Leides, in dieser feierlichen Stunde. Ich grüße dich, du großer Unbekannter, dessen Namen ich nicht kenne, ich grüße dich mit deinem Ehrentitel: du Unglücklichster! Sei in deinem Hause gegrüßt von der Gemeinde der Unglücklichen; sei gegrüßt am Eingang der demütigen, niedern Wohnung, die doch stolzer ist als alle Paläste der Erde. Sieh, der Stein ist hinweggewälzt; der Schatten des Grabes erwartet dich mit seiner erquickenden Kühle.

Aber vielleicht ist die Zeit noch nicht gekommen, und der Weg noch lang, nun, wir wollen uns oft hier versammeln – feierlich geloben wir es – – dich um dein Glück zu beneiden. So nimm unsre Wünsche hin, sie kommen aus gutem Herzen: Möge niemand dich verstehen, aber alle dich beneiden! kein Freund schließe sich dir an, kein Mädchen liebe dich! keine geheime Sympathie ahne je deinen einsamen[219] Schmerz! kein Auge ergründe dein verborgnes Leid! kein Ohr vernehme die Seufzer deiner Seele!

Wie? Deine stolze Seele verachtet solche teilnehmende Wünsche? Nun wohl: möchten die Mädchen dich lieben, die schwangern Frauen in ihrer Angst zu dir fliehen; möchten die Mütter ihre Hoffnung auf dich setzen; die Sterbenden bei dir Trost suchen! Möchte die Jugend sich dir anschließen, der Mann dir vertrauen, das Alter in seiner Schwachheit nach dir greifen, um sich an dir zu halten – o, möchte die ganze Welt es glauben, daß du sie glücklich machen könntest.

Lebe denn wohl, du Unglücklichster! Doch, was sage ich: Unglücklichster? Glücklichster müßte ich sagen; denn das ist ja gerade ein Geschenk des Glückes, das sich niemand selber geben kann. Sieh, die Worte fehlen uns, die Gedanken gehen durcheinander. Denn wo ist wohl der Glücklichste ohne den Unglücklichsten, und wo der Unglücklichste ohne den Glücklichsten? und ist das Leben nicht Wahnsinn, der Glaube Thorheit, die Hoffnung eine Galgenfrist und Liebe Essig in der Wunde?

Er verschwand, und wir stehen wieder an dem leeren Grabe. Wünschen wir ihm denn Ruhe und Frieden, alles mögliche Glück, einen schnellen Tod und ein ewiges Vergessen, damit nicht noch andre, die sich seiner erinnern, dadurch unglücklich werden.

Steht auf, liebe Symparanekrômenoi! die Nacht ist vergangen, der Tag geht wieder an seine Arbeit; nie – so scheint es – wird er dessen überdrüssig, ewig und ewig sich selber zu wiederholen.[220]

Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885, S. 207-221.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Entweder-Oder
Entweder - Oder, Gesamtausgabe in zwei Bänden
Entweder - Oder
Entweder - Oder: Teil I und II
Entweder, Oder. Teil I und II.
Entweder, Oder. Teil 1, Band 1

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon