3. Margarete

[199] Diese Jungfrau ist uns aus Goethes Faust bekannt geworden. Sie war ein einfaches Mädchen aus bürgerlichem Stande, nicht wie Elvira für ein Kloster bestimmt, aber doch auferzogen in der Furcht des Herrn, wenngleich ihre Seele zu kindlich war, den Ernst zu fühlen, wie Goethe so unvergleich sagt:


»Halb Kinderspiel,

Halb Gott im Herzen.«


Was wir an dieser Jungfrau so besonders lieben, ist die liebliche Einfalt und Demut ihrer reinen Seele. Schon als sie Faust zum erstenmal sieht, meint sie zu gering für seine Liebe zu sein. In ihrer Demut pflückt sie die Blätter der Sternblume ab und beugt sich unter den Orakelspruch einer rätselhaften Macht. Ja, liebliche Margarete! Goethe hat es uns verraten, wie du die Blätter der Blume pflücktest und murmeltest: »Er liebt mich – liebt mich nicht.« Arme Margarete, pflücke weiter, du brauchst nur die Worte zu ändern: »Er betrog mich – betrog mich nicht.« Du kannst einen kleinen Garten anlegen und in demselben jene Blumen pflanzen, so hast du Arbeit für dein ganzes Leben.

Man hat die Bemerkung gemacht, es sei auffallend, daß Don Juan allein in Spanien 1003 Geliebte gehabt, Faust aber nur ein Mädchen verführt habe. Diese Observation ist nicht ohne Bedeutung, wenn wir im folgenden das Eigentümliche in dem reflektierten Leid Margaretes bestimmen wollen.

Auf den ersten Blick könnte es nämlich scheinen, als ob zwischen Elvira und Margarete kein andrer Unterschied sei, als zwischen zwei verschiedenen Individualitäten, welche dieselbe Erfahrung gemacht haben. Der Unterschied ist jedoch viel wesentlicher, hat aber trotzdem seinen Grund weniger darin, daß die beiden weiblichen Wesen, sondern daß Don Juan und Faust so verschiedenen Charakter haben.[199] Schon das darf nicht überleben werden, daß ein Mädchen, welches Faust affiziert, ein ganz andres sein muß als das Mädchen, das einen Don Juan affiziert; ja, und wäre es dasselbe Mädchen, das beider Aufmerksamkeit auf sich zöge, diesen würde doch etwas andres in ihr anziehen wie jenen. Wohl ist Faust eine Reproduktion Don Juans, aber gerade das macht ihn selbst in dem Lebensstadium, in welchem man ihn einen Don Juan nennen kann, wesentlich verschieden von diesem letztern. Ein andres Stadium reproduzieren heißt ja doch nicht nur, dieses überhaupt werden, sondern es so werden, daß es alle Momente des frühern Stadiums in sich schließt. Ob er daher wohl dasselbe erreicht, wie ein Don Juan, so erreicht er es doch in andrer Weise. Sowohl in ihm selber sind Momente, die seine Methode zu einer andern machen, als sich auch in Margarete Momente finden, die eine andre Methode notwendig machen. Faust ist ebensosehr ein Dämon wie Don Juan, nur ein höherer. Das Sinnliche hat für ihn erst Bedeutung, nachdem er eine ganze Welt verloren, aber das Bewußtsein dieses Verlustes ist nicht ausgelöscht; er sucht daher im Sinnlichen weniger Genuß als Zerstreuung. Seine zweifelnde Seele findet nichts, worin sie ausruhen kann, und nun greift er zur Liebe, nicht weil er an ihre Macht glaubt, sondern weil sie ein präsentisches Moment hat, in welchem einen Augenblick Ruhe ist, und das die Aufmerksamkeit vom Zweifel abzieht. Seiner Lust fehlt jene Heiterkeit, die einen Don Juan auszeichnet. Sein Gesicht ist nicht lächelnd, seine Stirn nicht ohne Wolken, und die Freude nicht seine stete Begleiterin. Die jungen Mädchen eilen ihm nicht tanzend in die Arme, die Angst ist der geheimnisvolle Magnet, der sie zu ihm zieht. Was er sucht, ist daher nicht die sinnliche Lust, sondern das unmittelbare Leben des Geistes. Wie die Schatten des Hades das Blut lebender Menschen aussaugten und so lange selber lebten, als dieses Blut sie wärmte und nährte, so sucht Faust ein unmittelbares Leben, das ihn verjüngen und stärken kann. Und wo findet er das besser als bei einer unschuldigen Jungfrau, die er in Liebesglut an sein Herz drückt? Danach sehnt sich seine kranke Seele, sein unruhiges Herz verlangt nach einer Friedensinsel im stillen Meer. Daß diese Wonnen nicht ewig sind, weiß seiner[200] besser als Faust, aber sie erquicken seine dürstende Seele einen Augenblick.

In Goethes Faust zeigt Mephistopheles ihm Margaretes Bild in einem Spiegel. Sein Auge schwelgt im Anschauen ihrer Schönheit; was er aber genießen will, ist nicht ihre Schönheit, sondern die reine, ungestörte, reiche, unmittelbare Freude einer weiblichen Seele; aber diese sucht er nicht geistig, sondern sinnlich, gerade so wie Don Juan, und doch so gar anders wie er.

Da es nun aber im Blick auf Margaretes Leid wichtig ist, zu erfahren, wie Faust auf dieselbe Eindruck machen konnte, so wollen wir das etwas näher erwägen.

In ihrer unschuldigen Einfalt merkt Margarete bald, daß es mit dem Glauben Fausts nicht so ganz richtig ist. Das sehen wir in der kleinen Katechismusszene, unzweifelhaft einer vortrefflichen Erfindung des Dichters. Aber welche Folgen hat dieses Examen für das Verhältnis beider zu einander? Faust zeigt sich auch Margarete gegenüber als Zweifler. Er hat ihre Aufmerksamkeit zwar von allen solchen Untersuchungen ableiten und sie einzig und allein auf die Realität der Liebe richten wollen; aber da das Problem zur Sprache gekommen ist, muß er darauf eingehen. Es interessiert uns Faust weniger als Margarete, aber auch um der letztern willen dürfen wir an dieser Szene nicht so rasch vorübereilen. Zeigte er sich ihr nicht als Zweifler, so hatte ihr Leid ein Moment mehr. Faust ist also ein Zweifler, aber er ist kein eitler Narr und sucht seinen Ruhm nicht darin, daß er an dem zweifelt, was andre glauben. Sein Zweifel hat in ihm selber seinen objektiven Grund. Das sei zu seiner Ehre gesagt. Sobald er dagegen andern gegenüber seine Zweifel hervorhebt, mischt sich in dieselben leicht eine unreine Leidenschaft: der Neid, welcher sich freut, andern das zu nehmen, was sie als ihr sicheres Eigentum ansehen. Einem jungen Mädchen gegenüber aber wird ein Zweifler immer in Verlegenheit sein. Ist's doch seine Kunst, ihr ihren Glauben zu nehmen! Mag es einem halbgebildeten Zweifler Befriedigung gewähren, Weiber und Kinder zu erschrecken, das ist nicht nach Fausts Sinn, dazu ist er zu groß. Wir sind also mit Goethe darin einig, daß Faust zum erstenmal seine Zweifel[201] verrät; aber ich glaube kaum, daß es ihm noch ein andres Mal passieren wird. Für die richtige Beurteilung Margaretes ist das sehr wichtig. Faust sieht bald ein, daß Margaretes ganze Bedeutung in ihrer unschuldigen Einfalt liegt; wird ihr diese genommen, so ist sie nichts in sich selber, nichts für ihn. Die muß also bewahrt werden. Er ist ein Zweifler, hat aber als solcher alle Momente des Positiven in sich, sonst wär' er ein armseliger Zweifler; doch fehlt ihm das Band des Friedens, das alle jene Momente mit einander verbindet, und deshalb werden auch diese letztern zu negativen Momenten. Sie dagegen besitzt jenes Band des Friedens: die kindliche Unschuld. Nichts leichter für ihn, als sie auszusteuern. Wie oft hat er es in der Praxis des Lebens gelernt, daß sein Zweifel auf andre als positive Wahrheit wirkte. Nun ist's ihm eine wahre Freude, ihr den ganzen Reichtum des unmittelbaren Glaubens zu schenken und sie mit demselben zu schmücken. Nur um so schöner wird sie dadurch in seinen Augen. Das bringt ihm zugleich den weitern Vorteil, daß sie sich nur um so inniger an ihn anschließt. Sie versteht ihn eigentlich gar nicht: woran er zweifelt, ist ihr über allem Zweifel erhabene Wahrheit. Aber während er so ihren Glauben erbaut, untergräbt er ihn zugleich; denn Schließlich steht er selber vor ihren Glaubensaugen nicht mehr als ein Mensch, sondern als ein Gott. Nur möchte ich nicht mißverstanden werden. Es könnte ja scheinen, als machte ich ihn zu einem niedrigen Heuchler, und das ist er nicht. Gretchen selbst hat die ganze Geschichte zur Sprache gebracht; mit halbem Auge überschaut er die Herrlichkeit, die sie zu besitzen glaubt, und sieht, daß dieselbe nicht vor seinem Zweifel bestehen kann. Er will ihr den Reichtum nicht rauben, sondern in einer gewissen Gutmütigkeit läßt er sich zu ihr herab und freut sich, wenn er es sieht, wie sie sich alles aneignet.

Für Margaretes Zukunft hatte das jedoch die traurigsten Folgen. Wäre Faust ihr als Zweifler erschienen, so hätte sie vielleicht später ihren Glauben retten können, hätte es in aller Demut erkannt, daß seine hochfahrenden und kühnen Gedanken nicht für sie seien. Nun aber verdankt sie ihm den Inhalt des Glaubens, und muß sich, nachdem er sie verlassen hat, ja doch sagen, daß er selber[202] nicht daran geglaubt hat. Solange er bei ihr war, entdeckte sie den Zweifel nicht; dann aber ändert sich alles, und sie sieht in allem einen Zweifel, dessen sie nicht Herr werden kann.

Das, wodurch Faust, auch nach Goethes Auffassung, Margarete fesselt, ist nicht eines Don Juans verführerische Kunst, sondern seine große Überlegenheit. Sie kann, wie sie sich so liebenswürdig ausdrückt, nicht begreifen,


»was er an mir find't


Der erste Eindruck, den sie von ihm hat, ist daher geradezu überwältigend, und sie verschwindet vor ihm ganz und gar, und immer mehr und mehr. Faust ist ihr viel zu groß, und das Ende ihrer Liebe zu ihm kann daher sein andres sein, als daß die Saiten ihrer Seele zerreißen, denn Faust fühlt es wohl, daß er in dieser Unmittelbarkeit nicht bleiben kann; und er führt sie nun nicht zu den höhern Regionen des Geistes hinauf – vor diesen flieht er ja gerade; er wird »ein sinnlicher Freier« – und verläßt sie.

Faust hat Margarete also verlassen. Ihr Verlust ist so schrecklich, daß sie sich die Große desselben nicht einmal vorstellen kann. Wäre sie in diesem Zustande absoluter Zerschlagenheit geblieben, so hätte das reflektierte Leid unmöglich eintreten können. Man sucht sie zu trösten; aber sie hört nicht einmal, was ihr gesagt wird, das Problem ist für sie dasselbe wie für Elvira: Faust ein Betrüger! Aber wieviel rätselhafter muß ihr das sein, da sie ja noch viel tiefere Eindrücke von Faust empfangen hat, und nun war er ja nicht nur ein Betrüger, sondern auch ein Heuchler.

Es könnte scheinen, als würde Margarete nicht so leicht zur Reflexion kommen; ein Gefühl erfüllt sie ja so ganz: »Wie bin ich doch so gar nichts vor ihm!« Doch liegt hierin wieder eine ungeheure dialektische Elastizität. Ja, könnte sie den Gedanken wirklich festhalten, daß sie im strengsten Sinn des Wortes »so gar nichts« sei, dann freilich wäre alle Reflexion ausgeschlossen, dann wäre sie auch nicht betrogen worden. Aber – dieser Gedanke läßt sich nur nicht festhalten. »So gar nichts sein« ist nur ein andrer Ausdruck dafür, daß alle endlichen Differenzen der Liebe geleugnet sind, und ist gerade deshalb der Ausdruck für die absolute Gültigkeit ihrer[203] Liebe, und darin liegt wieder ihre absolute Berechtigung. Weil ihre Liebe eine absolute war, so wird auch dieser Gedanke unzertrennlich mit dem Gedanken an ihn verbunden bleiben, und wieder – wie kann sie das, wenn er ein Betrüger war?

Da beginnt die innere Bewegung, um so mehr, je fremder sie sich unter denen fühlt, mit denen sie zuvor gelebt hat.

»Kann ich ihn vergessen? Kann der Bach seine Quelle vergessen und sich von seinem Ursprung losreißen? Dann müßte er ja zu fließen aufhören. Kann der Pfeil, wie rasch er auch fliegen mag, den Bogen vergessen? Das müßte ihn in seinem Fluge aufhalten! Oder kann der Regentropfen, wie tief er auch fällt, den Himmel vergessen, woher er gekommen ist? Dann müßte er ja zergehen. Kann ich eine andre werden? und von neuem geboren werden? Kann ich ihn vergessen? dann müßte ich zu leben aufhören!«

»Kann ich mich seiner erinnern? Kann meine Erinnerung ihn, der mir nun für immer verschwunden ist, je wieder zurückrufen? Dieses bleiche, nebelhafte Bild, das mir vor der Seele steht, – ist das Faust, der Faust, den ich anbetete? Ich erinnere mich seiner Worte, aber wo ist der Harfenklang seiner Stimme? Ich habe seine Reden nicht vergessen, aber sie klingen in meinen Ohren, als hätten sie keinen Sinn!«

»Faust, o Faust, lehre zurück, speise die Hungrige, erquicke die Verschmachtende, besuche die Einsame! Wohl weiß ich, daß meine Liebe für dich keinen Wert hat, aber das habe ich ja auch nie verlangt. Meine Liebe legte sich dir demütig zu Füßen, mein Seufzer war ein Gebet, mein Kuß ein Opfer des Dankes, meine Umarmung eine Anbetung! Willst du mich darum verlassen? Wußtest du das nicht schon vorher? Oder mußt du mich nicht schon aus dem Grunde lieben, weil ich ohne dich nicht leben kann, und meine Seele sterben muß, wenn du nicht bei mir bist?«

»Gott im Himmel, vergib mir, daß ich einen Menschen mehr liebte als dich, und doch thue ich es noch. Ich weiß es wohl, es ist neue Sünde, daß ich so zu dir rede. Ewige Liebe, o laß deine Barmherzigkeit mich halten, verwirf mich nicht von deinem Angesicht, gib[204] ihn mir zurück, neige sein Herz wieder zu mir, erbarme dich meiner, du ewige, du erbarmende Liebe!«

»Kann ich ihm fluchen? Aber wie darf ich das wagen! Ich bin ja so gar nichts vor ihm! Er beugte sich zu mir herab, zog mich zu sich hinauf und war mir alles, der Gott, den ich anbetete, der Gott, der meine Seele mit Freude und Wonne erfüllte!«

»Kann ich trauern? Nein, nein! die Traurigkeit liegt wie ein Nebel der Nacht auf meiner Seele. O, kehr zurück, ich will auch nichts von dir haben, setze dich nur zu mir, sieh mich an, daß ich weiter seufzen kann, sprich mit mir, sprich nur von dir selber, wie wenn du ein Fremder wärest, ich will's vergessen, daß du es bist; sprich, o sprich, daß die Thränen weiter fließen können. Bin ich denn so gar nichts, daß ich nicht einmal ohne dich weinen kann?«

»Wo soll ich Ruhe und Frieden finden? Gedanken erwachen in meiner Seele, und der eine erhebt sich wider den andern, der eine verwirrt den andern. Als du bei mir warst, waren sie dir gehorsam, und ich spielte mit ihnen, fröhlich wie nur Kinder es sein können; da wand ich Kränze aus ihnen, letzte sie mir auf den Kopf und ließ sie wie meine Haare im Winde flattern. Nun schlingen sie sich wie Schlangen um mich und ängstigen meine Seele!«

»Und ich bin – eine Mutter! Ein lebendes Wesen fordert seine Nahrung von mir. Kann denn der Hungernde den Hungernden sättigen; der Verschmachtende den Dürstenden erquicken? Soll ich – eine Mörderin werden ? O Faust, kehre zurück und hilf – uns!«

So wogt es in ihr auf und ab. Ja, wäre Faust ihr entrissen, aber – er hat sie betrogen! Ihr fehlt, was man die Situation des Leides nennen könnte. Allein kann sie nicht leidtragen. Ja könnte sie, wie die arme Florine im Märchen, eine Echogrotte finden, aus welcher jeder Seufzer, jede Klage zu den Ohren des Geliebten dränge, sie würde nicht nur, wie Florine, drei Nächte, sondern Tag und Nacht in ihr bleiben; aber es ist im Palaste Fausts keine Echogrotte, und er hat kein Ohr für die Seufzer ihrer Seele.


* * *
[205]

Vielleicht zu lange habe ich, liebe Symparanekrômenoi, eure Aufmerksamkeit auf diese Bilder gelenkt, um so mehr als sich euch nichts Sichtbares gezeigt hat, wie viel ich auch redete. Aber das hat ja seinen Grund nicht in mir und meiner Darstellung, sondern in der Sache selber; denn auch der Schmerz sucht viele Künste.

Das Verborgene offenbart sich, wo eine günstige Gelegenheit sich bietet. Diese können wir ergreisen, wenn wir wollen.

Wir lassen denn zum Abschied jene drei Bräute, die sich mit dem tiefsten Schmerz vermählt haben, einen Bund mit einander schließen, sich einander in der Harmonie des Leides umarmen; wir lassen sie vor unsern Augen eine Gruppe bilden – ihre Seufzer und Klagen verstummen nicht. Sollen wir sie unterbrechen, aber ihnen wünschen, daß sie das Verlorne wiederempfangen? Aber wäre das wirklich ein Gewinn für sie?

Haben sie nicht schon eine höhere Weihe empfangen? Diese Weihe wird sie verbinden und ihren Bund in immer schönerem Lichte glänzen lassen; sie aber werden, so mit einander verbunden, Balsam für ihre zerrissenen Herzen finden; denn nur wer es selber erfahren hat, weiß, was der leiden muß, der von einer Schlange gebissen wurde.[206]

Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885, S. 199-207.
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