Improvisierte Ansprache

[165] Wir feiern in dieser Stunde die Stiftung unsrer Gesellschaft. Wir freuen uns aufs neue darüber, daß die angenehme Veranlassung hierzu wiedergekehrt ist, daß der längste Tag vorüber ist, und die Nacht zu siegen anfängt. Den langen, langen Tag haben wir abgewartet; noch vor wenig Augenblicken seufzten wir über seine Länge. Jetzt ist aber dieser Unmut in Freude gewandelt. Freilich ist der Sieg vorerst nur unbedeutend, und eine Zeitlang währt noch das Übergewicht des Tages. Daß aber seine Herrschaft gebrochen ist, entgeht unsrer Aufmerksamkeit nicht. Wir verschieben daher unsern Freudenruf über den Sieg der Nacht keineswegs, bis er jedermann bemerklich wird, warten nicht, bis das stumpfsinnige bürgerliche Leben uns erinnert, daß der Tag abnimmt. Nein, sowie ein Bräutigam ungeduldig den Anbruch der Nacht erwartet, so sehnen wir uns nach den ersten Schatten der Nacht, den ersten Vorboten ihres nahenden Sieges. Die Freude und Überraschung wird desto größer, je mehr wir schon beinahe verzweifelten, wie wir's aushalten sollten, wenn der Tag sich nicht kürzte.

Ein Jahr ist verlaufen; und noch besteht unsre Gesellschaft. Sollen wir uns darüber freuen, liebe Symparanekrômenoi, daß ihr Bestehen unsrer Lehre von dem Untergange aller Dinge spottet? oder sollen wir vielmehr uns betrüben, daß sie noch besteht, zugleich froh, daß sie jedenfalls nur noch ein Jahr existieren wird? Denn sollte sie innerhalb dieser Zeit nicht verschwunden sein, so läge es uns ob, sie selbst aufzulösen. – Haben wir doch bei ihrer Stiftung keine ins weite gehende Pläne gemacht! Nein, allzu vertraut mit dem Jammer des Lebens und der Treulosigkeit des Daseins, haben wir beschlossen,[165] dem Weltlaufe zu Hilfe zu kommen, und falls dieser uns nicht zuvorkommt, uns selbst zu vernichten. Ein Jahr ist verlaufen, und noch ist unser Kreis vollzählig: bis heute ist keiner von uns abgelöst. Keiner hat sich selbst abgelöst; hierzu sind wir zu stolz. Genug, daß wir alle den Tod für das größte Glück ansehen. Sollen wir uns freuen, noch beisammen zu sein? oder vielmehr uns nur freuen in der Hoffnung, daß des Lebens Wirrsale bald genug unsern Kreis zersplittern, die Stürme des Lebens uns hier und dorthin fortreißen werden? – Fürwahr, diese Gedanken dürsten sich für unsre Gesellschaft eignen und auch am besten harmonieren mit der Festlichkeit der Stunde, mit dieser ganzen Umgebung. Denn dünkt euch das nicht schon sinnreich und bedeutungsvoll, daß der Fußboden unsres kleinen Gemachs nach Landes Sitte mit grünen Reisern bestreut ist, wie zu einem Begräbnis? Und kommt es uns nicht vor, als spende die umgebende Natur uns ihren Beifall, wenn wir auf den rings um uns tobenden Sturm, achten, wenn wir seiner mächtigen Stimme unser Ohr öffnen? Ja, laßt uns einen Augenblick verstummen und der Musik des Sturmes, seinem kecken Umlaufe, seiner kühn herausfordernden Sprache horchen; und dazu des trotzig empörten Meeres Gebrüll und des Waldes ängstliches Seufzen und das verzweiflungsvolle Gekrache der gegeneinander schlagenden Bäume, endlich auch das bange Gewimmer des Grases, in welchem die Winde wühlen! Die Menschen mögen behaupten, Gottes Stimme rede nicht aus dem vorüberbrausenden Sturme, sondern nur aus dem sanften Säuseln; aber unser Ohr ist ja gar nicht dafür gebaut, solch leises Gesäusel aufzufangen, wohl aber für das Getobe der Elemente. Und warum brechen sie nicht noch gewaltsamer hervor und machen ein Ende dem Leben und bei Welt und zugleich dieser Rede, welche wenigstens den Vorzug vor allem übrigen hat, daß sie nicht lange mehr dauert. Ja, möchte jener Strudel, welcher das innerste Prinzip und Zentrum der Welt ausmacht – obschon die Menschen es nicht merken, sondern essen und trinken, sich ehelichen und mehren unter sorglosem Treiben – möchte er in seiner elementaren Gewalt hervorbrausen! Möchte er in seinem ihm innewohnenden Grimme die Berge umstürzen, die Reiche und Staaten, die Denkmäler der Kultur und die klugen Anschläge[166] der Menschen! Möchte er sich herauswälzen unter jenem letzten furchtbaren Angstschrei, welcher sicherer, als die Posaune des Gerichts, das Ende aller Dinge ankündigt! Möchte er sich in Bewegung setzen und diese nackte Felsklippe, auf der wir stehen, im Wirbelwind vor sich hinjagen, so leicht, wie eine Flocke vor dem Odem in unsrer Nase!

Jedoch es siegt die Nacht, und der Tag wird kürzer, und die Hoffnung steigt. So füllt denn noch einmal die Gläser, liebe Trinkgenossen! Mit diesem Kelche grüße ich dich, ewige Mutter des Alls, schweigende Nacht! Aus dir entsprang alles; zu dir kehrt alles wieder zurück. So erbarme dich denn noch einmal über diese Welt; thue deinen finstern Mutterschoß wieder auf, alles in ihm zusammenzufassen, uns alle wohlversorgt zu bergen! Dich grüße ich, dunkle Nacht! ich grüße dich als Siegerin! und dieses ist mein Trost: denn du verkürzest alles, den Tag und die Zeit und das Leben, ja auch die Mühsal der Erinnerung in ewigem Vergessen!

Seit jener Zeit, als Lessing durch seine berühmte Abhandlung »Laokoon« die Grenzstreitigkeiten zwischen Poesie und Kunst entschied, darf es wohl als ein von allen Ästhetikern einstimmig anerkanntes Resultat gelten, wonach der Unterschied darin besteht, daß die bildende Kunst sich im Gebiete des Raumes bewegt, die Poesie im Gebiete der Zeit, daß jene das Ruhende hervorbringt, diese das Bewegliche. Was also der Gegenstand künstlerischer (plastischer) Darstellung werden soll, muß jene stille Durchsichtigkeit haben, daß das Innere in dem entsprechenden Äußern als seinem Spiegelbilde ruhe. Je weniger dies der Fall ist, desto schwieriger wird des Künstlers Aufgabe, bis ein solcher Unterschied sich geltend macht, welcher ihn lehrt, daß überhaupt keine Aufgabe mehr für ihn vorliegt.

Wenden wir das nicht sowohl Dargelegte, als eben nur leicht Hingeworfene, auf das Verhältnis zwischen Leid und Freude an, so wird man bald einsehen, daß die Freude sich weit leichter künstlerisch darstellen läßt, als Leib. Hiermit soll nun keineswegs geleugnet werden, daß Leid überhaupt künstlerisch darstellbar sei, wohl aber ausgesprochen,[167] daß man hierbei an einen Punkt gelangt, wo es darauf kommt, einen Gegensatz zwischen dem Innern und dem Äußern anzuerkennen, welcher die Darstellung durch die Kunst unmöglich macht. Dies liegt wiederum in dem innersten Wesen des Leides. Der Freude ist es eigen, daß sie sich offenbaren will, während das Leid sich verbergen, ja bisweilen selbst andre täuschen möchte. Die Freude ist mitteilend, gesellig, offenherzig, liebt es, sich zu äußern; das Leid ist verschlossen, stumm, einsam, und zieht sich gern in sich selbst zurück. Daß dem wirklich so ist, wird niemand in Abrede stellen, der das Leben zum Gegenstand seiner Beobachtung gemacht hat. Es gibt Menschen, die so organisiert sind, daß, sobald sie stärker affiziert werden, alles Blut ihnen zum Haupte strömt, und so die innere Bewegung im Äußern erscheint. Andre haben eine solche Organisation, daß das Blut alsdann zurückströmt, in die Herzkammern und in die innersten Organe hineinzudringen sucht. So ungefähr verhält es sich, was ihre Art sich zu äußern betrifft, mit Freude und Leid. Die vorhin zuerst geschilderte Organisation ist sehr viel leichter zu beobachten, als die letztere. Dort sieht man den leiblichen Ausdruck vor sich, die innere Bewegung wird im Äußern sichtbar; bei der andern Organisation wird sie nur geahnt. Die äußere Blässe ist gleichsam der Abschiedsgruß des Innern, so daß Gedanke und Phantasie unwillkürlich dem sich im tiefsten Hintergrunde verbergenden Flüchtling nacheilen. Vornehmlich gilt das von derjenigen Art des Leibes, welches ich hier näher zu betrachten vorhabe, derjenigen, die man das reflektierte Leid nennen darf. Hier enthält das Äußere höchstens nur einen Wink, welcher auf die Spur leitet, ja mitunter nicht einmal so viel. Künstlerisch läßt sich dieses Leid nicht darstellen: denn das Gleichgewicht zwischen dem Innern und dem Äußern ist gestört, so daß räumliche Bestimmungen auf dasselbe nicht anwendbar sind. Auch in andrer Hinsicht läßt es sich künstlerisch nicht darstellen, da es der erforderlichen, innern Stille entbehrt, vielmehr sich in beständiger Bewegung findet, welche – ohne es gerade innerlich zu bereichern – ihm nun einmal wesentlich ist. Wie ein Eichhörnchen in seinem Bauer, so rennt dieses Leid ruhelos um sich selbst herum, jedoch nicht ganz so einförmig, wie das genannte Tier, sondern bei[168] beständiger Abwechslung in der Kombination der innern Momente des Leides. Weil es keine Ruhe findet, nicht mit sich selbst einig wird, in keinem bestimmten, einzelnen Ausdrucke zu sich selbst kommt, darum kann man das reflektierte Leid plastisch nicht darstellen. Sowie der Kranke in seinem Schmerze sich bald auf die eine, bald auf die andre Seite wirst, so wendet das reflektierte Leid sich rastlos hier und dorthin, um seinen Gegenstand und seinen Ausdruck zu finden. Sobald das Leid Ruhe gewonnen hat, wird das Innere desselben je mehr und mehr sich auch nach außen herausarbeiten, im Äußern erkennbar und so zum Gegenstand künstlerischer Darstellung werden. Die Bewegung tritt alsdann von innen nach außen; das reflektierte Leid aber zieht sich nach innen, gleich dem Blute, welches von der Außenseite zurückjagt und nur in der flüchtig vorübereilenden Blässe sein Vorhandensein ahnen läßt.

Endlich findet es im Innersten eine Stelle, wo es verweilen zu können meint; und hiermit beginnt es seine ziemlich einförmige Bewegung. Gleich dem Pendel in der Uhr, schwingt es sich vor und zurück. Beständig fängt es seine Grübeleien von vorn an, verhört die Zeugen, prüft die verschiedenen Aussagen gegeneinander. Hat es auch schon hundertmal dasselbe gethan, fertig wird es nie. Das Einförmige hat im Laufe der Zeit etwas Betäubendes. Sowie der einförmige Fall der Dachtropfen, das immer gleiche Schnurren des Spinnrockens, sowie das monotone Geräusch von einem über unserm Kopfe mit abgemessenen Schritten auf und nieder gehenden Etagengaste eine betäubende Wirkung übt, so findet das reflektierte seid zuletzt eine Art Ruhe in jener Bewegung, welche ihm, wie eine illusorische Motion, zur Notwendigkeit wird. Zuletzt entsteht ein gewisses Gleichgewicht. Das Bedürfnis, dem Leide wie durch eine Explosion Luft zu machen, hört auf: das Äußere wird still und ruhig; und so sitzt in seinem innersten Winkel das Leid, wie ein wohlverwahrter Gefangener in einem unterirdischen Gefängnis, wo es ein Jahr nach dem andern verlebt, jetzt aus seiner Höhle heraus, jetzt wieder zurücktritt, niemals müde, seinen kurzem oder langem Weg zu laufen.

Wodurch wird denn das reflektierte Leid herbeigeführt? – Ein reflexionssüchtiges Individuum wird jedes Leid in ein reflektiertes[169] verwandeln; seine besondere Organisation macht es ihm unmöglich, unbefangen sich das Leid zu assimilieren. Dies ist indes ein krankhafter Zustand, welcher kein sonderliches Interesse einflößen kann, da auf diese Art jede Bagatelle eine Metamorphose erfahren kann, wodurch sie zu einem reflektierten Leide wird. Etwas andres ist es, wie das objektive Leid in dem Individuum selbst eine Reflexion erzeugt, durch welche das Leid eben zu einem reflektierten wird. Das ist überall der Fall, wo das objektive Leid in sich selbst nicht fertig ist, wo es einen Zweifel zurückläßt, welcher Art dieser auch sein möge. Hier steigt nun dem Nachdenkenden alsbald eine große Menge der Veranlassungen und Gestalten des Leides auf, um so größer, je mehr einer gelebt und erfahren hat, oder je mehr er geneigt ist, seinen Scharfsinn in solchen Experimenten zu üben. Ich beabsichtige hier, nur eine einzelne Seite hervorzuheben, wie sie sich gerade meiner Beobachtung dargeboten hat. Ist die Veranlassung des Leides ein Betrug, dann ist das objektive Leid so beschaffen, daß es in dem Individuum das reflektierte Leid erzeugt. Daß ein Betrug dieses wirklich ist, läßt sich oft ungemein schwer aufs Reine bringen. Und doch beruht alles hinauf. Solange dies zweifelhaft ist, solange findet das Leid keine Ruhe, sondern muß beständig in der Reflexion hin- und herwandern. Und wenn dieser Betrug, diese Täuschung nicht auf irgend einen äußern Umstand, sondern auf das ganze innere Leben eines Menschen, den innersten Kern seines Lebens abzielt, so steigert sich die Wahrscheinlichkeit, daß das reflektierte Leid anhalten wird. Was kann aber wohl eines Weibes Leben mit mehr Wahrheit heißen, als ihre Liebe? Wenn also das Leid einer unglücklichen Liebe seinen Grund in einem Betruge hat, so haben wir unbedingt mit einem reflektierten Leide zu thun, möge dieses nun ein ganzes Menschenleben beherrschen, oder von dem Individuum überwunden werden. Zwar ist unglückliche Liebe an und für sich eines Weibes tiefstes Leid; daraus folgt aber nicht, daß jede unglückliche Liebe ein reflektiertes Leib erzeugt. Wenn z.B. der Geliebte stirbt, oder sie vielleicht gar seine Gegenliebe findet, oder durch die Macht der Verhältnisse die Erreichung ihres Wunsches zur Unmöglichkeit wird: so ist die Veranlassung zum Leide freilich vorhanden, aber nicht zu[170] einem reflektierten, als nur Sofern die Betreffende selbst von vornherein krank ist, wodurch sie außerhalb unsers Interesses fällt. Darf sie dagegen nicht als krank gelten, dann erscheint ihr Leid als ein unmittelbares (natürlich unbefangenes); und als solches kann es Gegenstand plastischer Darstellung werden, während es der Kunst unmöglich bleibt, das reflektierte Leid, oder die Pointe desselben, zur Anschauung zu bringen. Das unmittelbare Leid ist nämlich Abdruck und Ausdruck des vom Leide hervorgebrachten Eindruckes; und beide kongruieren, gleich jenem Bilde, das Veronika auf ihrem Tuche behielt, und siehe! die heilige Schrift der Passion stand ausgeprägt in dem Äußern, schön und rein und lesbar für jedermann.

Also das reflektierte Leid kann kein Gegenstand künstlerischer Darstellung werden. Teils ist es nämlich nie einfach gegenwärtig, sondern beständig im Werden; teils ist das Äußere, das Sichtbare dabei ein Indifferentes, Gleichgültiges. Wenn demnach die Kunst sich nicht auf die Naivität beschränken will, von welcher man Beispiele in alten Büchern findet, wo man eine das, was sie vorstellen soll, ungefähr andeutende Figur erblickt, auf deren Brust eine Platte, ein Herz oder dergleichen sich zeigt, wo man dann alles bestens lesen kann: so muß man die poetische oder psychologische Behandlung anwenden, um auch dergleichen darzustellen.

Dieses reflektierte Leid ist es, das ich ans Licht hervorziehen und soweit als möglich in einigen vorgeführten Bildern anschaulich machen möchte. Ich nenne Schattenrisse, teils um sofort durch die Benennung daran zu erinnern, daß sie der Schottenseite des Lebens entnommen sind, teils weil sie, wie jeder Schattenriß, nicht unmittelbar sichtbar sind. Nehme ich eine Silhouette zur Hand, so bekomme ich zunächst davon keinen Eindruck, kann mir gar keine Vorstellung machen; erst wenn ich sie gegen die Wand halte, und nunmehr nicht das unmittelbare Bild, sondern das auf der Wand erscheinende betrachte, alsdann erst sehe ich sie. So ist auch das Bild, welches ich hier vorzeigen will, ein inneres, welches erst recht verständlich wird, indem ich durch das Äußere hindurchschaue. Das Äußere hat vielleicht nichts Auffallendes an sich; sondern erst, indem ich durch dasselbe hindurchschaue, erst dann entdecke ich das[171] innere Bild, also das, was ich zeigen will, ein Seelenbild, allzu sein, um äußerlich sichtbar zu werden, da es aus den leisesten Stimmungen gewebt ist. Sehe ich mir einen Bogen Papier an, so hat er für den ersten Blick vielleicht nichts Merkwürdiges; halte ich ihn aber gegen das Tageslicht, dann entdecke ich sein inneres Bild, welches gleichsam zu geistig ist, um unmittelbar gesehen zu werden. So heftet denn euren Blick, liebe Symparanekrômenoi, auf dieses innere Bild. Laßt euch nicht durch das Äußere stören, oder vielmehr, bringt es selber nicht hinein: denn was mich betrifft, ich ziehe es beständig beiseite, um besser ins Innere schauen zu können. Jedoch brauche ich hierzu diese Gesellschaft, deren Mitglied ich zu sein die Ehre habe, wohl nicht zu ermuntern. Denn wiewohl zur Jugend gehörig, sind wir doch alt genug, um durch das Äußere uns nicht täuschen zu lassen, oder dabei stehen zu bleiben. Oder sollte mein Bestreben etwa nicht mit dem Interesse unsrer Gesellschaft harmonieren, welche nur eine einzige Leidenschaft kennt, nämlich die Sympathie mit dem Geheimnis des Leides? Und auch wir bilden ja einen Orden; auch wir ziehen ja mitunter, abenteuernden Rittern gleich, in die Welt hinaus, ein jeder seines Weges, nicht um Ungetüme zu bekämpfen, oder der bedrängten Unschuld zu Hilfe zu eilen, oder uns in einem Liebesabenteuer zu versuchen. Alles dieses beschäftigt uns nicht, auch das letzte nicht: denn der Pfeil im Auge eines Weibes verwundet nicht unsre abgehärtet Brust; und das muntre Lachen lebensfroher Mädchen rührt uns nicht, wohl aber der geheime, stumme Wink des Leides. Mögen andre stolz darauf sein, daß keine Jungfrau weit und breit ihrer Liebenswürdigkeit widerstehen kann: wir wollen sie nicht beneiden; wir werben darauf Stolz sein, daß kein geheimes Leid unsere Aufmerksamkeit entgeht, keines so spröde, so stolz ist, daß wir nicht in seine verborgensten Schlupfwinkel siegreich eindringen sollten! Welcher Kampf nun der gefährlichere sei, welcher am meisten Kunst Voraussetze und am meisten Genuß verspreche, das wollen wir nicht untersuchen. Unsre Wahl ist geschehen: nur das Leid ist's, was wir lieben, was wir aussuchen, und überall, wo wir seine Spur entdecken, da gehen wir dieser nach, unerschrocken, unerschütterlich, bis es uns in seiner wirklichen Gestalt erscheint. Zu diesem Kampfe rüsten wir[172] uns, und in demselben üben wir uns täglich. Und in der That, so geheimnisvoll schleicht das Leid in dieser Welt umher, daß nur, wer sich von ihm sympathisch angezogen fühlt, ahnt, wo es vorhanden ist. Man geht über die Straße; das eine Haus gleicht in seinem Aussehen ganz dem andern: nur die erprobte Beobachtung ahnt, daß es in diesem Hause um die mitternächtliche Stunde sehr viel anders aussieht als in jenem. Dann wandert hier ein Unglücklicher umher, welcher keine Ruhe fand; er steigt die Treppen auf und ab, seine Fußtritte hallen wider in der Stille der Nacht. Man geht auf der Straße an einander vorüber; der eine sieht aus wie der andre, der andre aber, wie die Leute meistens aussehen; und nur der erfahrene Beobachter weiß, daß da drinnen im Kopfe ein Insasse haust, der mit der Außenwelt nichts zu schaffen hat, sondern nur in stillem Hausfleiße einsam dahinlebt. Das Äußere ist dann wohl Gegenstand unsrer Beobachtung, aber nicht unsers Interesses. So sitzt der Fischer und läßt unverwandt seinen Blick auf der Wasserflut ruhen; diese interessiert ihn aber nicht im mindesten, sondern nur, was sich im tiefen Grunde des Wassers regen mag. Das Äußere hat daher zwar Bedeutung für uns, aber nicht als Ausdruck des Innern, sondern nur als telegraphische Nachricht, daß in der Tiefe drunten sich etwas verbirgt. Wenn man ein Angesicht lange und aufmerksam betrachtet, so entdeckt man zuweilen gleichsam ein zweites Angesicht innerhalb desjenigen, das man eigentlich sieht. Dieses ist gewöhnlich ein untrügliches Zeichen, daß die Seele einen Emigranten in sich birgt, welcher sich von der Außenwelt zurückgezogen hat, um über einen verborgenen Schatz zu wachen. Das Angesicht, sonst ein Spiegel der Seele, nimmt hier eine Zweideutigkeit an, welche, in der Regel nur einen flüchtigen Moment dauernd, plastisch sich durchaus nicht darstellen läßt. Es gehört ein eignes Auge dazu, die Züge dieses Nebelbildes zu sehen, ein eigner Blick, um das untrügliche Indizium geheimen Leides zu erspähen. Dieser Blick ist begehrend, und doch so umsichtig; ängstigend und zwingend, und doch so teilnehmend; ausharrend und schlau, und doch so aufrichtig und wohlwollend; er lullt das Individuum in einen gewissen behaglichen Ermattungszustand ein, in welchem es sein Leid mit einer ähnlichen Wollust ergießt,[173] wie der langsam Verblutende sein Blut. Das Gegenwärtige ist vergessen, das Äußere durchbrochen, das Vergangene wieder auferstanden, der Atemzug des Leides erleichtert. Der Leidtragende findet Linderung, und der sympathische Ritter des Leides freut sich, gefunden zu haben, was er suchte: denn wir suchen ja nicht das Gegenwärtige, sondern das Vergangene, nicht die Freude, welche ja immer gegenwärtig ist, sondern das Leid, dessen Wesen es mit sich bringt, vorüberzugehen; und in dem gegenwärtigen Momente erblickt man es nur, sowie man einen Menschen etwa in dem Nu, wenn er in eine andre Straße umbiegt und verschwindet, ins Auge faßt.

Zuweilen versteckt sich jedoch das Leid noch tiefer, und das Äußere läßt uns nichts ahnen, nicht das mindeste. Lange kann es in solchem Falle unsrer Aufmerksamkeit nicht entgehen. Wenn alsdann aber zufällig eine Gebärde, ein Wort, ein Seufzer, ein Klang der Stimme, ein Zucken ums Auge, ein Erbeben der Lippen, ein Fehlgriff beim Händedruck, das sorgfältigst Verborgene verrät, dann erwacht die Leidenschaft, dann beginnt der Kampf. Da gilt's, Wachsamkeit zu üben und Ausdauer und Klugheit. Denn wer ist so erfinderisch, wie heimliches Leid? Aber ein lebenslänglich Gefangener hat ja in seiner Einsamkeit reichlich Zeit, vieles auszudenken. Und wer versteht es, sich so geschwind zu verstecken, wie geheimes Leid? Denn kein junges Mädchen kann in größerer Angst und Eile eine zufällig entblößte Brust verhüllen, wie das verborgene Leid, wenn es überrascht würde. Da ist Unerschrockenheit und Festigkeit erforderlich: denn man kämpft mit einem Proteus, welcher aber unterliegen muß, wenn man nur aushält. Mag es auch, gleich jenem Meeresmann der nordischen Sage, jetzt diese, dann jene Gestalt annehmen, um zu entschlüpfen; mag es wie eine Schlange sich in unsrer Hand winden, oder wie ein Löwe durch seinen Aufschrei uns erschrecken, oder sich in einen Baumstamm mit sausendem Laube, in ein wild aufrauschendes Gewässer, oder in ein sprühendes Feuer verwandeln: zuletzt muß der Proteus doch weissagen, zuletzt muß das Leid sich offenbaren.

Seht, dieses Abenteuern ist unsre Lust, unser Zeitvertreib, hierin uns zu üben, unsre Ritterschaft. Hierzu stehen wir, wie jene Raubritter, nächtens auf; hierfür wagen wir alles: denn keine Leidenschaft[174] ist so heftig, wie die der Sympathie. Auch brauchen wir nicht zu fürchten, daß es an Abenteuern uns fehlen werde, wohl aber, daß wir auf einen allzu scharfen, ja undurchdringlichen Widerstand stoßen. Denn, sowie die Naturforscher erzählen, daß man beim Sprengen riesiger Feldsteine, welche Jahrtausenden getrotzt, mitten darin ein lebendiges Tier vorgefunden habe, das unentdeckt, man weiß nicht wie? hier sein Leben gefristet hatte; so könnte es ja auch Menschen geben, deren Äußeres, einem felsharten Berge gleich, das Leben eines ewig geborgenen Leides in sich birgt. Jedoch darf auch dies unsre Leidenschaft nicht dämpfen, noch unsern Eifer abkühlen; im Gegenteil soll es ihn entflammen. Denn unsre Leidenschaft ist ja keine Neugier, welche sich am Äußern, an der Oberfläche sättigt, vielmehr eine sympathische Unruhe, welche Nieren und geheime Gedanken aufspürt, welche durch Zauber und Beschwörung eigner Art das Verborgene zu Tage bringt, selbst wenn der Tod es unserm Blicke entzogen hat. Vor der Schlacht – so heißt es – kam Saul verkleidet zu der Hexe von Endor, und verlangte, sie solle Samuels Bild vor ihm aufsteigen lassen. Gewiß war es nicht bloße Neugier, die ihn antrieb, nicht bloße Lust, Samuels leibhafte Gestalt vor sich zu sehen; sondern seine Gedanken wollte er erfahren, und unruhig wartete er, bis er des strengen Richters verdammende Stimme vernahm. So wird's denn gewiß auch nicht bloße Neugier sein, welche den einen und andern von euch, liebe Symparanekrômenoi, zur Betrachtung der Bilder bewegt, die ich vor euren Augen vorüberführen werde. Denn obgleich ich sie mit gegebenen, dichterischen Namen bezeichne, so soll doch keineswegs hiermit angedeutet werden, daß nur diese poetischen Figuren vor euch erscheinen. Nein, die Namen müssen als nomina appellativa angesehen werden; und von meiner Seite wird nichts im Wege stehen, wenn einer oder der andre unter euch sich versucht fühlen sollte, jedem einzelnen der Bilder einen andern Namen beizulegen, einen ihm wertem Namen, oder einen solchen, der ihm vielleicht natürlicher fällt.[175]

Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885, S. 165-176.
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