Vorwort

[1] Vielleicht wandelte dich, geneigter Leser, zuweilen ein kleiner Zweifel an, ob es mit dem bekannten philosophischen Satze sich ganz richtig verhalte: »Das Äußere ist das Innere, das Innere das Äußere«. Du selbst magst ein Geheimnis bei dir bewahrt haben, von welchem du dir sagtest: es sei dir in der Freude, die es birgt, oder seinem Schmerze, allzu wert, als daß du andere in dasselbe einweihen könntest. Dein Leben hat dich vielleicht mit Menschen in Berührung gebracht, von denen du ahntest, daß so etwas in ihnen vorgehe, ohne daß du, sei's mit Gewalt, sei's durch Überlistung, im stande warst, ihr Verborgenes ans Licht zu bringen. Vielleicht trifft von den angeführten Fällen keiner bei dir oder in deinem Leben zu, und dennoch ist jener Zweifel dir nicht unbekannt; hin und wieder schwebte er wie ein flüchtiger Schatten an deiner Seele vorüber. Ein solcher Zweifel kommt und geht, und niemand weiß, woher er kommt, oder wohin er fährt. Ich an meinem Teile war über diesen Satz der Philosophie von jeher ketzerisch gesinnt, und habe mich daher früh gewöhnt, so gut ich konnte, selbst Beobachtungen und Nachforschungen anzustellen. Ich fragte auch bei solchen Autoren nach, deren Anschauungsweise ich in diesen Dingen teilte. Kurz, ich habe gethan, was irgend in meiner Macht stand, um der Empfindung, welche philosophischen Schriften bei mir zurückließen, daß ihnen etwas fehle, abzuhelfen. Mit der Zeit ward das Gehör mein liebster Sinn. Denn sowie unsre Stimme die Offenbarung des für das[1] Äußere einmal inkommensurablen Innern, so ist unser Ohr das Werkzeug, mit dem dieses Innere aufgefaßt wird, das Gehör der Sinn, durch den wir uns dieses aneignen. So oft ich nun einen Widerspruch entdeckte zwischen dem Gesehenen und dem Gehörten, jedesmal fand ich meinem Zweifel bestätigt, und meine Lust an eigner Beobachtung nahm hiedurch zu. Ein katholischer Beichtvater ist durch ein Gitter von dem Beichtkinde getrennt: er sieht nicht, er hört bloß. Und unter dem Zuhören gestaltet er sich allmählich selbst ein Äußeres, das dem Gehörten entspricht; also gerät er in keinen Widerspruch. Anders dagegen, wenn man zu gleicher Zeit sieht und hört, und dennoch ein Gitter zwischen sich und dem Redenden gewahrt. Das Resultat meiner zu solchem Zwecke angestellten Beobachtungen ist zu verschiedenen Zeiten ein sehr verschiedenes gewesen. Bald hatte ich das Glück auf meiner Seite, bald nicht; und Glück gehört immer dazu, um auf diesem Wege einige Ausbeute zu gewinnen. Indessen ging die Lust, meine Nachforschungen fortzusetzen, mir nie verloren. War ich in einem Falle nahe daran, meine Ausdauer zu bereuen, so krönte wieder in einem andern Falle das Glück meine Bestrebungen. Solch unerwartetes Glück war es, welches mich auf überaus seltsame Art in den Besitz der Papiere gesetzt hat, die ich hiemit mich beehre, dem lesenden Publikum vorzulegen. Mittels dieser Papiere bekam ich Gelegenheit, einen Einblick zu thun in das Leben zweier Menschen; und dieser Einblick bestärkte meinen Zweifel, daß das Äußere ohne weiteres auch das Innere sein solle. Besonders gilt dies von dem einen der beiden. Sein Äußeres stand mit seinem Inneren in völligem Widerspruch. Auch von dem andern gilt es bis zu einem gewissen Grade, sofern er nämlich unter einem ziemlich unbedeutenden Äußern ein bedeutendes Inneres verbarg.

Jedoch dürfte es das beste sein, daß ich der Ordnung halber zunächst erzähle, wie ich in den Besitz dieser Papiere gekommen bin. Heute ist es ungefähr sieben Jahre her, als ich bei einem Trödler hier in der Stadt einen s. g. Sekretär sah, der sogleich da erste Mal, da er mir in die Augen fiel, meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er war nicht von moderner Arbeit, ziemlich gebraucht; dennoch fesselte er mich. Für diesen Eindruck einen Grund anzuführen, ist mir[2] unmöglich; aber etwas Ähnliches haben wohl die meisten in ihrem Leben erfahren. Mein täglicher Weg führte mich bei dem Trödler und seinem Sekretär vorüber; und niemals unterließ ich im Vorbeigehen einen Blick nach diese zu werfen. Allmählich bekam nun der Sekretär für mein Inneres eine Art Geschichte: ihn zu sehen, ward mir zu einer Notwendigkeit, und so schlug ich denn, wenn ein ungewöhnlicher Weg zu machen war, ihm zu Gefallen unbedenklich einen Umweg ein. Je öfter ich ihn betrachtete, desto stärkeres Gelüste erwachte, ihn zu besitzen. Ich sagte mir freilich das sei ein seltsames Gelüste, da ich solches Möbel schlechterdings nicht brauche. Es war Verschwendung, es anzuschaffen. Jedoch bekanntlich sind die Gelüste von sophistischer Natur. Ich machte mir bei dem Trödler ein Geschäft, fragte nach andern Dingen, und im Weggehen that ich flüchtig auf den Sekretär ein Gebot. Ich dachte, möglicherweise schlüge der Tödler ein; so wäre es ein Zufall gewesen, der das Möbel mir in die Hände spielte. Es geschah wirklich nicht des lieben Geldes wegen, daß ich mich so benahm; nein, ich that so meines Gewissens halber. Es mißlang: der Trödler war ungewöhnlich entschieden. Wiederum ging ich eine Zeitlang täglich vorüber und blickte mit verliebten Augen nach dem Sekretär. »Du mußt dich entschließen,« dachte ich; »gesetzt, er würde verkauft, so hättest du das Nachsehen; und selbst, wenn's dir glückte, seiner wieder habhaft zu werden, so wäre es doch immer nur hinterdrein, und du bekämest nie wieder von ihm den nämlichen Eindruck.« Mir klopfte das Herz, als ich bei dem Trödler eintrat. Der Sekretär wurde gekauft und sofort bezahlt. »Dieses soll das letzte Mal sein,« dachte ich, »daß du so verschwenderisch bist! Ja, es ist ein Glück, daß du ihn gekauft hast; denn so oft du ihn ansiehst, wirst du daran denken, wie verschwenderisch du gewesen bist; mit dem Sekretär soll in deinem Leben, deinem Haushalt ein neuer Abschnitt beginnen.« – Ach, das Gelüste weiß schöne Worte zu machen, und die guten Vorsätze sind immer bei der Hand.

Der Sekretär wurde also auf mein Zimmer gesetzt; und sowie ich während der ersten Zeit der Verliebtheit meine Freude daran hatte, von der Straße her zu betrachten, so wandelte ich jetzt zu Hause an ihm vorüber. Nach und nach lernte ich sein ganzen reichen[3] Inhalt kennen, seine vielen Schubläden und Versteckte; und in jeder Hinsicht freute ich mich an meinem Schreibtisch. Doch sollte es nicht so fortgehen. Im Sommer 1836 erlaubten mir meine Berufsarbeiten, auf acht Tage eine kleine Landpartie zu machen. Der Postillion war zu Schlag 5 Uhr früh bestellt. Was ich an Effekten mitzunehmen hatte, war am Abend vorher eigepackt: alles war in Ordnung. Schon um 4 Uhr erwachte ich; aber das Bild der schönen Landschaften, die ich besuchen sollte, wirkte auf mich so berauschend, daß ich wieder in Schlummer oder ins Träumen versank. Mein Diener mochte mir vermutlich gern allen Schlaf gönnen, den ich bekommen könne, denn erst um 6 1/2 Uhr ruft er mich. Der Postillion bläst schon; und obgleich sonst gerade nicht geneigt, den Befehlen andrer zu gehorchen, habe ich doch immer mit einem Postillion und seinen so poetisch klingenden Weise eine Ausnahme gemacht. Schnell war ich in meinen Kleidern; ich stand schon in der Thür, als mir einfiel: Hast du auch Geld genug in deinem Taschenbuch? Hierin fand sich nicht viel. Ich schließe den Sekretär auf, um meine Geldschublade herauszuziehen, und mitzunehmen, was der Hausstand vermag. Siehe, da will die Schublade sich nicht rühren. Vergeblich ist jedes angewandte Mittel. Wie fatal! gerade in dem Augenblicke, als in meinen Ohren noch die lockenden Klänge des Posthorns widerhallen, auf solche Hindernisse zu stoßen! Das Blut stieg mir zu Kopfe; ich wurde erbittert. Sowie Xerxes das Meer peitschen ließ, so beschloß auch ich jetzt eine schreckliche Rache. Ein Handbeil wurde herbeigeholt. Mit diesem brachte ich dem Sekretär einen Hieb bei, der zum Entsetzen war. Schlug ich fehl in meinem Jähzorn, oder war die Schublade ebenso starrsinnig, wie ich, genug, die beabsichtigte Wirkung blieb aus. Dagegen geschah etwas anders. Hatte mein Hieb gerade auf die Stelle getroffen, oder that es die Erschütterung in der ganzen Architektur des Sekretärs? ich weiß es nicht; aber so viel weiß ich, daß eine geheime Thür aufsprang, welche ich bisher nie bemerkt hatte. Diese gehörte zu einem Verschluß, dessen ich natürlich ebensowenig je gewahr geworden war. Hier fand ich nun zu meiner großen Überraschung eine Masse Papiere – eben die Papiere, die den Inhalt gegenwärtiger Schrift ausmachen. Mein Plan blieb[4] derselbe. Auf der ersten Station wollte ich eine Anleihe machen. In größter Eile wurde ein Mahagonikasten, in welchem sonst ein Paar Pistolen zu liegen pflegte, ausgeleert, und die Papiere hier deponiert. Die fröhliche Stimmung hatte gesiegt, und einen unerwarteten Zuwachs erhalten. In meinem Herzen bat ich den Sekretär und Verzeihung ob der unsanften Verhandlung, während ich in meinem vorigen Zweifel und in der Ansicht bestärkt wurde, daß das Äußere doch nicht das Innere sei, und mein Erfahrungssatz bekräftigt, daß Glück dazu gehört, solche Entdeckungen zu machen.

In der Mitte des Vormittags erreichte ich Hilleröd, das zwischen Meer und Wald gelegene, brachte meine Finanzen in Ordnung und ließ mich von der herrlichen Gegend hinnehmen. Schon am folgenden Morgen trat ich meine Exkursionen an, welche jetzt einen ganz andern Charakter annahmen, als ich ursprünglich gedacht hatte. Mein Diener folgte mir mit dem Mahagonikasten. Ich suchte mir eine romantische Stelle im Walde aus, wo ich gegen eine Überraschung so geschützt wie möglich lag. Hier holte ich denn meine Dokumente hervor. Mein Wirt, welcher auf diese häufigen Wanderungen in Gesellschaft des Mahagonikastens aufmerksam geworden war, meinte: ich übte mich vielleicht im Pistolenschießen. Für diese Äußerung war ich ihm verbunden und ließ ihn in seinem Glauben.

Ein flüchtiger Blick in die entdeckten Papiere ließ mich ohne Mühe erkennen, daß sie zweierlei Schichten bildeten, deren Verschiedenheit auch in ihrem Aussehen ausprägt war. Die eine Hälfte war auf eine Art Postvelin geschrieben, in Quatro, mit ziemlich breitem Rand. Die Handschrift war leserlich, zuweilen sogar etwas zierlich, an einzelnen Stellen etwas beschmutzt. Die andere war auf ganzen Bogen Amtsstuben-Papiers mit gespalteten Kolumnen geschrieben, so wie gerichtliche Aktenstücke und anders der Art geschrieben wird. Die Handschrift war deutlich, etwas langgezogen, einförmig und gleichmäßig; sie schien von einem Geschäftsmanne herzurühren. Auch dem Inhalte nach erscheinen die Abteilungen verschiedenartig. Die erste enthielt eine große Anzahl größerer und kleinerer ästhetischer Abhandlungen; die zweite bestand aus zwei längeren Untersuchungen und einer kürzeren, sämtlich von ethischem Inhalte, wie es mir[5] vorkam, und zwar in Briefform. Bei genauerer Durchsicht fand ich diese Verschiedenheit vollkommen bestätigt. Die zweite Schicht Papiere besteht nämlich aus Briefen, geschrieben an den Verfasser der ersten Hälfte.

Es wird jedoch nötig, einen kürzeren Ausdruck zur Verzeichnung der zwei Verfasser zu finden. Zu diesem Zwecke habe ich die Papiere sehr sorgfältig durchmustert, aber nichts, oder so gut wie nichts, oder so gut wie nichts gefunden. Was den ersten von den beiden Verfassern, den Ästhetiker, betrifft, so findet sich über seine Person gar keine Auskunft. Hinsichtlich des andern, des Briefschreibers, erfährt man, daß er Wilhelm gehießen hat und Gerichtsassessor war, ohne daß jedoch angegeben wird, an welchem Gericht. Wollte ich mich nun genau dem Gegebenen anschließen und ihn Wilhelm nenne, so würde mir doch für den ersten eine dem entsprechende Beziehung fehlen: ich müßte ihm willkürlich irgend einen Namen beilegen. So habe ich's denn für das beste gehalten, den ersteren A. zu nennen, den zweiten aber B.

Außer den im ersten Konvolut befindlichen Abhandlungen fand sich, zwischen die Papiere eingestreut, eine Menge Zettel oder Papierschnitzel, auf welchen Aphriorismen, lyrische Ergüsse, Reflexionen geschrieben standen. Schon die Handschrift bewies, daß sie jenem A. gehörten, und der Inhalt bestätigte das.

Ich suchte nun die Papiere aufs beste zu ordnen. Mit B.s Handschrift war dies leicht geschehen. Ein Brief weist auf den andern zurück. Indem zweiten Briefe begegnet einem ein Citat aus dem ersten; der dritte Brief setzt zwei frühere voraus.

A.s Papiere zu ordnen, war nicht so leicht. Daher habe ich die Ordnung vom Zufalle bestimmen lassen; das will sagen: ich habe sie in Ordnung, in der ich sie vorstand, belassen, natürlich ohne entscheiden zu können, ob diese Ordnung chronologischen Wert, oder doch eine ideelle Bedeutung habe. Die Papierschnitzel lagen lose in dem Verschluß; ihnen mußte ich daher einen Platz anweisen. Und zwar ließ ich sie voranstehen, weil es mir vorkam, sie ließen sich am besten als die vorläufigen, sprühenden Funken dessen ansehen, was in den großen Aufsätzen mehr zusammenhängend entwickelt wird. Ich[6] habe sie Diapsalma überschrieben und als eine Art Motto hinzufügt: ad se ipsum (d. h. zu sich selbst). Dieser Titel und dieses Motto sind gewissermaßen von mir, und doch nicht von mir. Von mir sind sie, sofern sie auf die ganze Sammlung angewandt sind; dagegen gehören sie eigentlich A. selbst: denn auf einem der Zettel stand das Wort: Diapsalma geschrieben und auf zweien die Worte: ad se ipsum. Auch einen kleinen französischen Vers, welcher über einem jener Aphorismen geschrieben stand, habe ich auf der Innenseit des Titelblattes abdrucken lassen, ähnlich wie A. selbst es öfter ge macht hat. Da nun die meisten Aphorismen einen lyrischen Zuschnitt haben, so hielt ich es für ganz angemessen, das Wort Diapsalma1 als Haupttitel zu verwenden. Sollte der Leser die Wahl eine unglückliche nennen, so bin ich der Wahrheit schuldig zu bekennen, daß sie mein Einfall ist, daß aber A. selbst das Wort von dem einzelnen Aphorism, über dem es zu lesen war, mit Geschmack gebraucht hat. Was die Aufeinanderfolge der Aphriorismen betrifft, so ließ ich den Zufall walten. Daß die einzelnen Äußerungen oft einander widersprechen, fand ich völlig in der Ordnung: denn das rührt von der wechselnden Stimmung her. Sie so zusammenzustellen, daß die Widersprüche weniger in die Augen fielen, schien mir der Mühe nicht wert. Ich folgte dem Zufalle; und ein Zufall ist es auch, welcher aber meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, daß der erste und der letzte Aphorismen einander einigermaßen entsprechen. Der eine ist gleichsam durchdrungen von der Empfindungen des Schmerzlichen, das darin liegt, ein Dichter zu sein; der andere genießt die Befriedigung, die es gewährt, die Lacher immer auf seiner Seite zu haben.[7]

Was die ästhetische Abhandlungen von A. angeht, so habe ich nichts Besondres in bezug auf sie hervorzuheben. Sie lagen alle druckfertig da; und soweit sie die eine und andere Schwierigkeit enthalten, muß ich sie für sich selbst reden lassen. Für meine Person habe ich zu bemerken, daß ich den griechischen Citaten, die sich hin und wider vorfinden, eine Übersetzung hinzugefügt habe, die ich dem einen oder andern der besseren deutschen Übersetzer entlehnt habe.

Das letzte der A.-Papiere ist eine Erzählung, betitelt: »Des Verführers Tagebuch.« Hier stoßen wir auf neue Schwierigkeiten, sofern A. sich als Verfasser angibt, sondern nur als Herausgeber. Das ist ein alter Novellistenkniff, gegen welchen ich nichts weiter einzuwenden hätte, würde nur nicht meine Stellung zur Sache dadurch so verwickelt: denn nun liegt der eine Autor hier in dem andern, gerade wie die Schachteln in dem chinesischen Schachtelspiel. Näher zu erörtern, was mich in meiner Meinung bestärkt, ist hier nicht am Orte; nur so viel will ich bemerken, daß die in A.s Vorwort herrschende Stimmung einigermaßen den Dichter verrät. In der That scheint dem A. von seiner einigen Dichtung bange geworden zu sein, so daß sie, einem unruhigen Traume gleich, ihn zu ängstigen fortfährt, auch während sie erzählt wird. War es eine wirkliche Begebenheit, deren Mitwisser er gewesen, nun, so ist es mir auffallend, daß jene Vorrede nichts von einer Freude merken läßt, nämlich darüber, die Idee, welche ihm öfter vorgeschwebt hatte, hier realisiert zu sehen. Angedeutet findet sich die Idee des Verführers sowohl in dem Aufsatze über das Unmittelbar-Erotische, wie auch in »den Schattenrissen«, jene Idee nämlich, daß der Gestalt des Don Juan ein solcher reflektierter Verführer entspreche, wie er in die Kategorie des »Interessanten« gehöre, wonach also nicht in Frage komme, wie viele er verführt, sondern wie er's anfängt. Von einer derartigen Freude finde ich in der Vorrede keine Spur, wohl aber, wie bemerkt, ein Zittern, einen Schauder, welcher gar wohl seine Ursache in dem dichterischen Verhältnis zu jener Idee haben kann. Und daß es dem A. so ergangen ist, wundert mich nicht: denn auch mir, der doch mit dieser Erzählung gar nicht zu thun hat, ja von dem ursprünglichen Verfasser durch zwei Glieder entfernt ist, auch mir selbst ward zuweilen[8] ganz seltsam zu Mute, wenn ich in der Stille der Nacht mich mit diesen Papieren beschäftigt hatte. Es war mir, als wandle der Verführer einem Schatten gleich durch mein Zimmer, als hefte er auf mich einen dämonischen Blick und spreche: »Nun, Sie wollen meine Papiere herausgeben! Das ist übrigens von Ihnen unverantwortlich: Sie jagen ja alle lieben Mädchen Angst ein. Indessen, wie sich von selbst versteht, dafür machen Sie mich und meinesgleichen unschädlich. Darin, mein Herr, irren Sie sich jedoch: denn ich verändere nur die Methode: dadurch werden meine Chancen nur verbessert. Wie laufen einem die kleinen Fräulein scharenweis in die Arme, sobald sie den verführerischen Namen: ein Verführer! zu hören bekommen. Geben Sie mir ein Halbjahr: und ich bringe eine Geschichte zuwege, die interessanter sein soll, als alles, was bisher erlebt habe. Ich stelle mir ein junges, entschlossenes, geniales Mädchen vor, wie sie die ungewöhnliche Idee faßt, ihr ganzes Geschlecht an mir zu rächen. Sie meint, sie werde mich zwingen können, werde mich die Schmerzen unglücklicher Liebe kosten lassen. Sehen Sie, das ist gerade ein Mädchen für mich. Geht sie etwa selbst nicht genug auf ihre Idee ein, ich werde ihr schon zu Hilfe kommen. Ich werde mich winden wie ein Aal. Und habe ich sie auf den Punkt gebracht, wo ich sie haben will: dann gehört sie mir.«

Jedoch, vielleicht habe ich schon meine Stellung als Herausgeber gemißbracht, indem ich den Lesern meine persönlichen Betrachtungen aufdringe. Die Veranlassung muß zu meiner Entschuldigung dienen. Ich ließ mich eben hinreißen durch das Mißliche meiner Stellung, was darin liegt, daß A. sich nur als Herausgeber, nicht als Verfasser jener Erzählung bezeichnet.

Übrigens habe ich, jedoch nur in meiner Qualität als Herausgeber, über diese Erzählung etwas hinzuzufügen. Ich glaube nämlich eine Zeitbestimmung in ihr zu entdecken. Im Tagebuch findet sich hin und wieder ein Datum; was dagegen fehlt, ist eine Jahreszahl. Danach scheint's, daß nicht weiter zu kommen sei. Indem ich aber die einzelnen Datums mir genauer ansah, glaubte ich einen Wink zu gewahren. Freilich ist es ausgemacht, daß jedes Jahr einen 7. April, einen 3. Juli, einen 2. August etc. hat; aber nicht jeder[9] 7. April fällt auf einen Montag. Ich habe nun nachgerechnet und gefunden, daß dieses Jahre 1834 zutrifft. Ob A. an dieses Jahr gedacht hat, kann ich nicht entscheiden, ich sollte es kaum glauben. »Also war Montag,« beginnt ein Stück der Erzählung, womit denn eine Zeitbestimmung gegeben wird. Dagegen ist jeder Versuch, den ich bisher anstellte, mit Hilfe derselben die Zeit der übrigen Abhandlungen zu bestimmen, mißlungen.

Was B.s Papiere betrifft, so ordnen sie sich leicht und natürlich. Dagegen habe ich mir erlaubt, sie zu betiteln, nachdem die Briefform den Verfasser gehindert hat, diesen Untersuchungen eine Überschrift zu geben, für welche ich also verantwortlich bin.

B.s Manuskript habe ich sorgfältig wie ein Aktenstück betrachtet. Selbst Soglosigkeiten, wie sie ja einem Briefschreiber begegnen, habe ich stehen lassen, und nicht im Berichtigen zu weit zu gehen. Wenn B. dafür hält, daß von hundert jungen Leuten, die in der Welt umherirren, 99 durch Frauen gerettet werden, und nur einer durch die göttliche Gnade, so sieht man leicht, daß er in der Rechnung nicht ganz genau gewesen ist, sofern er keinen Platz läßt für die, welche verloren gehen. Wie leicht wäre es gewesen, eine kleine Änderung vorzunehmen; ich meine aber, daß etwas weit Schöneres in B.s Fehlrechnung liegt. Und wenn er einmal einen griechischen Weisen Myson anführt, welcher das seltene Glück gehabt habe, unter die sieben Weisen gezählt zu werden: woher hatte er einen so ungewöhnliche Notiz? Nun, irrte nicht, da ich auf den alten Litterarhistoriker Diogenes von Laerte riet, daß dieser ihn etwas in die Irre geführt habe. Allerdings herrscht bei den Alten einige Unsicherheit darüber, welches die sieben Weisen gewesen seien. Jedoch habe ich's auch hier der Mühe nicht wert gefunden, etwas zu ändern. Es schien mir, daß seine Bemerkung, wenn auch nicht historischen, einen andern Wert hatte. –

Schon vor fünf Jahren hatte ich die Papiere so geordnet, wie sie jetzt vorliegen, und es war beschlossen, sie in Druck zu geben. Indessen fand ich es schicklich, noch einige Zeit zu warten, wofür gerade fünf Jahre mir als passendes Spatium erschienen. Diese fünf Jahre sind verlaufen, und ich knüpfe da wieder an, wo ich damals[10] abbrach. – Daß ich kein Mittel, den Verfassern auf die Spur zu kommen, unbenutzt ließ, das bedarf für den Leser wohl keiner Versicherung. Der Trödler führte kein Buch, was ja auch selten von dieser Art Leuten geschieht. Wem das Möbel gehört habe, wußte er nicht; er meinte es auf einer gemischten Auktion gekauft zu haben. Die Erinnerung an meine vielen vergeblichen Versuche ist mir selbst verdrießlich genug: den Leser will ich mit der Aufzählung derselben nicht ermüden. In das Resultat kann ich dagegen den Leser in aller Kürze einweihen. Das Resultat war – nichts.

Ein Bedenken erwachte jedoch; ich spreche es offenherzig aus. Machte ich mich einer Indiskretion schuldig gegen die unbekannten Verfasser? Je vertrauter ich indes mit den Papieren ward, desto mehr schwand jenes Bedenken. Sie ließen nirgends auf eine oder andre Persönlichkeit raten. Vorausgesetzt raten. Vorausgesetzt also, daß die unbekannten Verfasser noch existierten, daß sie hier in der Residenz lebten, daß die unerwartete Bekanntschaft mit ihren eignen Papieren machten, so würde dennoch, falls sie selbst sich nur ferner schweigend verhielten, aus der Herausgabe nichts resultieren. Denn von diesen Papieren gilt es im strengsten Sinne, was man von allem Gedrückten zu sagen pflegt: sie schweigen.

Auch fiel mir ein, diese Papiere könnten als Geldwerte in Betracht kommen. Ein Honorar, als wäre ich der Verfasser, für mich zu beanspruchen, lag mir fern. Die Sache war indes geordnet. Sowie dort in der »Weißen Dame« die ehrlichen schottischen Bauern sich entschließen, das Gut zu kaufen, um es danach den Grafen von Evenel zu verehren, wenn diese ein mal zurückkehren sollten, so beschloß ich, das mir als Herausgeber etwa bewilligte Honorar auf Zinsen zu legen, um es den unbekannten Verfassern, falls sie sich eines Tages melden sollten, nebst Zins und Zinseszinsen, zu überantworten. Der Leser wird über meine Naivität lächeln. Ist doch selbst in Dänemark ein Honorar, wie es dem Verfasser zu gute kommt, kein Landgut, und die Unbekannten müßten lange fortbleiben, wenn ihr Honorar, mit allen Zinsen, als Geldwert in Betracht käme. Mein Gewissensbedenken wurde somit auf die leichteste Weise gehoben.[11]

Aber nur erübrigte noch eins: diesen Papieren einen Titel mitzugeben. Sollte ich sie bloß als »hinterlassene«, als »gefundene«, als »verloren gegangene« Papiere bezeichnen, und bekanntlich gibt's der Varianten noch mehr; aber keiner von diesen Titeln sagte mir zu. So habe ich mir denn eine Freiheit, einen Betrug gestattet, von welchem ich suchen werde, Rechenschaft zu geben. Unter der unausgesetzten Beschäftigung mit diesen Papieren ging mir ein Licht auf: man könnte ihnen eine neue Seite abgewinnen, wenn man sie als einem und demselben Menschen angehörig betrachte. Ich weiß recht wohl, was sich alles dagegen einwenden läßt: es sei ungeschichtlich, es sei unwahrscheinlich, ja ungereimt, daß derselbe Mensch beide Hälften verfaßt haben sollte, auch wenn der Leser sich zu dem Wortspiele versucht fühlen sollte, daß, wer A. gesagt, auch B. sagen müsse. Indessen habe ich meinen Gedanken nicht aufgeben mögen. Der Verfasser würde also dann ein Mensch sein, der in seinem eignen Leben beide Richtungen durchgemacht oder doch in beide sich hineingedacht hätte. A.s Papiere zeigen uns nämlich eine Reihe von Ansätzen und Anläufen zu einer Lebensanschauung, bloß vom ästhetischen Gesichtspunkte aus. Eine in sich zusammenhängende ästhetische Lebensanschauung läßt sich schwerlich vortragen. B.s Papiere enthalten eine durchgeführte ethische Lebensanschauung. – Je länger ich jenem Gedanken nachsann, desto klarer ward es mir, daß er sich wohl dazu eigne, den Titel zu bestimmen. Der Titel, den ich gewählt habe, drückt eben das Gesagte aus. Was der Leser etwa dadurch verliert, kann nicht von Belag sein. Er mag bei der Lektüre immerhin den Titel vergessen. Ist er mit der Lektüre fertig, alsdann kann er vielleicht an den Titel denken. Dieser wird ihn dann erlösen von Fragen, wie sie ihm zuletzt aufsteigen mochten: ist A. wirklich eines Besseren belehrt? hat er bereut? hat B. gesiegt? oder ist das Ende vom Liede etwa gewesen, daß B. zuletzt überging zu A.s Ansichten? In dieser Hinsicht haben nämlich diese Papiere keinen Abschluß. Findet man das nicht in Ordnung, so ist man doch nicht berechtigt zu sagen: Es ist ein Fehler! Man muß es eher ein Unglück nenne. Ich für mein Teil halte es für ein Glück. Findet man nicht zuweilen Novellen, in denen gewisse Personen sich einander entgegengesetzte[12] Lebensansichten vorgetragen? Das Finale pflegt zu sein, daß eine den andern überzeugt. Während die entwickelte Anschauung für sich selbst sprechen sollte, wird der Leser mit dem geschichtlichen Resultate bereichert, daß der andre sich habe überzeugen lassen. Ich muß es für ein Glück halten, daß diese Papiere in jener Hinsicht keinen Aufschluß geben. Ob A. seine ästhetische Abhandlungen geschrieben hat, nachdem er B.s Briefe empfangen, ob seine Seele, auch nach dieser Zeit, nicht abgelassen hat, sich in wilder Zuchtlosigkeit umherzutummeln, oder ob sie sich hat beruhigen lassen, darüber vermag ich gar keinen Aufschluß zu geben, da die Papiere keinen solchen enthalten. Auch findet sich nicht die leiseste Andeutung, wie's dem B. ergangen, ob er die Kraft besessen, seine höhere Anschauung festzuhalten, oder nicht. Hat man das Buch gelesen, so sind beide, A. sowohl als B., vergessen; nur die verschiedene Anschauungen stehen einander gegenüber und erwarten keine schließliche Entscheidung in der einen oder andern bestimmten Persönlichkeit.

Weiter habe ich nichts zu bemerken; nur fällt mir ein, daß die geehrten Verfasser, wenn sie von meinem Vorhabenden wüßten, vielleicht den Wunsch haben würden, ihre Papiere mit einigen Worten an den Leser zu begleiten. Daher will ich ein paar Worte mit möglichst zurückhaltender Feder hinzufügen. A. würde wohl gegen die Herausgeber seine Papiere nichts einzuwenden haben; dem Leser würde er vermutlich zurufen: »Lies sie, oder lies sie nicht; du wirst beides bereuen.« Was B. sagen würde, möchte schwer anzugeben sein. Vielleicht würde er mir den einen oder andern Vorwurf machen, namentlich wegen der Veröffentlichung von A.s Papieren; er würde mich fühlen lassen, daß er seine Hände in Unschuld waschen könne. Nachdem er dies gethan, würde er vielleicht diese Worte an das Buch richten: »So gehe denn in die Welt hinaus; entziehe dich womöglich der Aufmerksamkeit der Kritik; besuche einen einsamen Leser zu guter Stunde; und solltest du auf eine Leserin stoßen, so möchte ich ihr sagen: Meine liebenswürdige Leserin, du wirst in diesem Buche einiges finden, was du vielleicht besser nicht wüßtest, anderes, was zu wissen dir wohl frommen dürfte. So lies denn jenes so, daß, nachdem du's gelesen, du sein könntest wie eine, die es nicht gelesen, das andre aber[13] so, daß, nachdem du's gelesen, du sein könntest wie eine, die das Gelesene nicht wieder vergessen hat.« Ich als Herausgeber will nur den Wunsch hinzufügen, daß der Leser das Buch in einer guten Stunde vornehmen möge, und daß es der liebenswürdigen Leserin gelinge, den wohlgemeinten Rat B.s streng zu befolgen.

(Kopenhagen) Im November 1842.


Der Herausgeber.[14]

Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885, S. 1-15.
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