Ultimatum

Vielleicht ist es Dir mit den Briefen, die ich Dir geschrieben habe, gerade so ergangen wie mir, daß Du das meiste wieder vergessen hast. Verhält es sich so, dann habe ich nur den einen Wunsch, daß auch Du jederzeit und unter dem Wechsel der Stimmungen mögest Rechenschaft ablegen können von dem Gedanken, der die Briefe durchzieht. Der Ausdruck, die Darstellung, die Form – das alles ist wie die Blume, die jedes Jahr wieder blüht, es ist dieselbe und doch nicht dieselbe, aber die Haltung, die Bewegung, die Stellung – das alles ist unverändert. Wenn ich Dir jetzt schreiben sollte, würde ich mich vielleicht anders ausdrücken. Vielleicht gelang es mir in meinen Briefen, hier und da sogar beredt zu sein – obgleich ich sonst den Anspruch gewiß nicht erhebe, und mein Lebensberuf das noch weniger von mir fordert; wenn ich jetzt Schreiben sollte, so würde es mir vielleicht in einem andern Teil meines Briefes gelingen, aber ich weiß es nicht, denn auch der Ausdruck ist eine Gabe und


»es hat jede Zeit wie auch jedes Jahr

seinen eigenen, seinen blühenden Lenz.«8


Was dagegen den Gedanken betriffst, der ist und bleibt derselbe, und von den Bewegungen hoffe ich zwar, daß sie mir im Lauf der Zeit leichter und natürlicher werden, aber unverändert auch dann, wenn sie stumm find, weil der Ausdruck verblüht ist.

Aber nicht um Dir einen neuen Brief zu Schreiben, ergreife ich die Feder, Sondern weil mich ein Brief, den ich selber von einem[629] ältern Freunde, der Pastor in Jütland ist, empfangen habe, lebhaft an Dich erinnerte. Soviel ich weiß, hast Du ihn nie gekannt. Meine Freundschaft mit ihm datiert schon aus der Zeit meiner Studentenjahre; gleich in unserm Alter ein Unterschied von fünf bis sechs Jahren ist war unser Verhältnis doch ziemlich intim. Er war eine kleine, vierschrötige Figur munter, lebensfroh und ungewöhnlich jovial. Obgleich seine Seele im tiefsten Grunde ernst war, schien sein äußres Leben recht gut der Weisung zu folgen, fünf gerade sein zu lassen. Die Wissenschaften fesselten ihn, aber trotzdem war er kein Examensmensch, und er brachte es nicht weiter als bis zu einem haud illaudabilis. Vor ungefähr vier Jahren erhielt er in der jütischen Heide ein kleines Pfarramt. Er hatte eine Stentorstimme, und was das innre Leben seines Geistes betraf, so zeichnete ihn eine gewisse Ursprünglichkeit in dem kleinen Kreise von Menschen aus, in welchem ich ihn kennen lernte. Was Wunder, daß er sich anfangs nicht recht zufrieden fühlte, daß er meinte, seine Thätigkeit sei zu unbedeutend für ihn. Jetzt hat er seine Zufriedenheit wiedergewonnen, und ein Brief, den ich in diesen Tagen von ihm erhielte ist mir eine wahre Freude gewesen und hat mich recht erfrischt. »Die jütische Heide«, so schreibt er, »ist doch recht ein Tummelplatz für mich, ein herrliches Studierzimmer. Da gehe ich Sonnabends umher und meditiere meine Predigten, und alles erweitert sich mir; ich vergesse jeden wirklichen Zuhörer und gewinne einen idealen, ich verliere mich selber ganz und gar, und wenn ich dann die Kanzel betrete, so ist's mir, als stünde ich noch auf der Heide, wo mein Auge keinen Menschen entdeckt, wo meine Stimme sich mit ihrer ganzen Kraft erhebt, um den Sturm zu übertäuben.«

Aber nicht um Dir dies zu erzählen, schreibe ich, sondern um Dir eine Predigt von ihm, die er dem Briefe angelegt hatte, zu schicken. Ich habe sie Dir nicht persönlich überreichen wollen, um nicht Deine Kritik herauszufordern, sondern ich schicke sie Dir, damit sie ganz im stillen einen Eindruck auf Dich machen könne. Er hat sie noch nicht gehalten, will's vielmehr erst nächstes Jahr aber ist fest davon überzeugt, daß jeder Bauer sie verstehn wird. Aus[630] dem Grunde mußt Du sie nun nicht verachten, denn das ist ja gerade das Schöne am Allgemeinen, daß alle es verstehen können. Er hat in dieser Predigt getroffen, was ich gesagt habe und was ich Dir gern gesagt hätte; er hat es glücklicher ausgedrückt, als es mir möglich gewesen wäre. Nimm sie denn und lies sie, ich habe nichts hinzuzufügen, als das, daß ich sie gelesen und an mich selber gedacht habe, daß ich sie wieder gelesen und an Dich gedacht habe.[631]

Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885, S. 627-633.
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