Die Gia Yü oder die Konfuzianischen Schulgespräche bilden eine Sammlung von 44 Kapiteln. Sie enthalten teils Geschichten aus dem Leben des Meisters Kung, teils Anekdoten, Gespräche, Urteile über Zeitgenossen und historische Persönlichkeiten, teils endlich Ausführungen größeren Umfangs über verschiedene Lebensfragen. Sie geben sich als Aufzeichnungen von Jüngern. Von den Lun Yü unterscheiden sie sich im allgemeinen stilistisch. Die Lun Yü enthalten das Material geschliffen zu einzelnen Aphorismen. Der Anlaß der einzelnen Aussprüche ist oft nur noch stichwortartig vorausgestellt, so daß – ähnlich wie bei Goethes Sprüchen in Prosa – der Zusammenhang des Erlebens, aus dem heraus der Gedanke sich kristallisiert hat, zwar nicht ganz getilgt ist, aber doch aufs äußerste komprimiert. Die Schulgespräche sind in diesem Stück umfangreicher, geben mehr Einzelheiten, mehr Ausmalung der Lage, der Stil ist breiter, ausgeführter.
Aber eben deshalb bietet dieses Werk mehr allgemein zugängliche Seiten als jene aufs äußerste vereinfachten Sentenzen der Lun Yü, deren verständliche Übersetzung unter Wahrung ihres Stils fast zu den Unmöglichkeiten gehört. In mancher Hinsicht sind die Schulgespräche eine überaus wertvolle Ergänzung der Lun Yü, da sie unvermitteltes Licht auf manch einen der dunklen Aussprüche jenes Werkes werfen, der im Schein dieses Lichtes nun erst recht frisches Leben gewinnt.
Gewiß hat sich in diesen Geschichten ein geistiges Element an der Gestaltung beteiligt, formend und den Sinn deutlicher herausarbeitend, als er im unmittelbaren Erlebnis zutage trat. Dieser Geist, der so die einzelnen Stücke gestaltet, ist der Geist der konfuzianischen Schule. Der Vorgang, der uns hier entgegentritt, ist nichts anderes als die Gestaltung[7] einer konfuzianischen Wirklichkeit höherer Ordnung aus den Vorgängen der geschichtlichen Wirklichkeit heraus. Etwas von dieser geistigen Assimilation der unmittelbaren Wirklichkeit finden wir ja in der Atmosphäre jedes wahrhaft großen Mannes, und es wäre ein verkehrtes Streben, es anders haben zu wollen; denn jeder Große kann nur dann ganz von uns aufgefaßt werden, wenn wir die geistigen Wirkungen, die von ihm ausgehen, mit zu seinem Bilde hinzunehmen. Man kann geradezu sagen, daß je weniger Mythos sich um einen Mann bildet, desto weniger er uns zu geben vermag. Nur gibt es für den Mythos sozusagen Tonarten. Nicht jeder Mythos ist gleichwertig. Im höchsten Sinne wahr ist nur der Mythos, der den tiefsten Regionen des menschlichen Wesens entspricht.
Daß der Mythos, der Kungs Bild umgibt, etwas ungemein Rationelles an sich hat, läßt oft eine Täuschung darüber aufkommen, als ob es sich hier nicht um einen Mythos handelte. Aber nur deswegen konnte dieses Menschenbild so lange Jahrhunderte hindurch so vielen Menschen so lieb und teuer sein. Und gerade daß dieser Mythos des Konfuziusbildes etwas so Naheliegendes ist, das nirgends über die Grenzen einer maßvollen Mitte hinausgeht, das ist der Grund, daß er eine harmonische Lebensgestaltung leichter gemacht hat als manches andere Ideal mit größerer Spannweite.
Die heutige Version der Schulgespräche geht auf Wang Su zurück. Er soll, so will es die Tradition, den Text ediert und mit Anmerkungen versehen haben. Die Persönlichkeit des Wang Su ist wohlbekannt. Er war ein Gelehrter und Staatsmann des dritten nachchristlichen Jahrhunderts am Hofe der We-Kaiser, die unmittelbar auf die Handynastie folgten. Throneingaben kulturpolitischen Inhalts von seiner Hand sind erhalten; erhalten ist auch, jedenfalls in Teilen, eine Diskussion über dogmatische Fragen, die er mit den Vertretern einer ihm zuwideren Schule des Konfuzianismus geführt hat. Es ist von ihm berichtet, daß er in den Riten[8] und den Klassikern außerordentlich beschlagen war – er soll eine Reihe von ihnen kommentiert haben –, daß seine Interpretation jedoch von der damals herrschenden Meinung, die auf Dscheng Hüan zurückging, stark abwich.
Der heutige Text der Schulgespräche enthält eine Einleitung und ein Nachwort. Die Einleitung wird Wang Su zugeschrieben und in ihr wird erzählt, daß er das Manuskript der Schulgespräche von einem Nachkommen des Konfuzius erhalten habe, und daß es ihm in seinem Kampf gegen die Dscheng Hüan Schule ein wirksames Hilfsmittel gewesen sei. Das Nachwort soll ursprünglich ein Teil des von Wang Su empfangenen Manuskripts gewesen sein und erzählt einiges über die Vorgeschichte der Texttradition. Es macht nicht den Eindruck, als sei es von einer Hand geschrieben, jedenfalls nicht von der, auf die die Einleitung zurückgeht.
Von der chinesischen Textkritik sind die Angaben der Einleitung und des Nachworts starken Zweifeln unterworfen worden. Viele sind so weit gegangen, zu behaupten, daß die Schulgespräche eine Fälschung des Wang Su seien, deren er in seinem Kampf gegen die Dscheng Hüan Schule bedürftig gewesen sei. Ich glaube, es kann heute als nachgewiesen gelten, daß dem nicht so ist. Wir werden aber wohl gut daran tun, die Angaben der Einleitung und des Nachworts, wenn überhaupt, so nur mit der größten Vorsicht zu benutzen.
Der Vorwurf der Fälschung stützt sich insbesondere auf das Argument, daß fast zu allen Abschnitten der Schulgespräche Parallelstellen in anderen frühen Schriften existieren, namentlich daß alle Hinweise auf Konfuzius in verschiedenen dieser Schriften auch in den Schulgesprächen wieder auftauchen.1 So wird argumentiert, daß Wang Su die gesamte Konfuziustradition seiner Zeit außerhalb der Lun Yü zusammengestellt und in einer Weise umgeschrieben habe, die seinen polemischen Zwecken nützlich war. Eine genauere[9] Untersuchung der Parallelstellen gibt jedoch dieser Argumentation keine Stütze. In fast allen Fällen weicht tatsächlich die Version der Schulgespräche von der der Parallelstellen zum Teil sogar recht erheblich ab. In keinem Fall können jedoch diese Abweichungen damit erklärt werden, daß sie die polemische Position des Wang Su unterstützt hätten. In keinem Fall läßt sich ferner einwandfrei nachweisen, daß Wang Su von diesen Parallelstellen, oder daß diese Parallelstellen von den Schulgesprächen abgeschrieben haben. Es hat vielmehr im allgemeinen den Anschein, daß es sich hier um voneinander unabhängige Traditionen desselben Materials handelt.
Selbst wenn wir die ganze Tradition der Schulgespräche als zweifelhaft beiseite lassen, ergeben sich aus inneren Gründen die folgenden Punkte mit größter Wahrscheinlichkeit:
1. Dem Wang Su lag eine unabhängige Materialsammlung vor, die er ediert und kommentiert hat.
2. Diese Materialsammlung war das Traditionsgut einer der beiden Schulen innerhalb des Konfuzianismus der Hanzeit, von der Wang Su in seiner Zeit der tatkräftigste Verfechter war. Diese beiden Schulen werden in der Regel als die Schule der älteren Texte und die Schule der neueren Texte bezeichnet. Sie wichen nicht nur in der Auswahl der von ihnen als maßgeblich angesehenen Klassiker voneinander ab, sondern auch in wichtigen kulturpolitischen und politischen Fragen und insbesondere in dem von ihnen geprägten Konfuziusbild. Daß es sich bei den Schulgesprächen um eine Materialsammlung der Schule der älteren Texte handelt, ergibt sich aus der Tatsache, daß sich Parallelen zu diesem Material insbesondere in von dieser Schule als maßgeblich angesehenen Texten – z.B. dem Dso Dschuan, den Schang Schu Da Dschuan und Maus Kommentar zum Schï Ging – oder in Kompilationen von anerkannten Vertretern dieser Schule – z.B. dem Buch der Sitte des älteren Dai oder dem Schuo Yüan des Liu Hiang – wiederfinden. Demgegenüber sind die Traditionen der Schule der neueren Texte in den Schulgesprächen fast überhaupt nicht vertreten. Einzelne[10] Gedankengänge des großen Begründers dieser Schule, Dung Dschung Schu, klingen zwar gelegentlich an, die für Dung Dschung Schu bezeichnenden Teile seiner Lehre sind jedoch in den Schulgesprächen nicht enthalten oder sogar direkt bekämpft. Auch die Konfuziustradition der sogenannten zehn Flügel des Buchs der Wandlungen kommt in den Schulgesprächen nicht vor, obwohl Wang Sus Biographie bemerkt, daß er seines Vaters Kommentar zum Buch der Wandlungen fertiggestellt habe.
3. Das in dieser Sammlung enthaltene Material kann nicht zu einer Zeit entstanden, sondern muß während verschiedener Perioden zusammengetragen worden sein. Die Entstehung des Konfuziusmythos setzte ja schon unmittelbar nach dem Tode des Meisters ein. Teile der Schulgespräche stehen in Geist und Ausdrucksweise den Lun Yü sehr nahe. Andere Teile müssen zu Ende der Dschoudynastie entstanden sein in einem geistigen Klima, in dem das Buch Mongdsï entstand, mehr noch als das aber in einer Umgebung, aus der das Lü Schï Tschun Tsiu und das Buch Sündsï hervorgewachsen sind. Namentlich dem letzteren verdanken die Schulgespräche viel. Sün King ist ja dann der Dschoumeister des Konfuzianismus geworden, den die Schule der älteren Texte am höchsten verehrte. Weitere Teile der Schulgespräche können nicht vor der Hanzeit entstanden sein. Es finden sich darin Ideen, die herkömmlicherweise dem Lu Gia und dem Gia I zugeschrieben werden. Und viele der Episoden sind in einen institutionellen und ideologischen Rahmen gesetzt, der zur Dschouzeit noch nicht bestand, sondern erst mit der Monopolisierung des Beamtenstandes durch die Konfuzianer unter dem Kaiser Wu der Han seine Gültigkeit erlangte. Auch Beimischungen des Gedankenguts nichtkonfuzianischer Schulen, der Taoisten, der Schule der Politiker, der Schule der Rechtslehrer etwa, waren dem Konfuzianismus der ausgehenden Dschouzeit noch nicht in dem Maße eigen.
In der zweiten Hälfte des zweiten oder der ersten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts scheint jedoch diese Materialsammlung im wesentlichen abgeschlossen gewesen[11] zu sein. Anders läßt es sich nicht erklären, daß das Gedankengut des Yang Hiung, aus dessen Schule Wang Su hervorgegangen ist, sich in den Schulgesprächen nicht vertreten findet. Es ist natürlich wahrscheinlich, daß spätere Verwalter dieses Materials in Einzelheiten an den vorhandenen Episoden und Abhandlungen weitergearbeitet haben. Und Wang Su mag einer von diesen gewesen sein.[12]
1 | Ein vollständiges Verzeichnis dieser Parallelstellen befindet sich in dem Buch von R.P. Kramers, K'ung Tzu Chia Yü, The School Sayings of Confucius. Leiden 1950, S. 361–379 |
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