16. Der Jüngling aus Lu

[57] Es war einmal ein Mann in Lu, der lebte allein in einem Hause. Seines Nachbars Witwe lebte auch allein in ihrem Haus. Einst erhob sich nachts ein Gewittersturm, der das Haus der Witwe zerstörte. Sie eilte zu ihrem Nachbarn und[57] suchte Unterkunft. Der Mann aus Lu aber schloß seine Türe zu und ließ sie nicht herein. Die Witwe redete ihn durchs Fenster an und sprach: »Warum seid Ihr so unmenschlich und laßt mich nicht hinein?«

Der Mann aus Lu sprach: »Man sagt, ein Mann und eine Frau, wenn sie noch unter 60 Jahre alt sind, dürfen nicht zusammen sein. Nun seid Ihr jung, und ich bin auch jung, darum wage ich nicht, Euch hereinzulassen.«

Die Frau sprach: »Warum macht Ihr es nicht wie Liu Hia Hui7, der ein junges, unverheiratetes Mädchen im Arme halten konnte, ohne daß ihn die Leute im ganzen Lande für unrein hielten?«

Der Mann aus Lu sprach: »Liu Hia Hui konnte so etwas tun, ich vermag es freilich nicht. Aber ich will damit, daß ich mir so etwas nicht erlaube, eben von Liu Hia Hui lernen, der sich so etwas erlauben konnte.«

Meister Kung hörte davon und sprach: »Vortrefflich! Von den Nachahmern Liu Hia Huis ist ihm keiner so nahe gekommen wie dieser. Das ist die wahre Weisheit, die, während sie nach der höchsten Stufe strebt, dennoch nicht das nachahmt, was andere sich erlauben können.«

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Über Liu Hia Hui siehe Mongdsï 2 A 9 und 5 B 1, Wilhelm S. 36 und 113.

Quelle:
KKungfutse: Gia Yü, Schulgespräche. Düsseldorf/Köln 1961, S. 57-58.
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