3. Das Standbild mit dem verschlossenen Munde

[63] Als Meister Kung die Hauptstadt von Dschou besah, da ging er auch in den Tempel des Ahnherrn Hou Dsi. Vor den rechten Stufen der Tempelhalle stand ein goldner Mann, der hatte mit drei Nadeln den Mund verschlossen. Auf seiner Rückseite stand folgende Inschrift:


»Die Alten hatten acht auf ihre Worte,

Merkt's euch, ihr Menschen,

Macht nicht viele Worte,

Viele Worte bringen viel Verlust.

Kümmert euch nicht um viele Dinge,[63]

Viele Dinge bringen viel Leid.

Im Glück und Frieden vergeßt der Vorsicht nicht.

Tut nichts, das ihr bereuen müßt.

Sagt nicht, was tut's?

Langes Unglück folgt darauf.

Sagt nicht, was schadet's?

Großes Unglück folgt darauf.

Sagt nicht, niemand hört es!

Ein Gott hat acht auf die Menschen.

Wenn der Funke nicht gelöscht wird,

Welche Flammen lodern dann empor!

Wenn der Tropfen nicht verstopft wird,

So werden schließlich Fluß und Strom daraus.

Wenn das Fädchen nicht zerrissen wird,

Wird wohl ein starkes Netz daraus.

Wenn das Hälmchen nicht gejätet wird,

Braucht man schließlich Axt und Beil dafür.

Stets Vorsicht üben können

Ist die Wurzel jeden Glückes.

Ein Mund, der spricht: was tut's,

Ist das Tor des Unheils.

Wer stark und trotzig ist,

Stirbt nicht eines rechten Todes.

Wer andern über sein will,

Findet sicher schließlich einen ebenbürtigen Feind.

Der Dieb haßt den Herrn des Hauses.

Die Leute grollen ihren Herrschern.

Der Edle weiß, daß man die Welt nicht überkommen kann,

Darum stellt er sich unter sie.

Er weiß, daß man der Masse nicht voran darf,

Darum stellt er sich hinter sie.

Milde, Ehrfurcht, Vorsicht, Tugend

Machen, daß ihn die Menschen ehren.

Wer sich weiblich hält und unten bleibt,

Über den drängt sich keiner hinweg.[64]

Alle Menschen drängen nach jenem,

Ich allein halte mich an dieses.

Die Menschen haben alle ihre Zweifel,

Ich allein rühre mich nicht.

Im Innern berge ich meine Weisheit,

Nicht zeige ich den Leuten meine Künste.

Dann mag ich selbst geehrt und hoch sein,

Und dennoch tut mir niemand was zuleide.

Wer also zu handeln vermag,

Der gleicht dem Strom und dem Meere,

Das, trotzdem es links11 liegt,

Dennoch aller Gewässer Herr ist,

Weil es am tiefsten ist.

Des Himmels Weg zieht niemanden vor,

Und doch kann er sich unter die Menschen begeben.

Nehmt euch in acht!«


Als Meister Kung diese Inschrift gelesen hatte, da wandte er sich an seine Jünger und sprach: »Kinder, merkt es euch, diese Worte sind wahr und treffend, sie sind wirklich und zuverlässig. Im Buch der Lieder heißt es:


Wandle mit Furcht und Zittern,

Als stündest du am Rand des Abgrunds,

Als gingst du über dünnes Eis12.


Wer danach seinen Wandel richtet, der zieht sich nicht durch seinen Mund Leid zu.«

11

d.h. im Osten. Damals war links der weniger geehrte Platz.

12

Schï Ging 195, Strauß S. 320.

Quelle:
KKungfutse: Gia Yü, Schulgespräche. Düsseldorf/Köln 1961, S. 63-65.
Lizenz:

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