6. Verschiedene Gesinnung bei gleicher Handlung

[103] Dsï Gung sprach: »Der Herzog Ling von Tschen treibt offene Unzucht an seinem Hofe. I Ye hat ihm ins Gesicht widersprochen, und der Fürst hat ihn getötet. Ist das nicht in derselben Weise wie die Handlung des Bi Gan, der wegen seiner Mahnungen getötet wurde, ein Zeichen höchster Menschlichkeit?«

Der Meister sprach: »Bi Gan stand dem Tyrannen Dschou-Sin der Verwandtschaft nach als Oheim, dem Amt nach als Lehrer gegenüber. Als er ihm seine wohlgemeinten Ratschläge gab, da war es ihm lediglich um die Erhaltung der Dynastie zu tun. Darum hat er ihm bis aufs Blut widerstanden[103] in der Hoffnung, daß, wenn er sein Leben geopfert habe, Dschou-Sin darnach zur Besinnung kommen werde. Seine ursprüngliche Absicht und Gesinnung waren menschlich.

I Ye stand zu dem Herzog Ling nur in der Beziehung eines Hofbeamten, er war durch keine Bande des Bluts mit ihm verknüpft. Aus Rücksicht auf fürstliche Gnade war er nicht weggegangen, sondern hatte am Hof des verbrecherischen Fürsten weiter gedient, um dann schließlich sein armes Einzelleben zu opfern mit dem Wunsch, dadurch die Ordnung im ganzen Staat wiederherzustellen, der in Unzucht und Laster versunken war. Sein Tod war nutzlos. Man kann von ihm höchstens sagen, daß er sein Leben weggeworfen hat. Auf I Ye trifft die Stelle des Liedes zu:


So viele Laster hat das Volk,

Daß man nicht weiß, wie festestehn3

3

Schï Ging 254, 6, Strauß S. 430

Quelle:
KKungfutse: Gia Yü, Schulgespräche. Düsseldorf/Köln 1961, S. 103-104.
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