3. Kapitel
Das Wichtignehmen des eignen Ich / Dschung Gi

[6] Tschui17 war sehr geschickt, und doch sind den Leuten ihre eigenen Finger lieber als die des Tschui; der Grund ist, weil ihr Besitz ihnen nützt. Den Leuten sind die Nephritsteine des Berges Kun und die Perlen der Flüsse Giang und Han18 nicht so lieb wie ihr eigenes fleckiges Nephritsteinchen19 oder ihr kleines Barockperlchen20; der Grund ist, weil ihr Besitz ihnen nützt. Nun gehört mein Leben auch mir, und der Nutzen, den es für mich hat, ist ganz besonders groß. Es ist so wichtig für mich, daß selbst ein Kaiserthron dagegen nicht in Betracht kommt. Es ist so wertvoll für mich, daß ich es selbst für den Besitz der ganzen Welt nicht eintauschen kann. Seine Sicherheit ist unersetzlich, denn wenn ich es einmal verloren habe, so kann ich es mein ganzes Leben lang nicht wiederfinden. Diese drei Dinge sind es, auf die die Weisen, die die Wahrheit erkannt haben, besonders achten. Wer aber darauf achtet und es dennoch schädigt, der versteht sich nicht auf die Grundverhältnisse des Lebens. Wer sich aber auf die Lebensverhältnisse nicht versteht, was nützt dem alle Vorsicht? Der macht es wie jener blinde Musiker, der seinen Sohn zwar lieb hatte, aber ihn dennoch auf Spreu schlafen ließ21, oder wie jener[6] Taube, der ein Kind erzog, aber mitten unter dem Donner in der Halle mit ihm scherzte22. Beide haben ihre Gebrechen und wissen daher nicht, was Vorsicht heißt. Wer nicht weiß, was Vorsicht heißt, für den existiert noch nicht einmal der Unterschied zwischen Leben und Tod, Dauer und Untergang, Möglichkeit und Unmöglichkeit. Für wen dieser Unterschied noch nicht besteht, der hält für richtig, was keineswegs richtig ist, und für unrichtig, was keineswegs unrichtig ist. Wenn aber das, was er für falsch hält, richtig ist, und das, was er für richtig hält, falsch ist, so ist er ein großer Narr. Auf solche Menschen kommt die Strafe des Himmels. Wer nach diesen Grundsätzen sein eigenes Leben führt, der stirbt sicher in der Hälfte seiner Tage. Wer nach diesen Grundsätzen einen Staat leitet, der führt ihn sicher dem Verfall und Untergang entgegen. Vorzeitiger Tod, Verfall und Untergang kommen nicht von selber, sondern sie werden durch Narrheit herbeigezogen. Andererseits verhält es sich auch mit langem Leben und dauernder Blüte ebenso. Darum bekümmert sich der Weise nicht um die herbeigezogenen Schicksale, sondern um das, was diese Schicksale herbeizieht. Dann fällt ihm alles zu, ohne daß es jemand hindern kann. Diese Überlegung muß man sich ganz klarmachen.

Wenn ein Athlet wie Wu Hu mit aller Kraft einen Ochsen am Schwanz ziehen wollte, so würde eher der Schwanz abreißen oder seine Kraft zu Ende gehen, als daß der Ochse ihm folgt, weil er ihn rückwärts zerrt. Wenn aber ein kleiner Knabe ihn am Nasenring führt, so folgt der Ochse ihm, wohin er will, weil's vorwärts geht.

Die Fürsten und Herren dieser Welt, ob würdig oder unwürdig, sie alle wünschen lange zu leben und viele Tage zu sehen. Aber wenn sie täglich ihr Leben rückwärts zerren, was nützt ihnen dann ihr Wünschen? Was das Leben lang macht, ist, daß man es vorwärts gehen läßt. Was aber das Leben nicht vorwärts gehen läßt, sind die Lüste. Darum beschränkt der Weise vor allem die Lüste. Ist eine Halle groß, so ist sie zu schattig; ist eine Terrasse hoch, so ist sie zu sonnig. Hat man zu viel Schatten, so bekommt man Rheumatismus; hat man zu viel Sonne, so wird man gelähmt. Das sind die Übel, die daher kommen, wenn Schatten und Sonne[7] nicht das rechte Maß haben. Darum wohnten die Könige des Altertums nicht in großen Schlössern. Sie bauten sich keine hohen Terrassen, sie kosteten nicht allerlei Leckerbissen, sie kleideten sich nicht dick und warm. Denn wenn man zu dick und warm gekleidet ist, so verstopfen sich die Poren. Sind die Poren verstopft, so stockt die Kraft. Kostet man allerlei Leckerbissen, so wird der Magen überladen. Wird der Magen überladen, so gibt es Verdauungsstörungen. Gibt es aber Verdauungsstörungen und stockt die Kraft, wie will man es da zu langem Leben bringen? Die heiligen Könige des Altertums hatten Parkanlagen, Tiergärten, Baumgärten und Teiche, gerade groß genug, um sich des Anblicks zu erfreuen und sich körperliche Bewegung zu machen. Sie bauten sich Schlösser und Paläste, Terrassen und Pavillons, gerade groß genug, um vor Hitze und Feuchtigkeit Schutz zu finden. Sie hatten Wagen und Pferde, Kleider und Pelze, gerade genug, um es sich bequem zu machen und den Leib zu wärmen. Sie hatten Essen und Trinken, kühlen Wein und Met, gerade so viel, um den Geschmack zu befriedigen und den Hunger zu stillen. Sie hatten Musik und Schönheit, Töne und Lieder, gerade genug, um ihrer Seele harmonischen Genuß zu verschaffen. Die heiligen Könige waren in diesen fünf Dingen darauf bedacht, ihr Leben zu pflegen. Nicht daß sie gerne sparen wollten und die Ausgaben scheuten, sondern sie wollten ihr Leben in Ordnung bringen.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 6-8.
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