3. Kapitel
Erkenntnis der Staatsmänner / Dschï Schï

[109] Wenn man ein Pferd hat, das täglich tausend Meilen laufen kann, aber man bekommt nicht den richtigen Lenker dafür, so ist es gerade, als hätte man es nicht bekommen. Erst wenn der richtige Lenker und das Pferd einander finden, dann wird der Erfolg erreicht. Sie gehören zusammen wie Schlegel und Trommel. Unter den Staatsmännern gibt es auch Tausendmeilen-Leute. Hohe Ideale und Treue bis zum Tod, das sind die Eigenschaften der Tausendmeilen-Staatsmänner. Aber zu bewirken, daß die Staatsmänner die tausend Meilen erreichen, das vermag nur ein würdiger Herrscher.

Dsing Go Gün war gut befreundet mit Dsi Mau Biän14. Dsi Mau Biän hatte in seinem Lebenswandel viel Anstößiges, über das die Anhänger des Dsing Go Gün mißvergnügt waren. Einer unter ihnen namens Schï We machte darob dem Dsing Go Gün Vorstellungen. Dsing Go Gün aber hörte nicht auf ihn. Da nahm Schï We seine Entlassung und ging davon. Da wagte es sein eigener Sohn Mong[109] Tschang Gün, dem Dsing Go Gün Vorstellungen zu machen. Dsing Go Gün aber wurde sehr zornig und sprach: »Daß euch doch alle miteinander der Teufel hole! Wenn ich in meinem ganzen Besitz etwas fände, das den Dsi Mau Biän befriedigen könnte, ich würde alles für ihn tun.« Darauf beherbergte er ihn in seinem schönsten Schloß, ließ ihm durch seinen ältesten Sohn aufwarten und morgens und abends die Speisen darbringen.

Einige Jahre darauf starb der König We von Tsi, und der König Süan kam auf den Thron. Dsing Go Gün fand durchaus keine Gnade vor den Augen des Königs Süan, so daß er sich vom Hof zurückzog auf seine Festung Süo, wo er mit Dsi Mau Biän zusammen lebte. Nicht lange hatte er dort verweilt, als Dsi Mau Biän sich verabschiedete und bat vor den König Süan treten zu dürfen. Dsing Go Gün sprach: »Der König ist äußerst mißvergnügt über mich. Wenn Ihr nun hingeht, so ist es sicher Euer Tod.« Dsi Mau Biän sprach: »Es ist mir wahrlich nicht ums Leben zu tun. Ich bitte unter allen Umständen hingehen zu dürfen.« Dsing Go Gü vermochte ihn nicht zurückzuhalten.

Als nun Dsi Mau Biän nach Tsi kam und der König Süan es hörte, da füllte sich sein Herz mit Zorn bei seinem Empfang. Dsi Mau Biän trat vor ihn. Der König Süan sprach: »Ihr seid es, auf den Dsing Go Gün hört und den er gerne mag.« Dsi Mau Biän erwiderte: »Gerne hat er mich wohl, aber hören tut er nicht auf mich. Als Ihr, o König, noch Thronfolger wäret, da sagte ich zu Dsing Go Gün: Der Kronprinz ist kein guter Mensch, er hat es dick hinter den Ohren und hat Schweinsaugen15. Solche Menschen sind widerspenstigen Charakters. Es wäre besser, Ihr setztet den Kronprinzen ab und setztet Hiau Schï, das Kind der Fürstin We, als Thronfolger ein. Aber Dsing Go Gün vergoß Tränen und sprach: ›Es geht nicht, ich bringe es nicht über mich.‹ Wenn Dsing Go Gün damals wirklich auf meine Worte gehört und danach getan hätte, so hätte er sich den ganzen gegenwärtigen Jammer erspart. Dies war der eine Fall. Als er dann nach Süo kam, da machte ihm Dschang Yang, der Kanzler von Tschu, den Vorschlag, die Grenzfestung gegen ein mehrfach größeres Landgebiet einzutauschen.[110] Ich riet ihm wieder, unter allen Umständen darauf einzugehen. Aber Dsing Go Gün sprach: ›Die Festung Sü ist mir vom verewigten König anvertraut worden. Wenn ich auch bei seinem Nachfolger in Ungnade gefallen bin, wie wollte ich mich vor dem verewigten König rechtfertigen! Außerdem ist in Süo der Tempel des verewigten Königs. Wie könnte ich den Tempel des verewigten Königs dem Staate Tschu abtreten.‹ So hörte er wieder nicht auf mich. Dieses war der zweite Fall.« Der König Süan seufzte tief, und Rührung sprach aus seinen Mienen, als er sagte: »So treu hat also Dsing Go Gün an mir gehandelt, und ich habe in jugendlicher Verblendung gar nichts davon gewußt. Wollt Ihr nicht für mich den Dsing Go Gün einmal an meinen Hof bitten?« Dsi Mau Biän erwiderte: »Ich bin ehrfurchtsvoll dazu bereit.«

Als Dsing Go Gün nun kam, da trug er die Gewänder, die der König We ihm einst verliehen. Er hatte seinen Helm auf und sein Schwert umgegürtet. Der König Süan empfing den Dsing Go Gün persönlich auf dem Anger vor der Stadt, und als er ihn von ferne sah, vergoß er Tränen. Als Dsing Go Gün sich nahte, bat er ihn, das Amt des Kanzlers zu übernehmen. Dsing Go Gün suchte abzulehnen, und nur, weil jener nicht nachließ, nahm er an. Nach zehn Tagen versuchte er unter dem Vorwand von Krankheit noch einmal mit aller Gewalt zurückzutreten, und erst nach dreitägigen Bitten hörte er auf des Königs Wunsch.

Zu dieser Zeit zeigte es sich, daß Dsing Go Gün die Fähigkeit hatte, sich ein unabhängiges Urteil über Menschen zu bilden. Weil er sich ein selbständiges Urteil über Menschen zu bilden vermochte, darum ließ er sich durch keine Verleumdungen irre machen. Das war der Grund, weshalb Dsi Mau Biän bereit war, alle Freuden des Lebens preis zu geben und Jammer und Not auf sich zu nehmen.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 109-111.
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