4. Kapitel
Die Grundlagen der Musik / Dschï Yüo

[73] Will man höchste Musik sehen, so ist es sicher in Ländern, wo höchste Ordnung herrscht. Wo edle Sitten walten, da waltet edle Musik, wo dürftige Sitten walten, da waltet auch dürftige Musik. In unordentlichen Zeitaltern ist die Freude zügellos. Heute schließt man Fenster und Türen und lärmt im Hause, daß es Himmel und Erde erschüttert.

Zur Zeit des Vollenders Tang wuchs eine Ähre vor dem Schloß. Abends kam sie hervor und am nächsten Morgen war sie so dick, daß man sie mit beiden Händen eben umfassen konnte39. Der Großastrolog bat, das Orakel nach der Ursache befragen zu dürfen. Tang wies die Orakelpriester zurück und sprach: »Ich habe gehört, daß günstige Zeichen Vorboten des Glückes sind. Sieht man günstige Zeichen, aber handelt nicht gut, so trifft dennoch das Glück nicht ein. Ungünstige Zeichen sind Vorboten des Unglücks. Sieht man ungünstige Zeichen aber handelt gut, so trifft das Unglück nicht ein.« Darauf eröffnete der König frühe seine Hofhaltung und zog sich erst in später Nacht zurück. Er fragte nach den Kranken und trauerte mit den Trauernden. Er übte sich im Wohltun und half dem Volk. Nach drei Tagen war die Ähre verschwunden. Darum: das Unglück ist's, worauf das Glück sich stützt, das Glück ist es, worauf das Unglück lauert40. Das aber sieht der Weise allein. Wie sollte die große Masse die Keime verstehen! Der König Wen von Dschou hatte acht Jahre über sein Land regiert. Da lag einstmals im sechsten Monat der König Wen krank darnieder fünf Tage lang, als die Erde ringsum erbebte. Doch erstreckte sich das Erdbeben nicht über die königliche Hauptstadt hinaus. Die Diener nahten sich ihm alle bittend und sprachen: »Wir haben gehört, daß Erdbeben sich um des Herrschers willen ereignen. Nun ist der König seit fünf Tagen krank, und die Erde bebte; doch nirgends erstreckte sich das Erdbeben über die Hauptstadt von Dschou hinaus. Darum sind alle Beamten besorgt und sprachen, man möge das Unglück abwälzen.« Der König Wen sprach: »Wie kann es denn abgewälzt werden?« Sie erwiderten: »Wenn wir[74] die Sache ins Werk setzen und die Massen aufbieten, um die Mauern der Hauptstadt zu erhöhen, so läßt es sich vielleicht abwälzen.« Der König Wen sprach: »Es geht nicht an. Wenn der Himmel unheilvolle Zeichen schickt, so geschieht es, um die Schuldigen zu bestrafen. Ich habe sicher irgendwelche Schuld auf mir, daß der Himmel mich auf diese Weise straft. Wenn ich nun die Sache ins Werk setzen wollte und die Massen aufbieten, um die Mauern der Hauptstadt zu erhöhen, so würde ich meine Sünden verdoppeln. Es geht nicht an! (Der König Wen sprach:) Ich will meinen Wandel bessern und noch mehr Gutes tun, anstatt das Unglück zu vermeiden.« Darauf beobachtete er aufs sorgfältigste alle Formen. Er ordnete die Abzeichen in Leder und Fellen im Verkehr mit den Lehensfürsten. Er überlegte sich aufs genaueste seine Befehle und Verordnungen. Durch Geschenke von Nephrit und Seide ehrte er die Helden, er ordnete ihren Rang und teilte die zu verleihenden Gebiete ein, um damit die Schar seiner Beamten zu belohnen. Nicht lange darauf, da genaß er von seiner Krankheit. Acht Jahre hatte der König Wen auf dem Thron gesessen, als die Erde bebte. Nach dem Erdbeben regierte er noch 43 Jahre. 51 Jahre hatte der König Wen das Reich verwaltet, als er starb. Auf diese Weise ist der König Wen dem Übel entgegengetreten und hat die bösen Vorzeichen zunichte gemacht.

Zur Zeit des Herzogs Ging von Sung erschien der Feuerstern41 im Sternbild des Herzens. Der Herzog geriet in Furcht; er berief den Dsï We, befragte ihn und sprach: »Der Feuerstern ist im Herzen, was hat das zu bedeuten?« Dsï We sprach: »Der Feuerstern bedeutet Strafe des Himmels. Das Herz ist das Gebiet von Sung; Unheil droht dem Fürsten. Allein es kann abgewandt werden auf den Kanzler.« Der Herzog sprach: »Mit dem Kanzler zusammen regiere ich mein Land; wollte ich durch diese Abwendung ihn zu Tode bringen, so wäre das unheilvoll.« Dsï We sprach: »Dann läßt es sich auf das Volk abwälzen.« Der König sprach: »Wenn das Volk stirbt, wen soll ich dann beherrschen? Lieber will ich allein sterben.« Dsï We sprach: »Dann mag man es auf die Jahresernte abwälzen.« Der Herzog sprach: »Wird die Ernte beschädigt,[75] so kommt das Volk in Hungersnot: leidet das Volk Hunger, so stirbt es. Wenn ich als Fürst mein Volk töten wollte, um mich selbst am Leben zu erhalten, wie verdiente ich da noch den Namen eines Fürsten? Das ist nun einmal mein Schicksal, ich will es tragen. Ihr braucht nicht weiter zu reden.« Da zog sich Dsï We zurück, mit dem Gesicht dem Fürsten zugewandt. Er verneigte sich und sprach: »Ich habe von Eurer Hoheit hienieden drei Worte höchster Güte gehört, da wird der Himmel Eure Hoheit sicher dreifach belohnen. Heute Abend noch wird der Feuerstern um drei Himmelshäuser42 weiterrücken und Eurer Hoheit Leben um 21 Jahre verlängern.« Der Herzog sprach: »Woher wißt Ihr das?« Er erwiderte: »Wer dreimal hintereinander Gutes redet, wird sicher dreimal hintereinander belohnt, und der Feuerstern rückt um drei Häuser weiter43. In jedem Haus sind sieben Sternbilder, und wenn er weiter rückt, so bedeutet es sieben Jahre. Dreimal sieben sind einundzwanzig. Darum sage ich, Eurer Hoheit Leben werde um 21 Jahre verlängert. Ich bitte an den Stufen des Throns verharren zu dürfen, um das Ereignis zu erwarten. Rückt der Feuerstern nicht weiter, so bitte ich sterben zu dürfen.« Der Herzog sprach: »Es sei!« Und richtig rückte an jenem Abend der Feuerstern drei Häuser weiter.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 73-76.
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